Was immer man unternimmt
Ein Gespräch mit dem Philosophen Boris Groys über Tolstois Geschichtsauffassung und ihren Einfluss auf die russische Mentalität
DAS GESPRÄCH FÜHRTE MALTE KRASTING
Boris Groys, geboren 1947 in Berlin, ist Philosoph, Kunstkritiker, Medientheoretiker, Essayist und international anerkannter Experte für die Kunst und Literatur der Sowjetära, besonders für die Russische Avantgarde. Er studierte Mathematik und Philosophie in Leningrad und gab in den siebziger Jahren illegale Literaturzeitschriften heraus. 1981 verließ er die Sowjetunion. Er lehrte als Gastprofessor unter anderem an der University of Pennsylvania in Philadelphia, an der University of Southern California in Los Angeles und von 1994 an als Professor für Kunstwissenschaft, Philosophie und Medientheorie an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Seit 2005 unterrichtet er als Global Distinguished Professor of Russian and Slavic Studies an der New York University. Zuletzt erschienen von ihm die Bücher Einführung in die Anti-Philosophie (Hanser Verlag), In the Flow (Verso Books), Philosophie der Sorge (Claudius) und Becoming an Artwork (Polity).
Tolstois Erlebnisse im Krimkrieg 1856, jenem Krieg, in dem die Russen gegen das vereinte Europa kämpften, haben bei ihm zu einer totalen Ablehnung von Kriegsideologie und Gewalt geführt
Welche Rolle spielt Lew Tolstoi heute im russischen Geistesleben?
Tolstoi ist einerseits eine zentrale Figur in der russischen Kultur, seine Romane werden in den Schulen gelesen, sein Werk ist sozusagen Basiswissen, vom Anfang des 20. Jahrhunderts über die sowjetische Zeit bis jetzt. Es gehört zu den Grundlagen der Bildung. Andererseits ist er als Persönlichkeit eine komplexe Erscheinung. In seinem späten Schaffen war Tolstoi überzeugter Pazifist. Er hat einige Jahre vor seinem Tod alle seine Romane verdammt, weil er sie für zu „weltlich“ hielt. Er hat eine eigene Religion protestantischen Typus’ entwickelt, auf der Grundlage des radikalen Pazifismus. Er missbilligte die Armee generell und hat sogar dazu aufgerufen, den Kriegsdienst zu verweigern. Aber das war die letzte Periode seines Lebens. Ursprünglich war er selbst Offizier, kämpfte etwa drei Jahre lang im Kaukasuskrieg – in Tschetschenien – und hat darüber eine brillante Erzählung geschrieben: Hadschi Murat. Dieser Erfahrungsbericht ist voller Bewunderung für das tschetschenische Volk; in ihm wird der Titelheld, ein muslimischer Tschetschene, zur Verkörperung des Humanismus. Tolstois Erlebnisse im Krimkrieg 1856 gegen die Engländer und Franzosen, jenem Krieg, in dem die Russen gegen das vereinte Europa kämpften, haben dann bei ihm zu einer totalen Ablehnung von Kriegsideologie und Gewalt geführt, wie es oft passiert mit Menschen, die tatsächlich selbst im Krieg waren. In Krieg und Frieden hat Tolstoi daraufhin Napoleon sehr kritisch als jemanden dargestellt, der an den Krieg glaubt, an Heroismus, an Eroberung; ihm gegenübergestellt ist auf russischer Seite der einfache Soldat Platon Karatajew, der den Krieg und jede Form von Gewalt ablehnt. Die übrigen Hauptpersonen des Romans sind am Ende absorbiert von alltäglichen Vorgängen – was Tolstoi als etwas Erstrebenswertes schildert: Der Schluss des Buches ist eine Panegyrik auf das einfache Familienleben. Das Buch ist also die Geschichte davon, wie ein Eroberer nach Russland kommt, das eigentlich keinen Krieg wünscht und im Grunde gar nicht kämpfen will, und dann in diesem ungeheuren Territorium versinkt, in einer Masse untergeht, die diesen Kriegshelden durch passiven Widerstand dazu bringt, sich selbst zu demontieren. Selbst General Kutusow will keine aktiven Kriegshandlungen.
Ein zweites Beispiel mit derselben Formel ist Fjodor Dostojewskis Roman Schuld und Sühne. Raskolnikow will sozusagen ein neuer Napoleon sein, er wiederholt dieselben Verhaltensmuster und scheitert schließlich – nicht, weil er Gegengewalt erfährt, sondern weil seine Tat in sich selbst kollabiert und er ins Nichts versinkt. Das ist eine typische Einstellung der russischen Literatur in Bezug auf Napoleon und seinen Russland-Feldzug.
Tolstoi meint, dass sich der Gang der Geschichte generell nicht verändern lässt. Diese Überzeugung ist tief in der russischen Geistesgeschichte verankert
Hat Tolstois Geschichtstheorie, mit der er eine Abkehr von der Heldenverehrung propagierte, die russische Philosophie geprägt?
Man kann das so sehen. Der Fehler Napoleons war ja nicht, dass er kein guter Stratege war, sondern dass er Gewalt als Mittel zur Weltveränderung gesehen hat. Napoleon war für weite Teile der russischen Gesellschaft ein Symbol für Revolution, für eine gewaltsame Veränderung des üblichen Ganges der Dinge. In der Tat war Napoleon unbestreitbar ein Produkt der Französischen Revolution, des Glaubens daran, dass man mit Gewalt – als einzelner oder als Gruppe – die Welt verändern kann. Tolstoi zeigt dagegen, dass Gewalt, die von einer kleinen Gruppe ausgeht, in der Welt untergeht, also nicht fähig ist, die Welt zu verändern. Er artikuliert nicht nur Zweifel an der Revolution, sondern weist den Gedanken grundsätzlich zurück, er äußert einen Unglauben an die Revolution, könnte man sagen, einen Unglauben an die Gewalt als Motor der Geschichte. Man darf nicht vergessen, dass Russland philosophisch von Hegel beeinflusst war. Hegel sah in der Französischen Revolution und besonders in der Figur von Napoleon den Höhepunkt der Geschichte. In Russland wurde die Idee, dass Gewalt die Welt verändern kann, als spezifisch westlicher Glaube an die Möglichkeit aktiver Intervention in den Gang der Geschichte aufgefasst. Tolstoi jedoch meint, dass sich der Gang der Geschichte, der Gang des Lebens generell nicht verändern lässt. Keine Anstrengung könne da etwas ausrichten. Diese Überzeugung ist tief in der russischen Geistesgeschichte verankert. Man hatte immer das Gefühl: Was immer man unternimmt, es kommt auf dasselbe heraus. Und Napoleon war Beispiel für jemanden, der sich sehr angestrengt hat, um in den Gang der Dinge einzugreifen. So sind wie Krieg und Frieden und Schuld und Sühne auch viele andere Romane und Essays dieser Zeit zu verstehen. In dieser Überzeugung kommt gewissermaßen das asiatische, das chinesische Element im Russischen zum Vorschein: der Glaube daran, dass weder durch Krieg noch durch Technologie, nicht durch irgendwelche Willensanstrengung der Weltenlauf aus der Fassung zu bringen ist.