Loslassen oder Festhalten?
Von: Christopher Rüping
Fotografie: Tealia Eliis Ritter
Lesedauer: ca. 10 Min.
I
Im Januar 2023 fand am Schauspielhaus Zürich eine Veranstaltung statt, die den merkwürdigen Titel „Publikumsgipfel“ trug. Eingeladen war das Publikum der Stadt Zürich, um sich mit den Theatermacher:innen darüber auszutauschen, welche seiner Bedürfnisse sich am aktuellen Programm nicht stillen ließen. Was sich in den zwei Stunden dann ereignete, hatte mit dem Erklimmen irgendeines Gipfels allerdings wenig zu tun – es fühlte sich eher an wie eine mühsame Taldurchschreitung in zerklüftetem Gebiet.
Ziemlich schnell wurde klar, dass es dasPublikum nicht gab – man hatte viel mehr den Eindruck, dass es mindestens zwei Publika waren, die da im Pfauen aufeinandertrafen.
In den ersten Reihen hatten die Abonnent:innen Platz genommen, deren Wortmeldungen sich darum drehten, dass die Einführungen im Foyer akustisch schwer verständlich seien (Stichwort Hörgerät), dass es mehr klassische Inszenierungen ohne Aktualisierungsversuche irgendwelcher Regisseur:innen im Programm bräuchte (Stichwort Werktreue) und, dass die Kommunikation des Hauses die Lust am Theaterbesuch verderbe (Stichwort Gender sternchen, denn – Zitat – : „Das Volk spricht kein woke.“)
Diese Äußerungen wurden aus den hinteren Reihen des Raumes jeweils mit lautstarken Buhrufen und Gelächter quittiert. Dort hatten sich die jüngeren Zuschauer:innen versammelt, die sich vorwiegend daran zu stören schienen, dass auf der Bühne hauptsächlich weiße Männer zu Wort kamen und, dass der Diversitätsagentin Yuvviki Dioh kein größeres Team zur Verfügung gestellt wurde – und natürlich an den Äußerungen ihrer Vorredner:innen aus den Reihen 1-10. Die Demarkationslinie zwischen den beiden Publika verlief zumindest an diesem Abend in ernüchternder Konsequenz an den Kategorien von race, class, gender und age:
„Vorne im Saal saß das alte, reiche, weiße Publikum – in den hinteren Reihen das junge, vermutlich weniger reiche, diverse. Eine Annäherung schien an jenem Abend schwer vorstellbar."
Aber worüber wurde da eigentlich gestritten? Wonach sehnte sich das Publikum der Reihen 1-10? Und warum quittierte das Publikum der Reihen 11-20 diese Sehnsucht mit solchem Unwillen?
Ich rufe den etwa 75-jährigen Herren in den Zeugenstand, der sich gleich zu Beginn der Veranstaltung zu Wort meldete und ein sorgfältig formuliertes Statement verlas, in dem er das Theater umriss, das ihm fehlte: Tschechow – und zwar ganz im Sinne des Autors, also mit dem Ticken der Standuhr, dem Klirren des Porzellans, dem Hahnenschrei aus dem Garten. Mit historischen Kostümen – mit Kleidern, Monokeln und Gehstöcken. Mit Schauspieler:innen, die den Text im Original sprechen, die Gefühle der Figuren voll auskosten und ausspielen.
Aber von welchem Theater schwärmte er da eigentlich? Offensichtlich meinte er nicht das Theater, was man Ende des 19. Jahrhunderts, also zu Tschechows Zeiten und „in seinem Sinne“, hätte sehen können – dieses muss man sich nämlich deutlich weniger naturalistisch und in allen Belangen sehr viel lauter vorstellen. Nein, ich vermute, das Theater, was da beschworen wurde, war das Theater seiner Jugend. Entweder beschrieb er eine konkrete Inszenierung, die ihm besonders im Gedächtnis geblieben war, oder (wahrscheinlicher) einen Querschnitt der Inszenierungen, die ihn für das Theater begeistert hatten, die ihm die Tür in die magische Welt der Bühnenkunst geöffnet hatten.
Und nach diesen Momenten des Staunens, des Zaubers sehnte er sich offensichtlich zurück. Er wollte sie festhalten. Er wünschte sich vom Theater, ein Feuer am Leben zu halten, das Jahrzehnte zuvor entzündet worden war, und an dem er sich nach wie vor zu wärmen gedachte.
II
In ihrem Buch Das Jahr magischen Denkens schreibt die große amerikanische Schriftstellerin Joan Didion über den Tod ihres Mannes. Am 30.12.2003 sackt John Gregory Dunne, mit dem Didion zu diesem Zeitpunkt 39 Jahre verheiratet ist, über dem Esstisch zusammen. Herzstillstand. Eine Stunde später wird er für tot erklärt. Didion erzählt davon, dass sie – zur Verwunderung aller, nicht zuletzt ihrer selbst – vehement auf eine Autopsie besteht. Sie erzählt davon, dass sie die Nachrufe, die in allen großen amerikanischen Zeitungen erscheinen, nicht lesen kann. Sie erzählt, dass sie es auch Monate nach Johns Tod nicht übers Herz bringt, seine Schuhe wegzuschmeißen.
Warum?, fragt sie sich – und beginnt einen Tauchgang in die Untiefen ihres Bewusstseins. Nach und nach gelingt es ihr, sich selbst zumindest teilweise zu entschlüsseln. Sie stellt fest: Auf die Autopsie besteht sie in der irrationalen Hoffnung, dass während dieser festgestellt werden könne, dass doch „noch etwas zu retten“ sei, dass Johns Tod nur ein Missverständnis war und etwa durch einen kleinen operativen Eingriff oder die Umstellung eines Medikaments rückgängig gemacht werden könnte. Die Nachrufe kann sie nicht lesen, weil sie sich sicher ist, dass es John bei seiner Rückkehr nicht gefallen werde, dass sie es anderen erlaubt habe, ihn für tot zu halten. Und seine Schuhe kann sie nicht wegschmeißen, weil John sie natürlich brauchen würde, wenn er zurückkam. „Wenn“ im Sinne von „when“. Nicht von „if“.
„Joan Didion weiß, dass ihr Mann tot ist. Und sie weiß, dass der Tod irreversibel ist, und dass das Leben weitergehen muss. Das ist nur logisch."
Aber ihr Denken in jenem Jahr ist kein logisches Denken. Es ist, wie der Titel ihres Buches schon sagt, ein magisches Denken – und in ihrem magischen Denken regiert die tröstliche Vorstellung, dass John eben doch zurückkehren wird.
Didions Jahr des magischen Denkens liegt zwischen Festhalten und Loslassen, es schafft eine Phase des Übergangs. Irgendwann – ziemlich genau zwölf Monate später – findet diese Phase ihr Ende. Didion liest die Nachrufe. Sie gibt Johns Schuhe weg. Was bleibt ihr auch anderes übrig? Die Halbwertszeit der Magie ist in dem, was wir als „echtes“ Leben bezeichnen, nicht besonders lang. Ein halbes Jahr, ein ganzes vielleicht, maximal zwei – dann wird von jemandem, den wir „gesund“ nennen, erwartet, sich der Welt wieder mit den Werkzeugen der Logik zu widmen. Und die Magie den Büchern, Liedern, Filmen zu überlassen. Und dem Theater.