„Verästelungen in die Vergangenheit“
Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski im Gespräch über die Oper Hamlet
Fotografie: Margarita Galandina
Lesedauer: ca. 8 Min.
Brett Deans Oper Hamlet feierte unter Ihrer Musikalischen Leitung 2017 Premiere beim Glyndebourne Festival. Wie ist es, 2023 in München an der Bayerischen Staatsoper diese Produktion neuerlich zur Aufführung zu bringen?
Es ist wie ein Wiedersehen mit der eigenen Vergangenheit. Zwar ist nicht viel Zeit seit der Premiere verstrichen, sechs Jahre, aber dieser Premiere ging eine lange Entstehungsphase voraus. Das Stück wurde initiiert, als ich im Begriff war, Glyndebourne – wo ich von 2001 bis 2013 als Musikdirektor gedient habe – zu verlassen. In meinem letzten Jahr entschieden wir, Brett Dean einen Opernauftrag zu geben. Wir waren alle sehr erstaunt, als er mit der Idee einer Vertonung von William Shakespeares Hamlet zurückkam, weil es ein Stück ist, dem man in England eher aus dem Weg geht. Gar als Oper. Keiner konnte sich vorstellen, was daraus wird.
Hamlet ist eines der Werke William Shakespeares, das nicht allzu häufig erfolgreich für die Opernbühne vertont wurde ...
Viele große Komponisten haben an Hamlet gedacht. Pjotr Iljitsch Tschaikowski, Giuseppe Verdi, Hector Berlioz, ja sogar Richard Wagner spielte mit dem Gedanken, er liebte Shakespeare. Von den bekannten Komponisten hat es eigentlich nur Ambroise Thomas „gepackt“. Es gibt eine russische Vertonung aus den 1990ern von Sergej Slonimski, die sehr interessant, aber recht akademisch ist. Und musikalisch ohnehin eine ganz andere Sprache spricht als Brett Deans und Matthew Jocelyns Oper, die genial mit Shakespeares Stoff umgeht und wirklich bahnbrechend ist.
Was war an der Entstehungsphase der Oper besonders?
Neben Dean und Jocelyn waren der Regisseur der Uraufführung, Neil Armfield – einer der wichtigsten Theaterregisseure Australiens und großer Shakespearekenner und -könner –, und ich intensiv in die Entstehung des Werkes involviert. Abgesehen von unglaublichen neun Wochen Produktionszeit fanden bereits mitten im Entstehungsprozess zwei intensive Workshops statt. Wir bestellten Sängerinnen und Sänger, die zum Teil später gar nicht der Produktion beteiligt waren, und Mitglieder des Glyndebourne Chorus, um verschiedene Farben und Effekte, auszuprobieren, wie zum Beispiel Singen aufs Einatmen. Ein Effekt den man beim Reden verwenden kann, der aber beim Singen sehr schwierig ist. Sir John Tomlinson wurden seine Partien geradezu auf den Leib geschrieben. Für die Partie des Totengräbers muss der Sänger kunstpfeifen, etwas, das er bereits bravourös beherrschte. Der Entstehungsprozess verlief in Phasen. Auch die Partitur erhielt ich in Phasen, die gesamte erst circa zwei Wochen vor Probenbeginn. Der Probenprozess startete mit einer Woche, die ausschließlich musikalischen Proben gewidmet war. Und alle waren dabei. Dean und seiner Ehefrau Heather Betts, Jocelyn, Armfield und sein Team saßen dort und hörten sich alles an. Das war eine unglaubliche Zeit. Wir alle liefen mit unseren Shakespeare-Büchern durch die Gegend. Es war ein wunderbarer und ein sehr schwieriger Prozess zugleich, weil das Stück allen das letzte abverlangt. Es ist intellektuell, emotional, technisch und physisch sehr anstrengend.
Für Sie waren dieses Werk und diese Produktion der Beginn einer sehr engen Zusammenarbeit mit Brett Dean. Was macht in Ihren Augen seine Musik so besonders?
An Deans Musik fasziniert mich eine Mischung aus Komplexität und Einfachheit, Zugänglichkeit. Bestimmte Melodien, die er schreibt, merkt man sich sofort, man kann sie pfeifen, sie lassen einen für Wochen nicht los, und das bei einem gleichzeitig kompromisslos modernen Stil. Obwohl Dean sehr komplex komponiert und das Studium seiner Musik für alle höchst intensiv ist, ist alles spiel- und realisierbar und hat eine direkte emotionale Wirkung auf das Publikum. Die Musik bleibt nie Selbstzweck, alles arbeitet für das Gedeihen einer großen Idee. Es ist richtiges Musiktheater, was er entwirft.
