Korken knallen

über Champagner und die Wissenschaft hinter den Bläschen 

Fotografie von Lukas Gansterer
Text von Gérard Liger-Belair

Nachdem er mehr als drei Jahrhunderte lang immer weiter verfeinert wurde, ist Champagner heute der berühmteste französische Schaumwein. Mit seinen beliebten feinen Bläschen ist er auf der ganzen Welt das Symbol für Stil und Glamour. Aber nur die Wenigsten sind sich bewusst, welche erstaunlichen, verborgenen Vorgänge sich jedes Mal, wenn wir ein Glas Champagner genießen, unter unserer Nase abspielen.

Streng chemisch betrachtet ist Champagner eine wässrige Lösung mit vielen Bestandteilen, darunter (neben vielem anderen) Alkohol, Hunderte von organischen Verbindungen und gelöstes Kohlendioxid, das dem König der Weine sein beliebtes Prickeln verleiht. Das  starke Wechselspiel zu erforschen, das zwischen den verschiedenen Parametern in einem Glas oder einer Flasche Champagner abläuft, ist seit rund zwei Jahrzehnten mein Fachgebiet. Mithilfe hochmoderner wissenschaftlicher Instrumente habe ich nach und nach immer mehr darüber herausgefunden, welche fantastischen, raffinierten Vorgänge den sagenumwobenen Wein vor dem Auge schäumen und auf der Zunge prickeln lassen. Ich möchte Sie zu einer Champagnerprobe mitnehmen. Dabei werden Sie aus wissenschaftlicher Sicht erfahren, welche faszinierenden Geheimnisse in jedem Glas Champagner stecken.

EIN ERSTAUNLICHER BLAUER HAUCH, WENN DER KORKEN KNALLT

Durch Zusatz von Hefe und einer gewissen Menge Zucker wird in den luftdicht verschlossenen Flaschen ein zweiter Gärungsprozess in Gang gesetzt: die Flaschengärung. Dabei bildet sich neben  Alkohol auch gasförmiges Kohlendioxid (CO2). Deshalb stehen  Champagner und andere Schaumweine, die nach diesem traditionellen Verfahren hergestellt werden, unter einem starken inneren Druck. Wenn dann der Korken herausploppt, kann sich das Gas – vorwiegend CO2 – ungehindert ausdehnen und strömt durch den Flaschenhals in die Umgebungsluft. Wie sich kürzlich in einer Studie gezeigt hat, nimmt dieser Gasstrom manchmal eine überraschende blaue Färbung an. Wie kommt es beim Entkorken der Flasche zu dem blauen Schimmer? Die Antwort: Durch den physikalischen Prozess der „adiabatischen Expansion“ kühlt sich das aus dem Flaschenhals strömende CO2 um mehrere Dutzend Grad ab. Liegt die Temperatur der Flasche über 12 °C, erreicht der Gasstrom  eisige minus 80 °C, weniger als der Gefrierpunkt von Kohlendioxid. In den winzigen Trockeneiskristallen bricht sich das Licht aus der Umgebung, und die Folge ist ein blauer Schimmer. Leider ist der Farbblitz so schwach, dass man ihn mit bloßem Auge nicht sehen kann, aber er entsteht durch den gleichen Prozess der Lichtdiffusion, der auch den Himmel blau aussehen lässt.

WIE SCHENKT MAN CHAMPAGNER AM BESTEN EIN?

Haben Sie sich schon einmal gefragt, wie man Champagner einschenkt, damit das kostbare Prickeln lange anhält? Der Schlüssel zur Entstehung der Bläschen liegt in der Konzentration des in  Champagner und anderem Schaumwein gelösten CO2. Je höher sie ist, desto länger blubbert es im Glas. Aber wie man den Champagner einschenkt, ist durchaus nicht gleichgültig, denn es hat Einfluss darauf, wieviel gelöstes CO2 im Glas noch vorhanden ist. Lässt man den Champagner an der Seitenwand eines schräg gehaltenen Glases herunterlaufen, ändert sich die Konzentration des CO2 viel weniger, als wenn man ihn in die Mitte eines senkrecht stehenden Glases gießt. Champagner wie Bier einzuschenken, ist einfach die schonendere Methode. Bestätigt wurden diese Befunde durch Infrarotaufnahmen: Mit ihnen konnte man sichtbar machen, wie die Wolke des gasförmigen CO2 während des Einschenkens entweicht. Wir sollten Champagner also ein wenig wie Bier behandeln – zumindest wenn es um das Einschenken geht.

WIE VIELE BLÄSCHEN SIND IN EINEM GLAS?

