Von unbekannten Opfern
Viele Jahre später ist eine Paraphrase dieser Worte unter den vielen intertextuellen Verbindungen in Ossip Mandelstams Versen vom unbekannten Soldaten (1937) deutlich zu vernehmen, wo sie die Stimmung und das bürgerliche Ethos des Gedichts bestimmen: „Hungrige, gebrechliche Menschen werden sterben, verhungern, erfrieren“. Der Krieg ist das Gegenteil der eigentlichen Bestimmung des Menschen: „Soll der Schädel so entwickelt werden (…), dass die Truppen nicht umhinkönnen, in seine lieben Augenhöhlen zu strömen?“ Die Erinnerung an die Weltkriege, die in den napoleonischen Schlachten ihren Anfang nahmen (Mandelstam erwähnt Leipzig, Austerlitz, Waterloo), aktualisiert sich in der Erfahrung der Generation des Ersten Weltkriegs, der sowohl Mandelstam als auch Sergej Prokofjew angehörten (beide wurden 1891 geboren), und in der Vorwegnahme der Weltkatastrophe. Paradoxerweise verschwindet bei Mandelstam das Thema des „Feindes“ – das erste Thema eines jeden Krieges, weil er mit jemandem geführt wird. Die Technologien der Massenkriegsführung verwandeln den Teilnehmer von einem Akteur in ein Opfer, in eine Zielscheibe der Niederlage. Auf beiden Seiten der Schlacht sind nur „billige Tote“ zu sehen, Sieg und Niederlage verschmelzen im Raum des Himmels der „Großtötung“. Der Gedanke an sie ruft dazu auf, gegen den Krieg selbst als Missbrauch des Menschen zu protestieren. Die Stimme des Dichters in dem Gedicht, das er selbst als „Oratorium“ bezeichnete und das Nadeschda Mandelstam „ein Dithyrambus an den Menschen, an seinen Intellekt“ nannte, gilt den Unbekannten, den Toten „von Haufen und Haufen“, ohne Mitleid oder Erbarmen, ohne Zahlen, Eigenschaften oder Biografien, deren Leben unterbrochen und unterentwickelt ist, deren Entwürfe nicht verwirklicht werden und deren Namen ausgelöscht sind.
In Tolstois Buch Krieg und Frieden ist die Idee des Krieges als „kumulatives Verbrechen“ deutlich hörbar, insbesondere in der Argumentation von Fürst Andrej. „Krieg ist Mord“, diese Überzeugung prägt er in einem Gespräch mit Pierre am Vorabend der Schlacht von Borodino, in der er tödlich verwundet werden wird. Im Roman ist Fürst Andrej eine der zentralen Figuren, in Prokofjews gleichnamiger Oper ist er die Hauptperson, das Alter Ego des Komponisten: Mit seinen Worten beginnt das Werk. Selbst als der allmächtige Parteifunktionär Michail Chraptschenko, Vorsitzender des Komitees für die Künste, Prokofjew anwies, nicht mit einer „intimen Szene“ zu beginnen, blieb er bei seiner Dramaturgie und fügte lediglich eine Choreinleitung hinzu (die er jedoch vor dem zweiten Teil zu spielen empfahl, wie es auch in unserer Aufführung geschieht). Eine betont persönliche, individuelle Sicht auf den Protagonisten war für ihn offensichtlich von grundlegender Bedeutung.
Otradnoje: „Es ist egal, ob ich existiere oder nicht“
„Heller Frühlingshimmel … Ist es denn nicht eine Täuschung? Gibt es denn Sonne, Frühling und Glück?“ Fast abstrakt scheint dieser Gedanke, dem Andrej hier Worte verleiht; ein so weit entferntes Thema ist die Sonne. Für Prokofjew aber lag er nahe, verdankt doch sein Geburtsort Sonzewka im heutigen Donbass seinen Namen der Sonne. Im Prokofjews Nachlass ist ein merkwürdiges Album erhalten geblieben, gebunden zwischen zwei Holzplatten mit einem exquisiten Metallverschluss. In diesem „Holzbuch“ genannten Album sammelte Prokofjew Autogramme seiner Bekannten, berühmter und weniger berühmter, mit ihrer Antwort auf eine einzige Frage: „Was hältst du von der Sonne?“ Schon in den ersten Worten der Oper ist es, als würde Fürst Andrej seine Antwort in Prokofjews Album schreiben: Er hält die Sonne für eine Täuschung, einen Betrug. Eine paradoxe These, als wolle sie in das kopernikanische Weltsystem eingreifen. Wie können die Sonne, ein astronomischer Körper, und der Frühling ein Schwindel sein? Doch Prokofjew war Anhänger der Christian Science – und die Christlichen Wissenschafter stellten die materielle Realität, ja sogar den Tod selbst radikal in Frage. Aber Fürst Andrej spricht nicht über die physische Realität des astronomischen Körpers. Die Sonne und der Frühling sind für ihn eine Metapher für Glück und Liebe, die ihm – nach seiner schweren Verwundung auf dem Schlachtfeld, dem Tod seiner Frau und dem Zusammenbruch seiner Ideale und Ambitionen – für immer verschlossen scheinen.
