Musik als Spiegel der dunkelsten Seiten
Worum geht es in der Oper?
Was mich an dieser Oper fasziniert, ist – gesehen aus der Perspektive unserer heutigen politischen Lage – ein Aspekt, der womöglich gar nicht Krzysztof Pendereckis hauptsächlicher Beweggrund für das Werk war: die Angst der Männer vor der weiblichen Sexualität. Dass Frauen ihr Begehren, ihre Lust, die Erfüllung ihrer eigenen Sehnsüchte frei ausleben könnten, muss furchterregend gewesen sein. Denn das ist etwas, an dem die Männer nicht teilhaben, was sie nicht kontrollieren können. Hamlet sagt zu Ophelia: „Get thee to a nunnery“, geh ins Kloster, weil er von ihrer Liebe zu ihm überfordert ist. Heute, vierhundert Jahre später, wird der Frauenkörper wieder als Waffe in der politischen Debatte missbraucht. Obwohl die Welt in mancherlei Hinsicht fortschrittlicher geworden ist, hat sich das Verhältnis zwischen Männern und Frauen in der jüngeren Zeit eher verschlechtert. Männer und Frauen mögen heutzutage respektvoller miteinander umgehen als in früheren Generationen. Vielleicht ist das auch nur eine Delle in der Kurve, bevor es wieder aufwärtsgeht, aber wir haben weltweit, auch in europäischen Ländern, immer noch ein massives Problem mit Femizid: in Deutschland werden jede Woche zwei bis drei Frauen durch ihren Partner oder Ex-Partner umgebracht. Die USA wollen Abtreibung wieder kriminalisieren, und die Bemühungen um Gleichberechtigung scheinen überall zu stagnieren. Obwohl an den Universitäten inzwischen mindestens so viele Frauen wie Männer studieren, sind Frauen in Führungspositionen weiterhin unterrepräsentiert. Noch immer ist dieser Teil im internationalen Kampf für Frauenrechte nicht beendet, und das macht mir Angst.
In den Teufeln von Loudun wird dieses Thema anhand des Schicksals der jungen Nonnen in den Blick genommen. Das Nonnendasein wurde erfunden, um Töchter adliger Familien, für die man keine passenden Ehemänner fand – weil beispielsweise das Geld für Mitgift oder Brautgeld nicht mehr reichte –, sicher unterzubringen. Im Kloster waren sie versorgt und mit einer Aufgabe versehen, bei der aber ihre Sexualität ausgelöscht wurde. Außerdem gingen viele Frauen, deren Männer gestorben waren, ins Kloster. In jedem Fall war wesentlich, dass die Sexualität abgetötet wurde – sie wurde entweder von vornherein unterdrückt oder für beendet erklärt.
Was hat den Komponisten an diesem Stoff gereizt?
Für Krzysztof Penderecki muss das Sujet, wie er es bei Aldous Huxley fand, verlockend gewesen sein. Schon vorher hat er Musik über Unterdrückung geschrieben, über geheime Gefühle, die irgendwann ans Licht kommen, über die unkontrollierbaren Kanäle im Menschen. Deswegen haben seine Werke das Publikum seit den frühen 1960er Jahren so aufgerüttelt. Auch die Teufel von Loudun bringen das außer Kontrolle geratene Unterbewusstsein zum Ausdruck. Hier geht es um das patriarchale Verlangen, den weiblichen Körper zu beherrschen. Dramaturgisch gesehen ist dieses Thema wie geschaffen für die Musik, wie Penderecki sie damals geschrieben hat. Es ist eine geradezu Freudianische Oper: Je mehr die Begierden und Wünsche der Menschen unterdrückt werden, desto mehr geraten sie in entfesseltes Schreien und Kreischen.
„Wenn man die Karriere einer Person des öffentlichen Lebens sicher zerstören will, muss man etwas Sexuelles verwenden, das wird stets Empörung hervorrufen.“
- Simon Stone
Welche Rolle spielt dabei die politische Unterdrückung?
Die Oper zeigt uns zwei parallele Wirklichkeiten, an denen Grandier beteiligt ist, anhand von zwei Handlungssträngen – als würden wir eine Pyramide von zwei gegenüberliegenden Seiten besteigen und erst an der Spitze zusammentreffen. Der eine Strang rund um die angebliche Besessenheit ereignet sich anfangs komplett ohne Grandiers Wissen. Die Oper eröffnet mit Jeannes Visionen, mit ihrer Sicht auf die Welt und auf den von ihr begehrten Priester. Aber seine einzige Interaktion mit ihr ist, dass er die Einladung, Beichtvater zu werden, ausschlägt – wie er es selbst am Schluss bekräftigt: Er kennt die Menschen nicht, die ihm seine Untaten vorwerfen, er war nie an dem Ort, an dem er angeblich gefrevelt hat. Das Thema der Sexualität ist so etwas wie ein Ablenkungsmanöver, eine falsche Fährte, die das Stück legt. Es demonstriert einen bis heute gültigen Mechanismus. Wenn man die Karriere einer Person des öffentlichen Lebens sicher zerstören will, muss man etwas Sexuelles verwenden, das wird stets Empörung hervorrufen. Aus irgendeinem Grund verknüpfen wir immer noch Sexualität mit Moral.
