Was erzählt Giuditta über das Lebensgefühl der Enstehungszeit des Stückes und über das unserer Zeit?
Alexander Kluge: Wir leben heute, 2021, in einer nicht ungefährlichen Welt. Die tatsächliche Gefährdung ist im globalen Zusammenhang weniger sichtbar als in der Zeit von Giuditta, in der die Armeen noch paradierten. Unsere Welt ist so komplex, dass wir die Kälte, in der wir leben, weniger fühlen. Das ist 1934 anders. Es ist erst 16 Jahre her, dass der Erste Weltkrieg Europa zur Entgleisung brachte. Die Menschen haben 1934 das Gefühl, dass sie auf einem Vulkan tanzen. Es gibt die Vorahnung eines noch böseren Kriegs, für den bereits gerüstet wird. Die Wirklichkeit ist unheimlich. Und so wird das Begehren, sich durch Musik und Schlager zu trösten, die von Liebe handeln, intensiver. Die Menschen zieht es unwillkürlich aus einer ungemütlichen Wirklichkeit weg: ins Exotische, ins private Glück, aber auch in die Geheimarmee der „Schwarzen Reichswehr“. Lieber in die Wüste gehen und nach Afrika, als zuhause bleiben. Notfalls ist die Illusion besser als das Reale. Diese Glückssuche, der Lebenswille, von dem die Musik Lehárs spricht, ist unbezähmbar.
Das ist der Grund, warum ich die Stücke von Marthaler so sehr mag: dass er lauter Brunnen gräbt und unterirdische Verbindungen zwischen Zeiten und Kontexten herstellt. August Everding hat sinngemäß gesagt: Alle 80.000 Opern, die es in der Geschichte des Musiktheaters gibt, sind miteinander verwandt. Alle bilden eine große Partitur, und nachts reden sie miteinander, wenn die Intendanten nicht aufpassen. Dies ist das, was ich bei allen Stücken Marthalers und bei deinen Bühnenbildern, Anna, wiederentdecke.
Wie fiel eure Wahl auf Giuditta?
Malte Ubenauf: Der Impuls kam direkt von der Bayerischen Staatsoper. Ich kannte bis dahin das Stück kaum, nur einige berühmte Gesangsnummern. Wir waren sehr schnell überrascht, dass es sich bei diesem Werk um einen ähnlichen Fall handelt wie Hoffmanns Erzählungen, wo der Komponist – zumindest vor sich selbst – den Versuch unternommen hat, das Genre Operette zu verlassen hin zu einem opernhaften Kontext. Denn so war es offensichtlich auch bei Giuditta. Das Stück stellt ganz spät in Lehárs Biografie den Versuch dar, dorthin zurückzukehren, wo er ganz am Anfang seiner Laufbahn als Komponist von Musiktheater begonnen hatte: bei der Oper.
Was hat euch noch daran interessiert?
Malte Ubenauf: Etwa die eigenartigen Orte, an denen die einzelnen Situationen des Werkes spielen: eine Hafenstadt in Süditalien ist noch nicht so ungewöhnlich, aber dann eine Wüste in Libyen, ein Vergnügungslokal im Irgendwo, ein großes europäisches Hotel mit Barpianist. Vieles daran löste bestimmte Assoziationen aus. Das Entstehungsjahr ist der zweite Umstand, der uns beschäftigt hat: 1933 komponiert, 1934 uraufgeführt. Mit aller Kenntnis über Lehárs mindestens widersprüchliche Rolle im Dritten Reich und Hitlers Vorliebe für Lehárs Operette Die lustige Witwe lag da offensichtlich etwas vor, was zutiefst ambivalent betrachtet werden könnte, wenn man es versucht. Ich glaube, das war der Ausgangspunkt, an dem wir uns entschieden haben, uns mit Giuditta auseinanderzusetzen.
Wie seid ihr dabei zu den vielen Kontexten, zu den vielen Musiken gekommen, die ihr in eurer Fassung bündelt?
Malte Ubenauf: Die Entscheidung, sich mit Giuditta zu beschäftigen, fiel in eine besondere Zeit, ungefähr Ende 2019. Zu diesem Zeitpunkt veränderte sich die Welt. Es begann eine Pandemie. Und damit auch eine Phase, in der die Menschen, speziell die mitteleuropäischen, plötzlich hysterisch und hart gegeneinander wurden auf eine Art, wie es dergestalt vorher nicht kenntlich war. Das spürend wurde uns noch deutlicher, dass wir nicht einfach Giuditta von Lehár inszenieren wollten, sondern das Werk kontextualisieren – nicht dekonstruieren, denn das ist ja ein großer Unterschied.
Anna Viebrock, ihr nutzt einen schon einmal verwendeten Bühnenraum aus eurer gemeinsamen Theaterarbeit 44 Harmonies from Appartment House 1776, die 2018 am Schauspielhaus Zürich gezeigt wurde – eine Arbeitsweise, die ihr bereits mehrfach praktiziert habt.
Anna Viebrock: Wiederverwerten ist ein altes Thema bei uns. Das habe ich schon auf verschiedenste Arten praktiziert, oft habe ich aber nur Teile von Bühnenbildern verwendet. Etwa mit dir, Alexander, bei unserer gemeinsamen Ausstellung 2017 The boat is leaking.The captain lied. bei der Fondazione Prada in Venedig. Dort habe ich ein abgespieltes Bühnenbild zerlegt, die Teile an verschiedene Räume des Palazzo angedockt und so in neue Zusammenhänge gestellt. So verknüpft man Sachen, die man schon gemacht hat, immer wieder neu. Christoph bezieht sich immer wieder auf Produktionen und Bühnenbilder, die wir schon gemacht haben. Auch aus Nachhaltigkeitsgründen finde ich es übrigens sinnvoll, dass Bühnenbilder nicht einfach weggeschmissen werden.
Alexander Kluge: Was mich an deinen Bühnenbildern fasziniert: Du gestaltest nicht einfach, du sammelst auch. Du verwendest in den Räumen oft Fundstücke, die echt sind, wie eine Steinplatte aus der Grabeskirche in Jerusalem oder – in einer anderen Inszenierung – ein Teilstück aus einem realen Justizpalast. Obwohl Zuschauer und Zuschauerinnen diese Herkunft nicht kennt, gib sie deinen Bühnen einen besonderen Authentizitätsgrad. Kunst ist immer mehr als das, was man von außen sieht. Dass du das tust, beruht auf der Achtung vor dem Gegenstand im Bühnenbild. Das ist nicht einfach totes Holz, verbautes Metall oder eine Requisite. Requisiten sind bei dir Lebewesen wie Personen der Handlung.
Krieg, Wüste … und Liebe. Das hat auch alles mit dem Schlager zu tun, mit der Unterhaltungsmusik der Zeit. Und mit dem Scheitern.
Alexander Kluge: Der Schluss, den ihr gewählt habt, dass der Klavierspieler Octavio da sitzt, ohne einen einzigen Gast ... Das hat was von Casablanca, etwas Trauriges. Der Held der Operette ist nichts mehr, Octavio ist zu nichts mehr nutze. Das spiegelt auch das Lebensgefühl nach 1918 in Offizierskreisen. „Schöner Gigolo“: Vorher war ich Leutnant bei der Kavallerie, und jetzt bin ich Tänzer für fünf Reichsmark die Stunde im Adlon für Teestunde mit anschließendem Erlebnis. Und meine Kameraden verachten mich. Das sind alles Dinge, die sind traurig bis in die Knochen, wenn man sie ernst nimmt.
Das ungekürzte Interview finden Sie im Programmbuch zur Produktion Giuditta.