Die Frage, wie viele Bläschen sich in einem Glas Blubberwasser bilden, ist nicht nur für Sommeliers, Weinjournalisten und erfahrene Kenner von Interesse, sondern für alle, die aufgeschlossen sind und sich fragen, welche komplizierten Vorgänge in ihrem Glas ablaufen. Ein genauer Blick auf ein Glas voller Champagner zeigt, dass die Bläschenketten, die so elegant zur Oberfläche steigen, von winzigen Staubteilchen an der Glaswand ausgehen. Kürzlich haben wir uns um eine exakte wissenschaftliche Antwort auf die Frage bemüht, wie viele Bläschen sich in einem Glas bilden. Dazu haben wir in Modellrechnungen die Dynamik der aufsteigenden Bläschen mit Stoffübergangsgleichungen kombiniert. So konnten wir eine theoretische Beziehung ableiten, die etwas über die Gesamtzahl der Bläschen in einem Glas aussagt; abhängig ist sie von Parametern wie Temperatur, Glasform, Umgebungsluftdruck und so weiter. Gießt man ungefähr hundert Millimeter Champagner in gerader Linie in die Mitte eines senkrecht stehenden Glases, steigen ungefähr eine Million Bläschen auf – vorausgesetzt, man widersteht der Versuchung, aus dem Glas zu trinken. Wird der Champagner behutsam in ein schräg gehaltenes Glas gegossen – die Methode, mit der das gelöste Kohlendioxid besser erhalten bleibt –, liefert er einige zehntausend Bläschen mehr, bevor er abgestanden ist.

GIBT ES DAS IDEALE CHAMPAGNERGLAS?

Wenn man Champagner aus einem Glas trinkt, gehen gasförmiges CO2 und flüchtige aromatische Verbindungen nach und nach in den „Dampfraum“ oberhalb des Glases über und verändern die Gesamtwahrnehmung der Aromen. Wie sich die Glasform auf die Wahrnehmung des gasförmigen CO2 und der Aromen auswirkt, wurde mit Gaschromatographie untersucht, einer Methode, mit der wir die verschiedenen chemischen Bestandteile eines Gasgemisches genau messen können. Gasförmiges CO2 wurde dabei über einem schmalen, hohen Champagnerglas (der Flöte) in fast doppelt so großer Menge gefunden wie über einer Sektschale. Unsere Befunde legen die Vermutung nahe, dass das schmale Glas das CO2-Gas und damit auch die Aromen wirksamer sammelt, während die breite Schale sie „verdünnt“. Andererseits ist aber bekannt, dass gasförmiges CO2 in zu hoher Konzentration die Nase reizt – das ist das unangenehme Kohlensäure-Brennen. Unsere Befunde stehen im Einklang mit der sensorischen Analyse durch Versuchspersonen. Heute hat sich allgemein die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Duft von Champagner und insbesondere die erste „Nase“ die Schleimhäute stärker reizt, wenn der Champagner nicht in einer Schale, sondern in einer Flöte serviert wird. Der beste Kompromiss, der ein besseres sensorisches Erlebnis vermittelt als das schmale Glas oder die Schale, ist ein tulpenförmiges Weinglas, das ein wenig kürzer als die traditionelle Flöte ist und oben leicht nach innen gebogen ist.

FLIEßMUSTER IM CHAMPAGNERGLAS VERSTÄRKEN DIE WAHRNEHMUNG DER AROMEN

Das Schäumen im Champagnerglas ist bei Weitem nicht nur ein ästhetischer Genuss. Die aufsteigenden Bläschen schleppen in ihrem Kielwasser auch Flüssigkeitsteilchen mit. Im Gegensatz zu einem nicht schäumenden Stillwein, der im Glas ruht (solange man es nicht schwenkt), sind Schaumweine in ständiger Bewegung. Was man dabei mit bloßem Auge nicht sehen kann, wurde mit der Methode der Lasertomographie aufgeklärt: Fließmuster in Champagnergläsern. Sie erneuern ständig die Grenzfläche zwischen Luft und Wein, so dass die kostbaren flüchtigen Aromen viel effizienter und über längere Zeit aus der Flüssigkeitsoberfläche entweichen können. Deshalb sind die Fließmuster, die von den aufsteigenden Bläschen angetrieben werden und die Diffusion der Aromastoffe verstärken, beim Champagnergenuss ein wunderbares Geschenk. Ein Glas mit Champagner oder Schaumwein muss man nicht schwenken, um die raffinierte Mischung aus Düften und Aromen zu genießen – diese Aufgabe übernehmen die Bläschen. Außerdem konnte man mit  langen Belichtungszeiten auf Fotos auch selbstorganisierte zweidimensionale Wirbel auf der Champagneroberfläche festhalten. Sie sind das Ergebnis des feinen Wechselspiels zwischen den aufsteigenden Bläschen, die ständig Flüssigkeit über die Oberfläche treiben, und dem runden Glasrand, der den Flüssigkeitskreislauf an seiner Innenseite begrenzt. Es ist eine erstaunliche Parallele zwischen diesen Champagnerwirbeln und den Strömungen an der Meeresoberfläche.

