… damit ist es vorbei.

über den gesellschaftlichen Widerhall der Fledermaus

Fotografie von Lukas Gansterer
Text von Kai Hinrich Müller

„Man sollte aus einer Fledermausaufführung kein Bühnenweihfestspiel machen; es ist genug, dass die Operette im Operntheater toleriert wird.“ – Klaus Pringsheim, Schwager Thomas Manns und wortgewaltiger Kritiker, Komponist und Pädagoge der Zwischenkriegszeit, scheint nur wenig angetan gewesen zu sein, als er am Heiligabend 1928 im sozialdemokratischen Vorwärts von einer gut besuchten Aufführung der Fledermaus berichtet. Alexander Zemlinsky, vormaliger Musikdirektor des Neuen deutschen Theaters in Prag (heutige Staatsoper), hatte sie zuvor in der Berliner Kroll-Oper zu Gehör gebracht, jenem legendären Ort des Musiktheaters nach dem Ersten Weltkrieg und als Sitz des letzten Parlaments der Weimarer Republik zugleich Stätte mit erheblicher politischer Symbolkraft. Am 1. Januar 1924 mit Richard Wagners Die Meistersinger von Nürnberg wiedereröffnet, wurde sie ab 1927 unter Otto Klemperer zum Hort entstaubender Opernaufführungen, mit Klassikern, die frech wie avantgardistisch modernisiert wurden, mit Zeitopern von Paul Hindemith bis Ernst Krenek – aber eben auch mit Werken wie der Fledermaus von Johann Strauß (Sohn), was Pringsheim sichtlich wenig erfreut. Vor allem die zu „opernmäßig schwer[e]“ Interpretation und die „Bayreuther Allüren“ stören ihn, eine Operette sei keine Oper, hinzu komme noch ein weiteres: die Zeitgebundenheit des Sujets, die Gesellschaftskritik, die der Fledermaus eingeschrieben sei, aber im Jahr 1928 nicht mehr zünde. Als einziges Operettenwerk halte sich die Fledermaus im Spielplan, gespielt wie eh und je, nur „die Kleider sind von 1928“ – eine Unmöglichkeit, zumal an einem Ort wie der Kroll-Oper. Wenn „man sich zu seiner effektiven Modernisierung, gegen die gewiss der Charakter der Musik spricht, nicht entschließen mochte: als ‚Gegenwart‘ lässt sich die Zeit, in der das spielt, heute nicht mehr ausgeben; damit ist es vorbei“. Nur einen Ausweg gebe es: die „konsequente Zurückstilisierung“ in die Entstehungszeit. „Für den unmittelbaren gesellschaftlichen  Widerhall, auf den [das Werk] seiner Natur gemäß immer angewiesen war“, seien ihm „die Voraussetzungen abhanden gekommen“. „Die munter plätschernde Fröhlichkeit dieser verklungenen Operettenwelt, dieser kleinbürgerlich lebenslustige Herr Eisenstein mitsamt seinen herrschaftlichen Liebesabenteuern und dem vergnügten  Ausflugsort von Gefängnis, in das er schließlich zur Erheiterung der ganzen Bühne wandern muss: am Ende wäre es vielleicht nicht schade darum, wenn der Versuch, all dies von Generation zu Generation in die Ewigkeit zu retten, schließlich doch einmal missglückte.“ 

Flammend ist seine Suada, wobei Pringsheim weder als Freund der Fledermaus noch – nimmt man weitere Texte aus seiner Feder  hinzu – der Operette an sich erscheint. Mal sind es die Librettisten, die ihn stören. Mal ist es der Bezug zu Masse und Kommerz – nein, Klaus Pringsheim mag die Operette nicht, womit er freilich in bester Gesellschaft steht. Denn von Karl Kraus über Theodor W. Adorno hin zu Walter Benjamin - und vielleicht auch uns: Die Liste an  Persönlichkeiten ist lang, die die Operette als allzu leichte Kunst verteufeln, nicht selten vergessend, dass „das Leichte auch schwer ist, wenn es gut ist, was es ebensowohl sein kann wie das Schwere“, wie es Thomas Mann unnachahmlich mit Blick auf die Musik von Johann Strauß im Doktor Faustus beschreibt, noch kritisch hinzufügend, dass man allerdings „sehr sattelfest […] im Schweren und Guten“ sein müsse, „um es so mit dem Leichten aufzunehmen“.