Der politische Strang entfaltet sich zunächst völlig unabhängig davon. Das Stück beginnt mit Szenen, die wechselweise den einen und den anderen Strang verfolgen. Dramaturgisch ist das raffiniert gebaut: Allmählich kommen sie einander immer näher, bis sie sich gegen Ende des zweiten Aktes überschneiden und dann tatsächlich ineinander verschlungen sind. Das Verhängnis des zweiten Strangs schleicht sich an Grandier heran, und als er es merkt, hat sich die Schlinge schon zugezogen. Was als Nebenhandlung beginnt, wird nach und nach zur Haupthandlung: der Versuch, politische Gegner durch Propaganda auszuschalten – eine Propaganda, die in keinerlei Hinsicht fundiert ist. Aber das ist egal, es müssen nur genügend Leute daran glauben.
Das klingt wie eine unverändert aktuelle Angelegenheit.
Unsere Hoffnung, dass das Internet die Möglichkeit zur Gehirnwäsche tilgen würde, weil es länderübergreifend Zugang zu Informationen bietet, hat sich nicht erfüllt. Genauso, wie seinerzeit Gutenbergs Buchdruck mehr Menschen solchen Zugang ermöglicht hat, hat es ebenso die Tür für Manipulation und Zersetzung geöffnet. Das Internet schafft Vielfalt und Möglichkeiten für Menschen an allen Ecken und Enden der Welt, aber eben auch die Möglichkeit, vielen eine vermeintliche Wahrheit unterzuschieben. Man braucht einfach genügend Traffic auf Twitter und Instagram, dann glauben die Staatsangehörigen selbst einem Diktator. Das ist die Methode, mit der Adam, Mannoury und Konsorten den Leuten ihre Verdächtigungen einpflanzen. Sie setzen damit eine Maschinerie in Gang, die sie später nicht mehr aufhalten können, und sind, wie einige andere Beteiligte auch, letztlich erschrocken über das, was sie angerichtet haben. Selbst Barré, der mit erbarmungsloser Konsequenz sein Amt als Exorzist ausübt, weil er tatsächlich daran glaubt und seiner Überzeugung folgt, dass der Teufel Menschen besetzen kann – sogar noch, als man ihn der Trickserei überführt, hängt er der Vorstellung von Exorzismus und Beichte und Schuldeingeständnis an –, selbst er ist überrascht, dass Grandier daran festhält, für seine Grundsätze einzustehen.
Im Buch von Huxley wird geschildert, wie Grandier sich nach seinen diversen Affären tatsächlich verliebt und dadurch in einen viel größeren Konflikt mit seinem Gelübde gerät, was er durch elaborierte Theorien für sich aufzulösen versucht. Dadurch wird er verletzlicher, womöglich auch nahbarer für Leser und Nachwelt. In der Oper kommt diese Facette nicht vor. Wie wird Grandier trotzdem zu einer Identifikationsfigur?
Grandier befindet sich in einer schweren Krise. Er lebt in einer Welt von Doppelmoral und repräsentiert eine Institution, die lügt. Als Priester findet er keine Erfüllung und empfindet seine Tätigkeit immer mehr als Heuchelei. Wenn man in solch einer Lage überhaupt durch den Tag kommen will, wird man sich ablenken mit weltlichen Dingen, die einem schmeicheln und das Selbstwertgefühl erhöhen. Für Grandier ist das zunächst die Aufmerksamkeit durch jüngere Frauen, bei denen er sich Bestätigung holt, obwohl er weiß, dass das allen Prinzipien der von ihm vertretenen Kirche zuwiderläuft. Das heilt zwar nicht den Selbsthass, aber lindert vorübergehend das Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit. Dass Grandier sein Bedürfnis, gebraucht und begehrt zu werden, so wenig im Griff hat, führt letztlich zu seinem Untergang, weil Jeanne wahrnimmt, dass er vermeintlich mit fast jeder Frau in der Stadt außer ihr ein Verhältnis hat und sie sich aus diesem Gefühl der Isolation in ihren Wahn hineinsteigert.
