„Warum bringen die Menschen einander um?“
Tolstoi und der Krieg
Text: Prof. Dr. Andrei Zorin
Prof. Dr. Andrei Zorin ist Chair (Ordinarius) für Russische Literatur an der Universität von Oxford. Sein Fachgebiet ist die russische Kultur- und Literaturgeschichte im europäischen Kontext, insbesondere die des 18. und 19. Jahrhunderts. Gastprofessuren führten ihn an die Universitäten von Harvard, Stanford, New York und Michigan. Kürzlich erschien von ihm die grundlegende Biografie Leo Tolstoy. A Critical Life (London 2020). Zu seinen weiteren Veröffentlichungen zählen, neben über 150 Artikeln in Fachmagazinen, die Bücher By Fables Alone. Russian Literature and Official Ideology in Late Eighteenth – Early Nineteenth Century (Boston 2014), On the Periphery of Europe, 1762–1825. The Self-Invention of the Russian Elite (mit Аndreas Schönle, DeKalb 2018), The Emergence of a Hero. A Tale of Romantic Love in Russia around 1800 (Oxford 2023, im Druck).
Nicht nur die vielen Verehrer von Lew Tolstoi, sondern auch die Literaturwissenschaftler haben manchmal Schwierigkeiten, seine zwei Gesichter miteinander in Einklang zu bringen: Der junge Artillerieoffizier, der am Kolonialkrieg im Kaukasus und am Krimfeldzug teilnahm, der Autor des berühmtesten Romans der russischen Literatur über den „Volkskrieg“, hat wenig Ähnlichkeit mit dem grauhaarigen Pazifisten, der den Militärdienst als größtes Übel der Menschheitsgeschichte ansah und die Einteilung der Menschheit in Nationalitäten und Rassen ablehnte. Die von dieser kognitiven Dissonanz Geplagten sprechen gewöhnlich von „Widersprüchen“ und sogar von der Existenz „zweier Tolstois“, von denen sich jeder den aussuchen kann, der ihm am besten gefällt.
In der UdSSR wurde Tolstoi offiziell als Klassiker anerkannt. Natürlich betonte die Staatspropaganda die patriotische Komponente von Krieg und Frieden, das Heldentum des Volkes im Widerstand gegen die Angreifer. Während des Krieges mit Hitler wurde der Krieg von 1812 zu einer wichtigen Quelle historischer Parallelen, und der Romanerlangte den Status des wichtigsten russischen Buches. Tolstois pazifistische Ansichten sollten in Vergessenheit geraten oder bestenfalls als Wahnvorstellungen eines einfältigen Genies und schlimmstenfalls als Manifestation von Altersdemenz angesehen werden. Sergej Prokofjews Oper, die zu Lebzeiten des Komponisten nicht aufgeführt werden durfte, wurde allmählich zu einem der Markenzeichen dieser patriotisch-militaristischen Tolstoi-Interpretation. In Putins Russland hat diese Haltung gegenüber dem Erbe Tolstois den Charakter einer unheimlichen Groteske angenommen. Wenige Monate nach Ausbruch des Krieges wurde auf höchster staatlicher Ebene entschieden, den zweihundertsten Geburtstag des Schriftstellers groß zu feiern. Inzwischen werden rechtliche Schritte gegen Blogger eingeleitet, die seine Antikriegsartikel in sozialen Medien zitieren.
Gewalt als Teil des menschlichen Wesens
Nach den Worten des amerikanischen Gelehrten Richard Gustafson ging Tolstoi immer „vom Erlebnis zum Bild und vom Bild zur Idee“. Krieg und Frieden zu verstehen bedeutet, in dem Roman den Keim von Tolstois Philosophie des Nicht-Widerstands gegen das Böse durch Gewalt zu sehen, und es ist unmöglich, die Radikalität dieser Philosophie zu begreifen, ohne Tolstois Auffassung von Gewalt als einem wesentlichen Teil der menschlichen Natur und der sozialen Realität zu verstehen.
Krieg, Mord und Tod haben Tolstoi schon immer beschäftigt. Mit zweiundzwanzig meldete er sich freiwillig zur Armee, die im Kaukasus kämpfte, wo das Kaiserreich jahrzehntelang versuchte, den bewaffneten Widerstand der Bergstämme zu brechen. Im Entwurf zu Der Angriff, der ersten Geschichte, die er während seiner Militärzeit schrieb, fragt ein Offizier mittleren Alters den Erzähler: „Wollen Sie also sehen, wie Menschen getötet werden?“ – „Das ist genau das, was ich sehen will“, antwortet er: „Wie kann ein Mann, der keinen Groll gegen einen anderen Mann hegt, ihn ergreifen und töten, und warum?“ Im endgültigen Text ließ Tolstoi die Frage stehen, entfernte aber die Antwort – die gesamte Handlung der Geschichte ließ keinen Zweifel zu. Die Frage, warum sich Menschen gegenseitig umbringen, war für Tolstoi unlösbar, und er konnte sie ohne seine Kriegserfahrung nicht ernsthaft beantworten. Die Konfrontation mit den Hochländern im Kaukasus war ihm nicht genug. Als der Krimkrieg (1853–56) ausbrach, schrieb er einen Bericht über seine Versetzung in die Armee.