Jede Neuinszenierung der Fledermaus mag auch heute noch vor mehr oder weniger ähnlichen Herausforderungen stehen. Denn in der Tat spricht Pringsheim einen zentralen Punkt an, über den es nachzudenken lohnt: ob der Fledermaus tatsächlich die Grundlagen für einen „unmittelbaren gesellschaftlichen Widerhall“ verloren gegangen sind. Oder in Umkehrung seiner Worte gefragt: Wie kann die „munter plätschernde Fröhlichkeit dieser verklungenen Operettenwelt“ auch heute noch im Spannungsfeld von Kunst, Gesellschaft und Politik affizieren, in jenem Verhältnis, in dem eine Aufführung stets verankert ist? So sehr jedes Werk in seiner „szenische[n] Realisierung in ein Reich der Träume, in eine die Wirklichkeit transzendierende Phantasie“ führen mag, so drückt dies Udo Bermbach aus, so sehr bleibt es am Ende doch „der politischen und gesellschaftlichen Realität verbunden. Sei’s derjenigen der Zeit ihrer Entstehung oder der ganz und gar gegenwärtigen.“

POLITISCH-GESELLSCHAFTLICHE ASPEKTE IN DER HANDLUNG

Die Handlung der Fledermaus spielt in der Zeit des habsburgischen Kaiserreichs und greift zahlreiche gesellschaftspolitische Aspekte auf, was umso bedeutsamer wird, wenn man berücksichtigt, wie sehr die sogenannte Wiener Operette eine Theaterform für ein breites, heterogenes Publikum war. Bei Walzerklängen und mehr wurden soziale Hierarchien ebenso angesprochen wie Klassenunterschiede, das Spiel mit Identitäten wie im Chronotopos des Kostümballs, die Machenschaften der Oberschicht, die Doppelmoral der Gesellschaft, der Kampf mit der Bürokratie oder die Willkür von Obrigkeiten wie der Polizei. Ein Beispiel liefert die Gefängnisszene mit Eisenstein, in der die Zuschauerinnen und Zuschauer sogar ein reales Vorbild sehen konnten: Ferdinand Kürnberger, eine ebenso politische wie satirisch-kritische Stimme im Wiener Feuilleton, dessen Causa nur wenige Jahre zuvor für einige Furore in den österreichischen Landen gesorgt hatte. Er hatte eine zehntägige Strafe für eine Bagatelle verbüßen müssen, da er ohne Reisepass – der nicht rechtzeitig ausgestellt worden war – nach München gefahren war. Bürokratischer Irrsinn war die Folge. Kürnberger saß die zehn Tage Arrest ab, auch wenn dies der Stadt Wien am Ende offenbar peinlich war: „Seit gestern [4. Februar 1867] bin ich […] Gefangener der Stadt Wien. Diese Stadt Wien ist aber so verschämt, dass sie das nicht einmal wahrhaben will. Als mich Kompert gestern besuchte und nach einem ‚Arrestanten Herrn Dr. Kürnberger‘ fragte, antwortete man ihm mit großem Tugendstolze: ‚Bitte, dieser Herr ist nicht unser Arrestant; er ist freiwillig gekommen.‘“ Die Parallele zu Eisenstein liegt hier auf der Hand.

Das Publikum konnte sich über Gabriel von Eisenstein – und damit über „das System“ – prächtig amüsieren, wohl auch weil es sich der realen Gefahren bewusst war. Diese Doppelbödigkeit zeigt sich ebenso bei weiteren Themen, die sich hinter den Worten des Librettos verbergen. Sie wirken nach innen wie außen, dienen der Kritik, aber auch als Spiegel für das Publikum, vor allem wenn es derselben Schicht angehörte, die auf der Bühne aufs Korn genommen wurde: „Die sarkastisch-witzige Art, mit der die Wiener Operette über politische oder soziale Zustände zu befinden wusste, wies ihr die Rolle eines psychischen Ventils zu, mit dessen Hilfe sich Einzelindividuen und ganze soziale Schichten – hier die Repräsentanten der urbanen Mittelschicht als ihre Rezipienten – abzureagieren wussten“, betont Moritz Csáky in seiner Studie Das kulturelle Gedächtnis der Wiener Operette, in der er ebenfalls auf Kürnberger eingeht.

„Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist“

Auch der vielleicht populärste Satz der Operette – „Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist“ – lässt sich vor einem solchen zeitgeschichtlichen Hintergrund sehen, weniger die k.u.k-Bürokratie referenzierend als mit Bezug zu Baltasar Gracián, seinem Oráculo manual y arte de prudencia 1647 und zu Arthur Schopenhauer,  die allesamt im gebildeten Wiener Publikum rezipiert wurden.  Schopenhauer ist es auch, der eine der populärsten, bis heute rezipierte Übersetzung des Orácula besorgt hatte (1862). Folgen wir Csáky, so findet sich hierin eine Wurzel der „Glücklich ist“-Sentenz, und zwar in Form eines indirekten Zitats, das vom Publikum mutmaßlich als solches identifiziert worden ist – im Übrigen wie der Zeitbezug, der mit Blick auf diese resignativ-melancholische Sentenz von Bedeutung ist: der große Börsenkrach von 1873, mit dem ein Zusammenbruch der Finanzmärkte verbunden war und der auch im Habsburger Reich verheerende Auswirkungen hatte. Nur wenig später, 1874, wurde die Fledermaus uraufgeführt; die Premiere selbst war eben wegen des Börsenkrachs immer wieder verschoben worden. Ein Großteil des Publikums dürfte die Folgen am eigenen Leib gespürt bzw. die „Glücklich ist“-Phrase in diesem Zusammenhang verstanden haben.

GESELLSCHAFTLICHER WIDERHALL HEUTE

Beispiele wie diese zeigen, wie zeitsensibel die Themen sind, die in den Handlungen von Operetten wie der Fledermaus aufgegriffen werden konnten. Sie illustrieren aber auch, worin mögliche Antworten auf die Frage liegen könnten, wie es mit einem „unmittelbaren gesellschaftlichen Widerhall“ von Werken wie der Fledermaus heute aussehen kann. An drei Aspekten sei dies im Folgenden weiter besprochen. Sie hängen zusammen, folgen aber letztlich eigenständigen Gedankenwegen – hin zu einer Perspektive, die am Ende zumindest kurz angerissen sei: Es geht zunächst um die grundlegende Bereitschaft, der Operette überhaupt die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Wirkung zuzuschreiben, was auch mit einer anderen Wertschätzung der Kunstform verbunden ist. Dann gilt es den im Libretto angesprochenen Themen und deren Anschlussfähigkeit heute genauer auf den Grund zu gehen, woran schließlich – als Perspektive – ein Blick auf das Publikum anknüpft und auf die Frage, welche aktive Rolle dieses hierbei spielen kann. Wer entscheidet eigentlich, welche Themen aufgegriffen werden?

Schauen wir zunächst noch einmal auf Klaus Pringsheims obigen Aussagen, so sieht man eine tief verwurzelte Abneigung gegenüber der Kunstform der Operette, die bis heute eine erstaunliche Prominenz hat. Zwar mag sie als Genre erfolgreich sein, aber doch findet sie an großen Opernhäusern weiterhin nur wenig Platz, was traditionsreichen Beurteilungslinien folgt. Die „leicht geschürzte Muse“, wie Thomas Mann sie im Operettenkapitel seiner Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull nannte (obgleich er der Gattung durchaus positiv gegenüberstand, insbesondere der Fledermaus, was zahlreiche Aussagen in seinen Tagebüchern dokumentieren), gilt vielen als zu oberflächlich und als bloße Unterhaltung – ein Befund, der zu der Frage eines grundlegend anderen Umgangs mit ihr als Gattung und damit zu einer anderen Wertschätzung im Musikleben führt. Denn diese ist wohl die wichtigste Bedingung dafür, dass wir der Operette überhaupt eine Fähigkeit zum gesellschaftlichen Widerhall zugestehen wollen. Wir müssen sie als Form ernst nehmen und sie mit ihrem „Gefälligkeitszauber“ als geeignete Impulsgeberin zu  aktuellen gesellschaftlichen Debatten ansehen.