PLATZENDE BLÄSCHEN ERZEUGEN EINE WELLE DER AROMEN

Die wissenschaftlichen Geheimnisse platzender Bläschen wurden mit einem neuen Verfahren der Hochgeschwindigkeitsfotografie aufgeklärt. Man erkennt, wie ein einzelnes Bläschen an der Oberfläche des Champagners in mehreren Stadien zerplatzt und eine kurzlebige Fontäne erzeugt, die schnell in mehrere winzige Tropfen zerfällt. Beim Trinken brechen unzählige aufsteigende Bläschen zusammen und versprühen über der freien Oberfläche eine Vielzahl winziger Tröpfchen, die ein erfrischendes Aerosol bilden. Die  chemische Zusammensetzung der platzenden Bläschen wurde mit ultrahochauflösender Massenspektrometrie untersucht, einer  Methode, mit der man die verschiedenen chemischen Bestandteile eines Flüssigkeitsgemisches identifizieren kann. In den Aerosolen des Champagners wurden einige Dutzend chemische Verbindungen mit aromatischen Eigenschaften in hoher Konzentration gefunden. Das charakteristische Schäumen führt also im Vergleich zu einem Stillwein zu einer beträchtlich stärkeren Freisetzung von Aromen, was für den Gedanken spricht, dass die aufsteigenden und platzenden Bläschen in jedem Glas Champagner eine Art Paternoster für die Aromen sind.

BLÄSCHENBLÜTEN IM CHAMPAGNERGLAS

Mit Hochgeschwindigkeitsfotografie konnte man genau beobachten, mit welcher Dynamik die Bläschen an der Oberfläche zusammenbrechen, wenn man ein Glas Champagner einschenkt. Dabei zeigte sich ein weiteres erstaunliches, liebenswürdiges Phänomen. Nachdem der Champagner eingeschenkt wurde und die Schaumkrone zusammengesunken ist, liegt eine dünne Schicht aus Bläschen auf der Oberfläche, eine Art Bläschenfloß, in dem jedes Bläschen von mehreren Nachbarbläschen umgeben ist. Gleichzeitig platzen in jeder Sekunde Hunderte von Bläschen und setzen über der Oberfläche des Champagners unzählige winzige, aromenbeladene Tröpfchen frei. Wenn ein Bläschen platzt und an der Oberfläche einen offenen Hohlraum hinterlässt, werden benachbarte Bläschen angesaugt und schaffen überraschende, kurzlebige blumenartige Strukturen, die leider mit bloßem Auge nicht zu sehen sind.

UND DANACH

Als Doktor der Physik stehe ich ganz in der Denktradition von Marie Curie. Die berühmte französische Physikerin und zweifache Nobelpreisträgerin sagte einmal: „Ich gehöre zu denen, nach deren Ansicht die Wissenschaft eine große Schönheit hat. Ein Wissenschaftler in seinem Labor ist nicht nur ein Techniker. Er ist auch ein Kind und steht vor Naturerscheinungen, die ihn beeindrucken wie ein Märchen.“ Seit ich Wissenschaftler geworden bin, hat man mir oft gesagt, ich hätte mir in der Physik die beste Aufgabe von allen ausgesucht, denn ich habe meine Laufbahn rund um Bläschen aufgebaut und arbeite in einem Labor, das mit bestem Champagner ausgestattet ist –  deshalb bin ich geneigt, der Ansicht zuzustimmen! Das Vergnügen erwächst für mich aber aus der Tatsache, dass ich heute noch mit der gleichen kindlichen Faszination vor den Bläschen stehe wie  in jungen Jahren, als ich begeistert Seifenblasen erzeugt und  beobachtet habe. Ganz gleich, wie alt ich bin und welche weitreichenden Kenntnisse ich mir durch die Erforschung des Champagners angeeignet habe: Wenn ich beobachte, wie die Bläschen in einer Champagnerflöte aufsteigen, empfinde ich immer noch das gleiche Vergnügen wie damals, als ich es zum allerersten Mal gesehen habe.

Foto © Emmanuel Goulet

Gérard Liger-Belair

Gérard Liger-Belair promovierte 2001 in Physik. Er wurde 2002 beigeordneter Professor an der Université de Reims Champagne-Ardenne in Frankreich und 2007 ordentlicher Professor an derselben Hochschule. Sein Interesse gilt derzeit der physikalischen und chemischen Erforschung von Bläschen und Schaum einschließlich ihrer fachübergreifenden Anwendungsbereiche. Er leitet eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe zur Erforschung der wissenschaftlichen Hintergründe der Bläschen in Champagner, Schaumwein, Bier und allgemein in prickelnden Getränken. Außerdem ist er der Autor mehrerer Fachbücher und preisgekrönter populärwissenschaftlicher Werke, darunter u. a. Entkorkt: Wissenschaft im Champagnerglas, 2005 erschienen bei Spektrum Akademischer Verlag.

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