Wiederaufnahme von LA BAYADÈRE:

Die indische Tänzerin Anoosha Shastry im Gespräch

Das klassische Handlungsballett La Bayadère aus dem 19. Jahrhundert ist eines der bedeutendsten Werke im Oeuvre Marius Petipas. 1998 erlebte es unter der Leitung von Gründungsdirektorin Konstanze Vernon beim Bayerischen Staatsballett seine deutsche Erstaufführung in einer überarbeiteten Fassung des französischen Choreographen Patrice Bart. Ende Mai 2023 wird das Stück nun nach fünfjähriger Pause wiederaufgenommen.

Die Handlung ist in einem imaginären Indien angesiedelt. Die choreographischen Elemente der originären Version von Petipa aus den 1870er Jahren orientieren sich an den Sichtweisen, die man zur Entstehungszeit auf das so genannte „Orientalische“ hatte – erfreuten sich orientalistische Motive in den Künsten damals doch einer besonderen Beliebtheit.

Der indische Tanz kommt in der beim Bayerischen Staatsballett gespielten Fassung von Patrice Bart nur in Andeutungen vor. Doch was genau ist eigentlich klassischer indischer Tanz? Welche Formen gibt es, wie wird er gelehrt, wo getanzt und welche Rolle spielt er im modernen Indien?

Grund genug für das Bayerische Staatsballett sich mit der indischen Tänzerin Dr. Anoosha N Shastry einmal genauer über diesen Tanzstil zu unterhalten.

Annette Baumann (AB): Fangen wir am Anfang an, bei der Ausbildung: Wie wird klassischer indischer Tanz unterrichtet? In welchem Alter beginnen die Kinder in der Regel damit?

Anoosha Shastri (AS): Aus medizinischer Sicht ist ein Alter von sechs bis sieben Jahren ideal zum Anfangen. Ab diesem Alter sind die Kinder in der Lage, die Bewegungen zu begreifen und zu koordinieren. Früher zu beginnen ist ungünstig, weil sonst zu viel Druck auf die Füße ausgeübt wird - im klassischen indischen Tanz wird ja viel mit dem Boden, mit dem Element des Stampfens gearbeitet. Der Unterricht baut ganz methodisch auf, erst werden die Schritte und die Haltung gelernt, danach arbeitet man am Ausdruck. Viele machen das einfach für sich, zum Vergnügen. Man kann klassischen indischen Tanz auch an Universitäten studieren. Ich habe zum Beispiel einen Master in klassisch-indischem Tanz, neben einem Uniabschluss in Medizin und einer traditionellen Tanzausbildung, die ich seit mehr als 2 Jahrzehnten absolviere. Inzwischen kann man sogar in die Forschung gehen, da passiert gerade einiges in Indien.

Zu spät fürs Tanzen ist es übrigens nie.

Nur muss man, wenn man in höherem Alter beginnt, natürlich anatomisch mehr aufpassen und etwas langsamer vorgehen.
 

AB: Wie lange dauert denn die Ausbildung, wenn man Profitänzer:in im klassisch indischen Tanz werden möchte?

AS: Es sind mindestens 10 bis 12 Jahre Training nötig, bis man das Niveau hat, selber weiter arbeiten zu können. Aber letztlich hört man nie auf zu lernen. Erst gestern habe ich in Vorbereitung des Workshops beim Bayerischen Staatsballett wieder mit meiner Lehrerin Guru Dr. Mala Shashikanth gesprochen, das mache ich auch nach 2 Jahrzehnten Ausbildung noch.

AB: Gibt es, wenn man Lehrer:in werden möchte, auch eine klassische Tanzpädagogik-Ausbildung?