Und hierfür mag gerade die Fledermaus geeignet sein. Ihre Themen, die gesellschaftlich-politischen Dimensionen, jene Schlaglichter auf soziale und politische Realitäten des österreichischen Kaiserreichs, lassen sich leicht auf heutige Diskurse hinterfragen. Denn obwohl die Handlung im Habsburgerreich angesiedelt ist, sind die dahinterliegenden Ideen noch immer relevant. Aspekte wie Klassenunterschiede, die Macht des Staates oder die Rolle des Einzelnen zu ihm lassen sich ins Heute übertragen. Der zeitweise ungehemmte Alkoholkonsum wäre zugleich an aktuelle Debatten zur Suchtprävention anknüpfbar. Vor allem aber der Aspekt von Migration und Zusammenleben könnte nah an den intensiven aktuellen Diskussionen aufgegriffen werden. Schon zur Entstehungszeit der Operette war dies ein Thema, zumal mit Bezug auf das multikulturelle  beziehungsweise mehrsprachige Habsburgerreich sowie die Zuschauerinnen und Zuschauer der Operetten. Unter ihnen waren laut Csáky auch viele Zuwandererinnen und Zuwanderer, darunter die Textdichter der Fledermaus selbst: Richard Genée und Karl Haffner. Ebenso finden sich im Libretto immer wieder Verweise auf den Vielvölkerstaat des Habsburger Reiches: „Marianka, komm und tanz me hier! Heut ist’s schon všecko jedno mir! Me tanzen’s Polka alle zwei, wo is e Hetz’, is Böhm dabei“, so heißt es etwa im 2. Akt, 12. Auftritt, was laut Csáky „wohl [als] eine gezielte Anspielung auf die vielen Tschechen Wiens [gedacht war], die damals ca. 30 Prozent der Bevölkerung ausgemacht haben“. Und sieht man schließlich nicht auch in den aktuellen Diskussionen über ein Zuviel an Bürokratie Parallelen zur Fledermaus-Handlung?

Indes – und hier kommt die genannte Perspektive ins Spiel – könnte man die Entscheidung nach den aufzugreifenden Themen auch in die Hände derjenigen legen, die von ihnen angesprochen werden sollen, will meinen: das Publikum – womit man zum Schluss dieser Zeilen bei dessen Rolle angekommen ist. Denn allzu oft bleibt die Frage, wie eine Kunst gesellschaftlich widerhallen kann, welche Themen aufgegriffen werden, auf der Seite der Ausführenden verhaftet. Die Kunstschaffenden entscheiden in der Regel ex cathedra, welche Themen in welcher Weise künstlerisch extrapoliert werden, gesellschaftliche Debatten aufgreifend, aber doch „aus sich“ heraus. Wir gehen traditionell von einem künstlerzentrierten Zugriff auf die Frage aus, welche Impulse zu gesellschaftlichen Debatten mit Hilfe der Kunst gegeben werden können. Wie wäre es aber, dies als Gedankenspiel einmal umzukehren, und eine publikumszentrierte Sicht zu wählen, wie sie beispielsweise in den USA häufig zu sehen ist und auch im europäischen Raum immer mehr erprobt wird? Das Publikum wäre dann vor einer Produktion zu befragen, welche  Themen es für wichtig hält, welchen Widerhall es eigentlich möchte. Was bewegt zum Beispiel Studierende, wenn sie von der Fledermaus hören, was die Eltern- und was die Großelterngeneration? Welche Themen sind für welche Zielgruppe relevant? Und welche können von einer Fledermaus überhaupt abgedeckt werden (und welche nicht)? Das wäre schließlich auch eine Möglichkeit – was einen weiteren Bogen zurück den obigen Überlegungen schlägt –, neue Zielgruppen zu erschließen, die von sich aus gerade nicht in die Aufführung einer Operette gehen würden, weil sie diese beispielsweise als nicht mehr zeitgemäß, zu banal oder direkt als belanglos betrachten. So ginge es am Ende weniger darum, wie die Kunst in der Gesellschaft widerhallt, sondern wie sich die Gesellschaft selbst in der Kunst wiederfinden kann.

Foto © BR-Klassik

Kai Hinrich Müller

Kai Hinrich Müller studierte Musikwissenschaft, Betriebswirtschaftslehre und Rechtswissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Er wurde 2013 mit einer Arbeit zur Geschichte der Alte-Musik-Bewegung promoviert. 2022 folgte seine Habilitation mit einer Studie zu Richard Wagners Schriften. Er ist seit 2017 Mitglied am Institut für Historische Musikwissenschaft der Hochschule für Musik und Tanz Köln. Darüber hinaus berät und kuratiert er internationale Forschungs- und Kulturprojekte. Seine wissenschaftlichen Arbeiten befassen sich mit den Funktionen von Musik in gesellschaftlichen Diskursen, Strukturen des Musiklebens früher und heute, Richard Wagner und seiner Rezeption im 20. Jahrhundert sowie dem Musikleben der Zwischenkriegs- und NS-Zeit.

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