Hamlet ist eine komplexe und auch moderne Figur, tausendfach gedeutet, omnipräsent in unserem kulturellen Gedächtnis. Mysteriös und nicht leicht zu greifen. Alle scheinen ihn zu kennen, keiner kennt ihn wirklich. Was denken Sie, wo in der Interpretation dieser Figur die Schwerpunktsetzung der Oper im Vergleich zur Vorlage liegt?
W. H. Auden hat in einer seiner Shakespeare-Vorlesungen einmal gesagt, dass Hamlet die einzige Rolle im Stück ist, die nicht mit einem professionellen Schauspieler besetzt werden sollte, sondern mit jemandem von der Straße. Man könne alles spielen im Theater, nur nicht sich selbst. Und Hamlet ist primär ein Schauspieler. Ein Schauspieler kann schlecht sich selbst darstellen. Dean wiederum macht den Hamlet sehr real, sehr konkret, zeigt ihn als einen jungen, hyperemphatischen, dann aber auch endlos einsamen und narzisstischen Menschen, der an seinen eigenen Schwächen zugrunde geht und viele Menschen mit in den Tod reißt. Ich fand die Idee, die jungen Männer Laertes und Hamlet beide als Tenöre zu besetzen, zunächst abstrus. Inzwischen finde ich sie gut. Sie sind wie Brüder, sie könnten sich lieben wie Brüder, aber sie sind dazu auserwählt, einander zu töten. Und das erinnert mich ein wenig an Wolfgang Amadeus Mozarts Così fan tutte, wo die Hauptfiguren ebenfalls sehr jung sind. Also eine Art tragische „Coming of Age“-Geschichte für Hamlet, Laertes und Ophelia, die in dieser Oper sehr gestärkt ist, Textpassagen singt, die in Shakespeares Original von Gertrude, Polonius, Laertes und Hamlet gesprochen werden.
Wie geht Deans Oper mit Shakespeares Text um?
Dean und Jocelyn behandeln Shakespeares Hamlet nicht nur als ein grandioses Theaterstück, sondern auch als einen genialen Text, der inzwischen in hunderte unsterbliche Zitate zerfallen ist, die ihre Existenz jenseits des eigentlichen Stücks führen, wie beispielsweise „Something‘s rotten in the state of Denmark“, „To be or not to be“, „The readiness is all“ oder „The rest is silence“. Die Autoren erzählen nicht bloß eine weltbekannte Geschichte, sie stehen im ständigen Dialog, manchmal sogar im Kampf mit der legendären, mythischen Qualität der Vorlage, die über die Jahrhunderte zu einem integralen Teil unserer Kultur geworden ist. Shakespeare ist nicht einfach Lieferant des Opernplots, sondern ständiger Dialogpartner der beiden zeitgenössischen Autoren. Sein Text wird neu gelesen, neu gedacht, neu durchmischt und somit kommentiert. Dies verpasst der ganzen Unternehmung eine spezielle „vierte“ Dimension. Auch deswegen hören wir nie den kompletten Text des Monologs von Hamlet in dieser Oper, sondern nur „...or not to be...“, und zwar gleich am Anfang des Stücks – es ist dies die erste solistische Zeile überhaupt, die zu hören ist. Gewissermaßen sind im selben Stück ein Antihamlet und ein Hamlet vereint.
Apropos Antihelden ... Ophelia und Hamlet fallen beide dem Wahnsinn anheim. Wie fängt Dean das Geisterhafte und den Wahnnsinn in seiner Komposition ein?
