Christopher Wheeldon mit Maria Shirinkina beim Premierenapplaus zu Alice im Wunderland, 2017
Christopher Wheeldon mit Maria Shirinkina beim Premierenapplaus zu Alice im Wunderland, 2017
Märchen haben kein Verfallsdatum, findet Christopher Wheeldon. Er hat schon unzählige getanzt und choreographiert. Von zeitgemäßem Ballett wünscht er sich weniger Akrobatik, dafür mehr Ausdruck und Emotionalität. Er hat einen Nussknacker in Chicagos South Side platziert und Alice im Wunderland samt Fans im Farbentaumel hinterlassen. Für seine furiosen Ideen erntet der Engländer Britische Verdienstorden und Preise wie den Tony Award oder den renommierten Prix Benois de la Danse. Durch München wirbelt er mit Cinderella von Sergej Prokofjew.
Interview von Annette Baumann
Lesedauer: 5 Min.
In Cinderella geht es viel um das Thema Verwandlung. In wen oder was würden Sie sich gerne einmal verwandeln?
Auch wenn es vermutlich eine triviale Antwort ist: Was Bequemlichkeit und Komfort angeht, wäre ich gerne mein Hund. Mein Hund ist so ziemlich der liebste und verwöhnteste Vierbeiner auf diesem Planeten. Ich weiß, das ist keine sehr
tiefgründige Antwort, aber sehr ehrlich. (Er lacht)
Cinderella ist in Deutschland vor allem als Märchen der Brüder Grimm bekannt. Warum interessieren wir uns heute noch für Märchen?
Die Moral, die in ihnen steckt, ist zeitlos. In Aschenputtel zum Beispiel geht es um Unterdrückung, fast schon um eine Art moderner Sklaverei. Hier wird eine gute Seele unterdrückt. Leben wir heute nicht auch in einer Zeit, in der wir jeden Tag mit dem Kampf zwischen Gut und Böse konfrontiert werden? Diese Frage wird auch in Märchen gestellt.
Was ist deine persönliche Lieblingsstelle in Cinderella?
Meine Lieblingsstelle ist der Moment der Verwandlung. Der Augenblick, in dem es Aschenputtel nach so viel Unterdrückung, Repressalien und harter Arbeit wieder möglich ist, Mensch zu sein. Choreographisch ist es die Szene gegen Ende des ersten Aktes, in der sich die Jahreszeiten wandeln. Das liegt vor allem an der Musik, die Stelle ist magisch.
Was macht einen guten Choreographen aus?
Oh Gott, eine ganze Menge Dinge, denke ich. Natürlich ein grundlegendes Verständnis, wie man Tanz strukturieren und in einer überraschenden Art und Weise zusammensetzen kann. Aber das allein macht noch keinen Choreographen aus, das sind Techniken, die man lernen kann.
Und das sind eine Menge Leute. Es gibt immer wieder Menschen, die kommen und sagen, „oh Gott, das werde ich nicht verstehen, da kenne ich mich nicht aus“. Also musst du so choreographieren, dass sie gar keine andere Wahl haben, als etwas zu empfinden bei dem, was sie sehen. Ich denke, dass ist tatsächlich das, was einen Choreographen zu einem wirklichen Choreographen macht: Die Technik als Mittel zum Zweck zu sehen, um eine Verbindung zum Publikum herzustellen. Musik und Musikalität spielen natürlich auch eine Rolle.
Ihre Lieblingsbewegung im klassischen Tanz?
Die Port de bras, also die Armbewegungen. Die Arme sind ein Verbindungsglied, mit ihnen kann man einen sehr klassischen Schritt und eine moderne Idee miteinander kombinieren und verschmelzen lassen.
Wir sehen derzeit immer höhere Sprünge, noch mehr Pirouetten, waghalsigere Pas de deux. Wie wird das Ballett Ihrer Meinung nach in 50 Jahren aussehen?
Ich hoffe, dass wir zu einer Kunstform zurückfinden, die sich wieder mehr auf das Künstlerische und weniger auf die Akrobatik konzentriert. Heute kursieren so viele Instagram-Clips, in denen junge Tänzerinnen hintereinander weg ein Dutzend Pirouetten drehen. Das ist gut, die können was. Aber, und das ist das Entscheidende, damit sollte eine emotionale Aussage gemacht werden. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass die Technik sich noch groß weiterentwickeln kann, die Beine sind ja schon ganz oben. Wir müssen die Technik einsetzen, um wieder eine emotionale Verbindung zum Publikum herzustellen.
Goldmedaille beim Prix de Lausanne, der Prix Benois de la Danse für die beste Choreographie, mehrere Tony Awards, die Liste an Auszeichnungen ist lang – was bedeuten Ihnen Preise?
Ich wünschte, ich könnte Sie in meine Gästetoilette mitnehmen. Dann würden Sie sofort verstehen, was mir Preise bedeuten. Inzwischen ist das tatsächlich eine Instagram-Geschichte geworden – worüber ich übrigens nicht besonders stolz bin. Die Leute veröffentlichen meine Toilette auf Instagram und sagen es mir nicht mal … Auf der Ablagefläche neben dem Waschbecken stehen zum Beispiel meine Tony Awards. Ich habe sie da aus zwei, sich eigentlich widersprechenden Gründen hingestellt: Zum einen sind Auszeichnungen was Wundervolles und Aufregendes – auch wenn sie eigentlich nichts bedeuten. Wir machen ja nicht Kunst, um Preise zu gewinnen. Zum anderen helfen aber genau diese Preise, Kunst zu machen und einem Publikum zu zeigen. Und wenn man Auszeichnungen bekommt, möchte man sie natürlich auch zeigen. Deswegen stehen sie jetzt bei mir auf der Toilette.
Tänzern wird oft nachgesagt, abergläubisch zu sein. An was glauben Sie?
Das mit dem Aberglauben habe ich vor kurzem sein lassen. Früher habe ich vor einer Premiere immer meinen Bart abrasiert, wenn ich einen hatte. Ich dachte damals, dass ich ohne Bart jünger aussehe und dass man mir, sollte eine Premiere ein Misserfolg sein, eher verzeihen würde. Schließlich sagen die Leute dann normalerweise, na ja, er ist noch jung. Aber jetzt komme ich damit eh nicht mehr durch. Also bleibt der Bart jetzt dran. Ansonsten bin ich nicht wirklich abergläubisch.
Was sagt man in Großbritannien an Stelle von toi toi toi?
In Großbritannien sagen wir chookas. Wenn ich mich ethymologisch besser auskennen würde, wüsste ich, warum. Offen gestanden: Keine Ahnung. In den USA sagt man merde, wie in Frankreich.
Machen wir eine Zeitreise: Mit welchem großen Tänzer oder Choreographen aus der Vergangenheit wärst du gerne einmal Café trinken gegangen?
Mit Rudolf Nurejew. Ich habe ihn sogar mal getroffen, aber wir haben keinen Café getrunken. Ich war damals 17 Jahre alt, noch ein Student und er hat in einer Gala für Margot Fonteyn getanzt. Er brauchte Unterstützung, um zurück ins Studio zu kommen und ich habe ihm geholfen. Wir haben uns damals allerdings nicht wirklich unterhalten. Das hätte ich sehr gerne getan.