Woher und wohin ...
über die verwickelte Entstehung der Fledermaus
Fotografie von Lukas Gansterer
Text von Malte Krasting
VON BERLIN NACH WIEN ODER EINE IDEE HAT ERFOLG
„In 42 Tagen und Nächten“ schrieb Johann Strauß angeblich seine Fledermaus. Solchen Bewunderung heischenden Überlieferungen ist stets mit Vorsicht zu begegnen. In diesem Fall ist die Legende aus mehreren Gründen in Zweifel zu ziehen. Schon das musikalische Material von Strauß’ dritter Operette stammt teilweise aus der „Schublade“ und wurde nicht eigens für die Fledermaus komponiert. Die Wurzeln des Librettos gar reichen fast ein Vierteljahrhundert zurück. Ein Liebhaber wird für den Ehemann der Verführten gehalten und muss im Gefängnis dessen Strafe verbüßen – das ist der Ausgangspunkt und verbindendes Element von vier Bühnenwerken. Allein dieser Idee hat es ihr Erfinder zu verdanken, dass er nicht längst der Vergessenheit anheimgefallen ist. Roderich Julius Benedix (1811–1873), sächsischer Schriftsteller, „Routinier der Situationskomik“ (Marcel Prawy), war Verfasser von überaus erfolgreichen Einaktern, Lustspielen, „Familien-“ und „Kriegsbildern“. Er schrieb über hundert Stücke, Schriften über Die Aussprache des Hochdeutschen und den zu seiner Zeit bekannten Traktat Shakespeareomanie – gegen die angebliche Überschätzung des englischen Dichters. Sein 1851 in Berlin uraufgeführtes Lustspiel Das Gefängnis stand bereits im selben Jahr auf dem Spielplan des Hofburgtheaters in Wien und hielt sich lange Zeit im Repertoire. Hier betritt er erstmals die Bühne: jener Verführer, der die Haftstrafe des abwesenden Ehemanns übernimmt, um dessen Frau nicht zu kompromittieren. Handwerklich einwandfrei durchgeführt, krankt das Stück an den genüsslich gewälzten Moralmonologen und dem kleinbürgerlich perspektivlosen Ausgang.
Aus dem Kern des biederen Lustspiels formte das französische Dichterduo Henri Meilhac und Ludovic Halévy (das später mit Carmen seinen durchschlagenden Erfolg einfahren sollte) 1872 eine Komödie für das Pariser Théâtre du Palais-Royal. Der große Zuspruch, den dasVaudeville Le Réveillon (etwa: „Die Weihnachtsparty“) fand, machte Max Steiner, Direktor am Theater an der Wien, aufmerksam. Er bestellte bei Carl Haffner eine Übertragung ins Deutsche, die sich aber als unzureichend erwies – wohl weniger, weil das ausgelassen in Verkleidung gefeierte Weihnachtsfest den Österreichern eine unbekannte Sitte war, denn der Réveillon ist keineswegs stücktragend, sondern bietet nur Milieu, das aber durch ein beliebiges Fest ersetzt werden könnte. Der Grund für die Enttäuschung liegt eher darin, dass es im Réveillon zu keiner rechten Entwicklung kommt, der Mittelakt in frivoler Konversation dahinplätschert und die dramatische Zuspitzung im dritten ein wenig unausgewogen ist. Die allzu gründlich geschürzten Spannungsknoten im Gefängnis hatten leichter Unterhaltung weichen müssen. Außerdem war die sächsische Vorlage des Pariser Schauspiels vielen Wienern noch bekannt. Erst versuchte man, das Stück der Konkurrenz vom Carltheater anzu-bieten, doch auch die zeigte kein Interesse. So überarbeitete das Multitalent Richard Genée (auf Vorschlag des Verlegers Gustav Lewy) das Stück, Johann Strauß griff zu und schrieb zusammen mit Genée eine der wenigen Operetten – oder vielleicht doch die einzige? – die, sich bis heute auch auf den internationalen Opernbühnen gehalten hat: Die Fledermaus.
Im Gegensatz zu ihren beiden Vorläufern endet die Fledermaus mit ungelösten Problemen. Das Gefängnis entlässt seine Insassen ins ungetrübte Glück: drei Paare haben sich (wieder-)gefunden, und finanziell hat sich alles aufs Beste geordnet. Der Réveillon schließt mit einem Augenzwinkern, indem Eisensteins Vorläufer Gaillardin das Publikum bittet, ihm die Strafe zu erlassen: Die Scheinwelt des Theaters vermischt sich mit der Realität, die Illusion zerstiebt. Die Fledermaus endet zwar mit ausgelassenem Singen und Tanzen, was aus ihren Personen wird, bleibt aber im Dunkeln. Wird man nach all den Turbulenzen, Gemeinheiten und Betrügereien wirklich wieder zur Tagesordnung übergehen können? Wie soll sich das Ehepaar Eisenstein in Zukunft in die Augen sehen? Welchen Grad von Selbstbetrug hält so eine Gesellschaft aus? So offen die Geschichte für die Personen der Fledermaus ausgeht, so ungewiss war zunächst auch das Schicksal der Operette selbst. Ein Erfolg bei der Uraufführung, endete die erste Aufführungsserie trotzdem schon nach 16 Vorstellungen, weil das Theater für Gastspiele der Operndiva Adelina Patti reserviert war. Erst mit der triumphalen Berliner Inszenierung am Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater am 8. Juli 1874 trat die Fledermaus ihren Siegeszug durch die ganze Welt an.