Ein Jahr mit Krieg und Frieden
Text: Holger Noltze
Holger Noltze ist Autor, Journalist und Fernsehmoderator im Bereich der klassischen Musik. Nach seinem Studium der Alt- und Neugermanistik sowie Hispanistik wurde er mit einer Arbeit über den Parzival-Roman Wolframs von Eschenbach promoviert und war daneben journalistisch im Bereich von Musik- und Literaturkritik in Rundfunk und Presse tätig. Seit 2005 lehrt er als Professor für Musik und Medien / Musikjournalismus an der Technischen Universität Dortmund. Zahlreiche Buchveröffentlichungen, u. a. Liebestod. Wagner, Verdi, wir (Hamburg 2013) und Die Leichtigkeitslüge. Über Musik, Medien und Komplexität (Hamburg 2010). Für die Bayerische Staatsoper gestaltet er die Audiofeatures zu allen Neuproduktionen.
Dicke Bücher
Die Entscheidung, ein dickes Buch zu lesen, so tausend Seiten aufwärts, ist derjenigen zu einer langen Reise vergleichbar. Es sind gewissermaßen Ozeanüberquerungen, es geht nicht schnell, und die zwanghafte Beschleunigung des Lesetempos bringt wenig. Es liegt immer noch unüberschaubar viel vor einem, Eile gibt keinen Sinn. So kann die Entscheidung, sich einen wirklich langen Roman wie Lew Tolstois Krieg und Frieden vorzunehmen, neben der Sorge, ob man es denn „schaffen“ wird, auch eine kleine Euphorie auslösen: Man sticht in See, es kommt etwas Neues, es wird dauern, man wird sich in dem Riesentext verlieren und hoffentlich wiederfinden, man wird eine spürbare Strecke Lebenszeit unsichtbar begleitet von einem endlos scheinenden Erzählfaden, teilt die Aufmerksamkeit für die unabwendbaren Forderungen seines Alltags mit der für eine zweite Welt. Im Abstand zur ersten, der sich daraus ergibt, liegt ein Gewinn an Perspektive. Marcel Prousts Recherche, noch ein Mehrfaches länger als Tolstois Riesenschiff, verändert seine geduldige Leserschaft (die ungeduldige steigt ohnehin bald aus); wir werden trainiert in diesem mikroskopierenden Blick, sei es in Landschaften, Architekturen oder in Soziales. Das Blickvermögen aber bleibt, noch wenn die Lektüre längst abgeschlossen ist, und es ist mehr als bloß ein Nachbild, das verklingen wird. Die Dauer, mit der Prousts oder Tolstois oder Cervantes’ Wortströme durch unser Hirn laufen, ist schon für sich ein Teil ihrer Überzeugungskraft (so wie in Richard Wagners Musikdramen: es geht nicht kürzer), und bleiben nachhaltig wirksam. Darin liegt das große Versprechen dicker Bücher, und es ist das glatte Gegenteil von „Zeitvertreib“. Die schiere Länge sorgt nebenbei auch dafür, dass der schnöde Bildungsimperativ „musst du kennen“/ „muss man gelesen haben“ keine Rolle mehr spielt, spätestens nach hundert Stunden. Es steht nicht dafür.
Anfangen
Zehn Jahre nach Woina i mir (Krieg und Frieden), erschienen 1868/1869, schreibt Tolstoi seinen anderen großen Roman, Anna Karenina, und beginnt ihn mit einem der berühmtesten Sätze der Weltliteratur: „Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; jede unglückliche Familie hingegen ist auf ihre besondere Weise unglücklich.“ Der Satz ist genial, brauchbar als Aphorismus und vor allem die denkbar beste Eröffnung und Einstimmung auf das, was kommt. Mit ein paar Worten und der schlichten, vom Semikolon sanft markierten Unterscheidung eben glücklicher oder unglücklicher Familien hebt er den Lesenden auf eine Art Hochsitz der Betrachtung. So schauen wir in die Welt wie auf ein Wimmelbild, die unendlichen Verstrickungen jener für Tolstoi so zentralen sozialen Maßeinheit der Familie. Das Bild teilt sich in die Glücklichen und die Unglücklichen; das funktioniert, gegen jedes Erfahrungswissen, dass dem so nicht sein kann, schon, weil doch in jedem Glück auch ein Unglück west, und hoffentlich auch umgekehrt. Der offensichtlich gewagte Satz funktioniert also über den Reiz der Vereinfachung, zugleich macht er Leserin und Leser mit sechzehn Worten zu Komplizen des Erzählers und spannt die Erwartung, alles nun Folgende habe sich als Entfaltung und Konkretisierung dieses kühnen Gedankens zu bewähren.
Und wie beginnt Krieg und Frieden? – „‚Eh bien, mon prince: Gênes et Lucques ne sont plus que des apanages, des Landgüter, de la famille Buonaparte.‘“ Es geht noch acht Zeilen französisch weiter, bevor wir wissen dürfen, wer spricht: „Mit diesen Worten empfing im Juli 1805 die bekannte Anna Pawlowna Scherer, Hofdame und Vertraute der Kaiserin Marija Fjodorowna, den einflussreichen ranghohen Fürsten Wassili, der als erster auf ihrer Abendgesellschaft erschien.“ – Statt vom Hochsitz allgemeiner Betrachtung werden wir hier in eine uns eben nicht bekannte Abendgesellschaft katapultiert, kennen die Gastgeberin eben nicht (und werden sie auch viele Seiten später kaum kennenlernen), dem „einflussreichen ranghohen“ Fürsten Wassili werden wir als Vater des vergnügungssüchtigen, liebespolitisch komplizierten, skrupellosen Anatol und der schönen, oberflächlichen Hélène, der dann späteren Gräfin Besuchowa, begegnen. Doch wird die Handlung gar nicht sehr um die Kuragins des Fürsten Wassili kreisen, sondern um die Bolkonskis (Andrej), die Besuchows (Pierre) und die Rostows (Natascha, Nikolai).
Das alles wissen wir Leser der ersten Seite nicht, oder wissen es nur ungefähr aus dem Kino. Zwar fällt in der zweiten Zeile das historische Signalwort „Buonaparte“, aber was es hier mit Genua und Lucca auf sich hat, mit den oberitalienischen Eroberungen des von der russischen Hofdame zum „Antichrist“ ernannten französischen Feldherrn, man weiß es einstweilen nicht. Lange fremdsprachige Zitate, nicht selbsterklärende politische Anspielungen, zunächst unklares Personal: Tolstoi macht es seinem Publikum, anders als im Fall Anna Karenina, hier eben nicht leicht, sondern schwer. Aber auch das ist ein Kunstgriff, eine Vorbereitung auf das, was auf uns zukommt: Es wird noch viel Französisch folgen, allerhand historische Details eines schon zum Zeitpunkt des Schreibens mehr als fünfzig Jahre zurückliegenden Krieges werden vorausgesetzt, und auch der aufmerksame Leser, die genaue Leserin wird immer wieder zum Personenverzeichnis am Ende hin- und zurückblättern müssen. Dort finden sich dann auch all die Namensformen der Hauptfiguren, was nun keine Tolstoi’sche, sondern eine russische Spezialität ist. Pierre wird, je nachdem, eben auch Petruscha genannt, oder Pjotr Kirillowitsch, der junge Besuchow und so weiter. All das klare Verstöße gegen das „KISS“-Mantra des Populären: „Keep it short and simple“ – von wegen …