Tolstoi war Artillerist. Das Auftauchen der Artillerie als mächtigste Waffe, die den Ausgang von Schlachten bestimmt – „der Gott des Krieges“, wie sie später genannt wurde – hat die Kriegsführung radikal verändert. Die jahrtausendealte Tradition des Kampfes von Angesicht zu Angesicht gehörte der Vergangenheit an. Nun schickte man dem Feind den Tod, ohne ihn zu sehen. Mehr als einmal wurde Tolstoi Zeuge, wie die Kanonade die an seiner Seite kämpfenden Männer in Stücke riss. Einmal, im Kaukasus, flog eine Kugel auf Tolstoi zu und traf das Rad der Kanone, neben der er stand, explodierte glücklicherweise aber nicht. Er war vielleicht der erste Autor der Weltliteratur, der die Routine des Massenmordes als eine alltägliche, nicht einmal besonders beängstigende Erfahrung ansah und über sie schrieb.
In den Kriegsjahren lasen die Menschen eifrig Krieg und Frieden – um sich selbst zu prüfen. Und sagten sich vermutlich: So geht es mir auch. So ist es. Wer nur lesen konnte, las im belagerten Leningrad Krieg und Frieden, erinnerte sich die Schriftstellerin und Literaturkritikerin Lydia Ginzburg in ihren Erinnerungen eines Blockademenschen. Tolstois wichtigste psychologische Entdeckung war, dass der Mensch in der Lage ist, sowohl seinem eigenen Tod als auch dem Tod anderer gelassen zu begegnen, wenn er seine Persönlichkeit nicht von der Gesellschaft trennt und deren Normen akzeptiert, die selbst so grundlegende Impulse wie den Selbsterhaltungstrieb blockieren. Dies ist nach Tolstoi die gemeinsame Quelle von Heldentum und Grausamkeit.
Soziale Normen können jedoch ihre Berechtigung haben, wenn sie im Kreislauf des menschlichen Lebens verankert sind. Für Tolstoi lebt nur der Mensch, der untrennbar mit dem Land verbunden ist, auf dem er wohnt, von dessen Früchten er sich ernährt und in das er sich nach dem Tod legen wird, sein natürliches Leben. Die Verteidigung des Landes ist für eine solche Person also innerlich motiviert, auch wenn sie mit Gewalt einhergeht. In dieser Hinsicht ist das Heldentum der russischen Soldaten ethisch mangelhaft im Vergleich zum natürlichen Mut der Hochlandbewohner, die keine Erklärungen für ihre Bereitschaft zum Töten und Sterben suchen müssen – sie verteidigen ihre biologische Umwelt gegen Fremde. Eine andere „kaukasische“ Erzählung von Tolstoi, Das Abholzen des Waldes, handelt von dem, was man heute als „Ökozid“ bezeichnet – die russische Armee rodete und verbrannte systematisch Wälder, von denen aus die Hochlandbewohner die russischen Garnisonen beschossen. Ein halbes Jahrhundert später schrieb Tolstoi in seiner letzten vollendeten Erzählung Hadschi Murat über den „Ekel, die Abscheu und die Fassungslosigkeit“ der Tschetschenen angesichts der „absurden Grausamkeit“ der russischen Eroberer. Für die Hochlandbewohner war die Ausrottung „dieser Kreaturen“ als Selbsterhaltungstrieb „so selbstverständlich wie der Wunsch, Ratten, giftige Spinnen und Wölfe zu vertilgen“.
Für den jungen Tolstoi können Soldaten jedoch teilweise dadurch rehabilitiert werden, dass sie ihre Pflicht tun, so wie sie sie verstehen. Ein anderer Fall sind Menschen, die in der Lage sind, den Sinn des Geschehens zu hinterfragen, oder besser gesagt: die nicht in der Lage sind, ihn nicht zu hinterfragen. Wer sich fragt, warum sich Menschen gegenseitig umbringen, muss entweder das Töten verurteilen oder es rechtfertigen. In einem Entwurf zur Erzählung Der Angriff gestand Tolstoi, dass er „mehr daran interessiert war zu erfahren, wie und unter Wirkung welcher Gefühle ein Soldat einen anderen tötete, als an der Aufstellung der Truppen in der Schlacht von Austerlitz oder in der Schlacht von Borodino“. In Krieg und Frieden beschreibt er diese großen Schlachten des 19. Jahrhunderts und verbindet die Gefühle und Gedanken der Beteiligten mit einer Analyse der Disposition der Truppen und einer Erklärung der allgemeinen Kriegsphilosophie.
Die Schlacht von Austerlitz, die mit einer schrecklichen Niederlage endete, wurde von der russischen Armee in einem fremden Land geschlagen. Soldaten und Offiziere, die ehrlich und tapfer ihre Pflicht taten, glaubten, dass sie für die Verbündeten ihres Kaisers sterben mussten. Sie konnten aber keine physische Verbindung zu dem Boden spüren, den sie verteidigen sollten, und unterschieden sich darin nicht wesentlich von den Franzosen, die ihnen gegenüberstanden. In der Schlacht von Borodino hingegen waren es die Russen, die wie die Tschetschenen in den Bergen des Kaukasus ihre natürliche Welt gegen die Eindringlinge verteidigten, und daher war ihr Heldentum nicht nur eine soziale Fähigkeit, sondern eine instinktive, organische Reaktion auf die Invasion einer fremden Macht.