Grandiers Empfindung, erschöpft, ermattet, übersättigt zu sein, endet erst, als er Mitspieler wird in einem großen politischen Vorhaben, als sich für ihn ein Ziel ergibt, das über ihn selbst hinausweist: nämlich durch den Erhalt der Stadtbefestigung auch die Bedeutung dieser kleinen Stadt zu bewahren und damit die eigene Wichtigkeit zu erhöhen. Das heißt, sich gegen das Bestreben der Monarchie zu stellen, die Paris zur einzigen relevanten Stadt in Frankreich machen will. Von diesem Punkt an, an dem sich Grandier mit d’Armagnac und de Cerisay verbündet, beginnt er die Sympathien des Publikums zu gewinnen. Hier ist er wirklich Partner und Freund auf Augenhöhe, nicht mehr der angehimmelte und gelangweilte Liebhaber. Hier beginnt die Transformation, die in seiner Weigerung gipfelt, zuzugeben, er sei der Teufel – aber sehr wohl im Gespräch mit Vater Ambrose zu gestehen, dass er viel falsch gemacht hat. Für seine eigenen Sünden wäre er bereit zu sterben, aber er wird verbrannt für Taten, die er nie begangen hat. Zur Identifikationsfigur machen ihn seine Willenskraft und die moralische Rechtschaffenheit, mit der er sagt: Ich habe gesündigt, Schuld auf mich geladen, mit Frauen geschlafen, meine Position ausgenutzt, aber ich werde mir mein Leben – oder Sterben – nicht erleichtern, indem ich ein Lügenmärchen von Teufelei erzähle. Denn ich glaube nicht an die Existenz eines Teufels.
Er wird fast zu einem Heiligen, jedenfalls zu einem Märtyrer für die Gerechtigkeit.
In Arthur Millers Theaterstück Hexenjagd werden – ein Jahrzehnt vor den Teufeln von Loudun – erstmals McCarthys Kommunistenverfolgungen thematisiert. Die Hauptrolle John Procter ist eine Figur, die trotz seiner früheren Affäre in gewisser Weise als rein und unschuldig geschildert wird, damit wir seiner Verteidigung gegen die Hexerei-Anschuldigung Glauben schenken. Penderecki räumt seinem Grandier diesen moralischen Vorsprung nicht ein. Er scheint zu argumentieren: Selbst, wenn man ein schwacher Mensch mit Fehlern ist, behält man doch seine grundlegenden Menschenrechte, und man darf nicht einen kleinen Missgriff instrumentalisieren, um jemanden aus dem Weg zu räumen, wie es so oft in tyrannischen, ja selbst in eigentlich rechtsstaatlichen Ländern getan wird. Das wiederum hat natürlich ganz viel mit Pendereckis eigenen Erfahrungen im kommunistischen Polen zu tun.
Das Internet schafft Vielfalt und Möglichkeiten für Menschen an allen Ecken und Enden der Welt, aber eben auch die Möglichkeit, vielen eine vermeintliche Wahrheit unterzuschieben.
- Simon Stone
Die Musik von Penderecki war zu ihrer Zeit revolutionär: mit Tonclustern, Geräuschklängen, einem fast aggressiven Gestus hat sie das Publikum schockiert und fasziniert. Welche Rolle spielt die Musik in dieser Oper?
Es scheint mir einiges über Pendereckis Musik zu sagen, dass man sie in vielen Filmen dazu eingesetzt hat, eine unbehagliche Atmosphäre, ja das Gefühl anwachsenden Wahnsinns zu erzeugen. Das Neue war damals, eine Musik zu verwenden, die umso mehr aufs Melodiöse verzichtet, je mehr sie die wirklich furchteinflößenden Erfahrungen der menschlichen Seele vermitteln soll. Penderecki gehört zu den Komponisten, die eine Musik erfunden haben, die als Spiegel der dunkelsten Seiten des Menschen fungiert.
Die Musik der Oper bis ins frühe 20. Jahrhundert, der italienische Belcanto zumal, bewegt sich meist in einer emotionalen Kurve mit starken Ausschlägen nach oben und unten. Die Temperatur ändert sich dauernd, alles ist im Fluss. Diese Bandbreite hat Penderecki verringert und den Fokus konzentriert. Zur selben Zeit suchte man im Sprechtheater nach Reduktion, wie bei Samuel Beckett oder Eugène Ionesco. Da genügt eine leere Bühne mit drei Menschen, die über das Ende der Welt reden. Auch in der Bildenden Kunst, etwa im Abstrakten Expressionismus, finden wir eine Beschränkung auf grundlegende archetypische Elemente: Konzentration durch Verzicht auf Details. So etwas versucht, trotz der immensen orchestralen Mittel, auch Penderecki. Er lässt es nie hübsch oder herzerwärmend werden. Das mag manche verschrecken, denn man bekommt keine Erleichterung zu spüren. Es gibt in dieser Oper keine Katharsis.