Dean arbeitet mit einem sehr ausgedehnten Klangkörper. Der Klang fließt aus dem Orchestergraben in den Saal. Darüber hinaus gibt es zwei Satellitengruppen, die links und rechts vom Orchestergraben positioniert sind, so dass sich ein Stereoeffekt einstellt. Diese Gruppen sind nicht sichtbar, aber hörbar. Sie bestehen jeweils aus einem Klarinettisten, einem Trompeter und einem Schlagzeuger, wobei die Bläser auch Steine benutzen. Diese Steine sind ein sehr starkes Ausdrucksmittel und erzeugen besondere Klangeffekte. Es sind einfache Steine, die man im Fluss oder Garten findet. Diese Steine werden zusammengeschlagen, ein Klang wie aus dem Jenseits entsteht. Manchmal erklingen sie unten im Graben, manchmal oben. Neben dieser Achse haben wir zum einen den großen Chor auf der Bühne, zum anderen einen kleinen Chor im Graben versteckt, der oft als klangliche Ausdehnung des Chores oder der Solisten fungiert. Die Choristen dieses kleinen Chores greifen häufig, wenn Solisten ein Wort beginnen, die erste Silbe auf, vervielfältigen sie mit einem Loop, das Ganze wird gleichsam zu einer auralen Halluzination.
Ein Spiel mit dem Auflösen von Identitäten, der Verschiebung von Wirklichkeitswahrnehmungen ...
Es gibt noch eine dritte Klangebene, die wirklich sehr mystisch klingt: die im Vorfeld aufgenommenen realen Klänge der Klarinette, der Harfe, des Violoncellos und des Tamtams, die zu elektronischen Klängen verarbeitet werden. Darüber hinaus der Chor, der aufgenommen und dann elektronisch verändert eingespielt wird. Diese Klänge erscheinen gepaart mit dem realen Klang des Orchesters und Chores oft bei mystischen Ereignissen. Manche Sänger müssen zudem nicht nur von der Bühne, sondern auch von hinter der Szene oder – für das Publikum unsichtbar – im Zuschauerraum singen. Es entstehen Klanglandschaften, die extrem ungewöhnlich sind für klassisch geschulte Ohren. Da Dean jedoch fast nie die Grenzen der tonalen Musik verlässt (wenngleich es Passagen mit sehr komplexer polytonaler Musik und miktrotonale Verschiebungen ähnlich wie bei Georg Friedrich Haas gibt), entstehen Diskrepanzen, kognitive Dissonanzen. Man glaubt zu verstehen, was da gespielt wird, und versteht es dann plötzlich nicht mehr. Um dann wieder zurückzukommen; aus der Realität heraus, und dann zurück in die Realität.
Man taucht als Zuhörer gewissermaßen in ein Hamlet- und Opheliasein ein.
Auch in den König. Ich finde es grandios, wie das königliche Paar gelöst ist. Sie werden nicht nur als Masken, als Typus, sondern als Menschen behandelt. Sogar Claudius, der Unsympathischste von allen, bekommt einen sehr schönen Monolog.
Weiß Gertrud eigentlich, dass ihr neuer Mann ihren ersten Ehemann und Hamlets Vater umgebracht hat?
Meiner Meinung nach, weiß sie es nicht. Sie hätte es wissen können, wollte es aber nicht. Sie verschließt die Augen, bis es zu spät ist.
Wenn Sie heute, sechs Jahre später, auf die Oper und William Shakespeares Werk schauen, haben sich hier Perspektiven verändert?
Shakespeare ist immer ein Thema, und ich habe im vergangenen Jahr, als der Krieg ausbrach, gesagt, dass es kein aktuelleres Stück als Macbeth gibt. Auch in Hamlet gibt es natürlich Anspielungen auf die Politik, auf den sogenannten Staat Dänemark, mit dem Shakespeare nicht Dänemark meint, sondern das damalige England. Und das passt auf sehr viele Zeiten und sehr viele Staaten. Die Engländer erkannten sich damals selber darin, in ihrer Vor-Brexit-Phase 2017. Ich sehe als Russe darin den sowjetischen und jetzt den postsowjetischen Staat. Dieser Stoff hat die russischen Gemüter stets beschäftigt, unter Josef Stalin durften Stücke wie Hamlet, Macbeth und King Lear nicht gespielt werden.
Wir führen dieses Gespräch kurz vor Beginn der mehrwöchigen Probenzeit hier in München. Es wird ein Wiedersehen mit der eigenen Vergangenheit sein, aber auch ein intensiver Prozess, die Produktion aus Glyndebourne ins Heute zu holen.
Ich hole mir meine Vergangenheit hierher nach München zurück, wobei sie quasi reloaded, in eine Hamlet 2.0-Version transformiert wird, wir uns gewissermaßen eine neue Realität erschaffen, gemeinsam mit dem Haus, dem künstlerischen Produktionsteam und den Sängerinnen und Sängern. Auf diesen Prozess freue ich mich sehr.
Das Gespräch führte Laura Schmidt