Am Ende der Szene hat sich seine Weltsicht bereits geändert: „Nein, das Leben ist nicht zu Ende mit einunddreißig Jahren, es wird nicht unnütz verstreichen. Man muss von ganzem Herzen an die Möglichkeit des Glücks glauben. Man muss an den Frühling und an die Freude glauben, um glücklich zu werden!“ Dieser Wandel scheint sich nur allzu schnell zu vollziehen. In einem realistischen Roman dauert die geistige Wiedergeburt viele Stunden, Tage und sogar Monate. Im Libretto fasst Prokofjew mehrere Episoden des Romans zu einer einzigen zusammen. Keine psychologische Erfahrung im Wagner’schen Sinne, sondern ein intensiver Moment analytischer Geistesarbeit, der für unsere Ohren sicht- und wahrnehmbar ist. In den mentalen Techniken der Christlichen Wissenschaft wie auch in der Kreativität sah Prokofjew die Möglichkeit, die empirische Realität der linearen Zeit zu überwinden, um die Ewigkeit in einem intensiven Augenblick zu sehen. Es gibt diese Momente, in denen man eine höhere Wirklichkeit entdeckt – in der Liebe, in der schöpferischen Tätigkeit, im Sterben. Und eben im Krieg, würde Tolstoi hinzufügen. Was Fürst Andrej widerfährt, ist die Art von geistigem Wendepunkt, den Tolstoi (mit der ursprünglichen griechischen Bedeutung des Wortes) „Epoche“ nennt. So plötzlich sie sich zu ereignen scheint, hat doch das ganze vorangegangene Leben darauf hingearbeitet.
Prokofjew begriff den Moment der psychischen Wende als eine komplexe und perfekte logische Konstruktion. Er komponierte die Szene als Schachspiel (er war ein begeisterter Schachspieler; einmal schlug er sogar den Weltmeister José Raúl Capablanca, worauf er sehr stolz war): Natascha setzt mit demselben Thema ein, mit dem Fürst Andrej begonnen hat, und zwar in denselben Tonarten wie er, nur in umgekehrter Reihenfolge. Sie beginnt, indem sie sein Hauptthema notengetreu aufgreift, in D-Dur, dann in C-Dur (wie in der Orchestereinleitung), dann in Es-Dur, wie in Andrejs erster Einsatzstelle. Andrej meint, dass es ihr egal sei, ob er existiere oder nicht, aber tonal und thematisch antwortet sie ihm und widerlegt durch die Existenz und den Klang ihrer Stimme seine Ängste und Zweifel. Sie gibt ihm die Antworten, die er schon lange sucht und dringend braucht. Sie beginnt mit seinem Thema, emanzipiert sich dann aber und erlaubt ihm, seine Gedanken von außen zu sehen und zu überprüfen. Das tonale Schema führt über die anhaltende Dominante zum Schlusssatz seines Ariosos und legitimiert damit musikalisch diesen plötzlichen Bewusstseinswechsel. Das gesamte Bild wird von der stichfesten Logik der musikalischen Entwicklung gesteuert, das heißt vom Willen des Autors, der auf den Protagonisten projiziert wird, der in vielerlei Hinsicht ein Identifikationsmodell für den Autor ist.
Schon die ersten Worte der Oper, „der lichte Frühlingshimmel“, stehen im Zusammenhang mit dem Krieg. Der Himmel verweist auf die Vergangenheit – es ist der Himmel von Austerlitz, wie ihn Fürst Andrej am Rande des Todes sah, als er schwer verwundet auf dem Schlachtfeld lag. Und das Licht verweist auf die Zukunft, wenn er im Delirium, vor seinem Tod, in Mytischtschi eine luftige Konstruktion aus Nadelstrahlen sehen wird – ein Gebäude, das sich über seinem Gesicht erhebt, eine paradoxe architektonische Metapher für das kristallisierte Licht. Dieses Bild der „Kathedrale der übersinnlichen Kristalle“ taucht in den Gedichten von Ossip Mandelstam auf, die zur selben Zeit wie die Verse vom unbekannten Soldaten entstanden sind. Dort markiert es die existenzielle Situation, die der Dichter als „Knoten des Lebens“ bezeichnet.