Es ist kein Zufall, dass kein anderer als der Autor eines der ersten dystopischen Science-Fiction-Romane, Schöne neue Welt, auch die Teufel von Loudun geschrieben hat. Aldous Huxley erzählt Geschichten zur Warnung: Lasst uns dafür sorgen, dass so etwas nicht wieder geschehen kann. Wie wenn man vor einem Bild von Hieronymus Bosch steht und die Fülle an grotesken Szenen erst für absurd, fast lachhaft hält, aber dann immer mehr widerliche Details entdeckt. Das war der Zweck des Genres: Seid vorsichtig im Umgang miteinander! Penderecki unterstreicht das so kraftvoll, wie er nur konnte – und wie es nur er konnte. Für mich ist es erhebend, dass jemand eine so wahrhafte, schockierende, unmissverständliche Enthüllung schreibt, wozu der Mensch fähig ist.
Allerdings gibt es ein ausgleichendes Element in dem Stück: die Komik. Die versuchen wir soweit es geht in den Vordergrund zu bringen. Manchmal muss man den Schrecken weglachen. Ein guter Horrorfilm besteht zur einen Hälfte aus Humor und zur anderen aus Horror. So wird das Lachen zur kathartischen Handlung: Zum Glück leben wir noch nicht in einer Welt, wie sie uns in diesem Film oder in dieser Oper vorgeführt wird.
Wie übersetzt man die Geschichte der „Teufel“ von Loudun ins Heute?
Es geht weniger um das Heute als um „Vielleicht heute“ oder „Lasst uns hoffen, dass es niemals heute wird“. Die Handlung entfaltet sich in einer Welt, die denselben Look hat wie unsere, mit denselben Materialien und Oberflächen, mit Gegenständen, die man auch in Münchner Läden kaufen könnte. Die Kostüme entsprechen dem, was die Menschen heutzutage auf den Straßen tragen. Aber wie alle guten Science-Fiction-Geschichten präsentiert sie eine Welt mit einer parallelen Wirklichkeit, in der furchtbare Dinge geschehen, die man noch gar nicht bemerkt hat. Wie in dem Film Matrix existiert auf einer anderen Ebene eine Realität voller Schrecknisse. In den saturierten Spätneunzigern schien diese Vorstellung geradezu absurd, wirklich wie eine Fantasie. Aber jetzt werden auf unserem Kontinent Kriege geführt, in unserer sogenannten zivilisierten Gesellschaft wird die Missachtung von Menschenrechten üblich, und wir erleben Dinge, von denen wir gedacht hätten, dass sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg nie wieder ereignen könnten. Insofern ist diese Oper keine nur potentielle Warnung, denn diese inhumanen Versuchungen drohen uns neuerlich zu infizieren.
In welchem Verhältnis steht die Handlungszeit, die auf historischen Ereignissen beruht, zu den Vorgängen auf der Bühne?
Ich werde oft gefragt, warum ich ein Stück modernisiere, wenn es sich in einem so spezifischen Kontext abspielt. Ich kann dann nur sagen: Entweder geschieht das, was im Stück dargestellt wird, sowieso in unserer Welt, oder es könnte geschehen, und dann müssen wir uns darüber klarwerden. Caravaggio und Rembrandt und viele andere Künstler der Renaissance haben biblische und mythologische Sujets gemalt, in denen die Figuren zeitgenössische Kleider tragen. Keine Gewänder aus dem Jahre 2000 vor Christus, keine römischen Togen, sondern Bekleidung, wie sie im 15. und 16. Jahrhundert üblich war. Rembrandt hat die Geschichten um Jesus so behandelt, als würden sie sich zu seiner Zeit in den Straßen von Amsterdam ereignen. Das war keine Provokation, sondern folgte einfach der Erkenntnis, dass die Geschichten der Bibel ebenso wie die antiken Mythen dazu gedacht sind, für alle Zeiten relevant zu sein, und uns die Frage stellen: Was, wenn wir das sind? Was würden wir tun? Meist ist es erschreckend einfach, zeitgenössische Entsprechungen auch für archaische, atavistische Vorgänge zu finden. Man sollte meinen, dass das zum Beispiel bei Folterszenen schwierig wäre. Leider ist das nicht der Fall. Ich glaube, wir sollten uns in unserem komfortablen bourgeoisen Dasein nicht zu sicher fühlen.