AS: Es gibt viele Wege, man kann eine entsprechende Ausbildung machen oder auch ganz ohne offizielle Prüfungen unterrichten. Es ist in erster Linie eine Frage des Trainings und der Erfahrung. Es gibt wundervolle Tänzer und auch Lehrer, die nie eine Universität besucht haben. Und natürlich ist das Konzept des Gurus sehr wichtig im indischen Tanz. Wir suchen immer den Rat unseres Lehrers, lernen immer weiter, versuchen das tradierte Wissen lebendig zu halten. Es gibt viele Prüfungen, die man ablegen und auch methodisch nivellieren und zertifizieren lassen kann. Aber die darstellende Kunst kann niemals nur mit Zertifikaten bewertet werden, es braucht Jahre der Übung und Expertise, um Profitänzerin der Lehrerin zu werden. Das ist im klassischen Ballett vermutlich sehr ähnlich.

AB: Im Ballett gibt es ein klares körperliches Limit, mit Mitte/Ende 30 ist in aller Regel Schluss. Gibt es im klassischen indischen Tanz auch eine solche Grenze?

AS: Viele Lehrer und Tänzer, die ich kenne, tanzen bis ins hohe Alter. 80, 85 Jahre ist keine Seltenheit. Die Art und Weise, wie sie auftreten, kann sich je nach körperlichen Fähigkeiten ändern, aber im klassischen indischen Tanz gibt es keine bestimmte Altersgrenze. Der gefühlsbetonte, ausdrucksstarke Teil des Bharathnatyam (einer von acht indischen Tanzstilen, in dem Frau Shaastry ausgebildet wurde, Anmerkung der Redaktion) ist ein Genuss, wenn diese älteren, erfahrenen Tänzerinnen und Tänzer auftreten. Einer meiner Lehrer ist sogar schon 95!

AB: Wie unterscheidet sich der männliche indische klassische Tanz vom weiblichen? Gibt es hier Unterschiede?

AS:  Es sollte keine Unterschiede geben. Im Training jedenfalls nicht. In Bharatanatyam gibt es zum Beispiel vier verschiedene Bewegungsarten. Und in den ursprünglichen, in Sanskrit verfassten Schriften wie Natyashastra steht geschrieben, dass alle vier gleichermaßen von Frauen und Männern ausgeführt werden können. Es steht sogar geschrieben, dass eine der Formen anspruchsvoll ist und nur Tänzerinnen in der Lage sind, solch anspruchsvolle und doch anmutige Bewegungen auszuführen. Auch wenn sich die Ausführung natürlich im Laufe der Zeit und durch die individuelle Interpretation etwas verändert hat. Bestimmte Geschichten und Darstellungen von Personen verändern die Körpersprache im Laufe der Zeit. 

AB: Gibt es auch eine Nomenklatur wie im klassischen Ballett? 

AS: Unsere Nomenklatur basiert auf Sanskrit, genauer gesagt auf dem Natyashastra, einem in Sanskrit verfassten Buch, das sich mit der altindischen Tradition der darstellenden Künste beschäftigt. Jede Haltung, jede Geste ist hier festgeschrieben. Für uns ist es wie eine Bibel des Tanzes.  Aber wir arbeiten auch mit Zahlen, die Rhythmusmuster und Zählungen angeben, und diese Zahlen bedeuten überall auf der Welt das Gleiche. Wenn wir zum Beispiel "drei" sagen, meinen wir Trishra, wenn wir "7" sagen, meinen wir Mishra, eine ganz bestimmte Art, bis drei oder 7 usw. zu zählen, die überall auf der Welt gleich ist. Es ist also eine Kombination aus Begriffen und Zahlen. Beim nicht-narrativen Tanz geht es um Rhythmus und Zyklen, die sich an den Zählungen orientieren und mit bestimmten markanten Endzählungen enden. Für den expressiven, emotionalen Teil haben wir Handgesten, die Mudras genannt werden, Fußarbeit, Kopf-Augen-Hals-Bewegungen, jede einzelne Bewegung wurde in Sanskrit beschrieben und hat einen Namen, der für jeden, der Bharathanatyam studiert und lernt, universell ist.

AB: Die Bewegungen sind kodifiziert, haben eine bestimmte Bedeutung: Sollte der Zuschauer die auch lernen, um indischen Tanz verstehen zu können?

AS: Letztlich geht es im Tanz immer um Emotionen. Ich nutze bestimmte Gesten und Bewegungen, aber was zählt, ist, was wir emotional damit ausdrücken.

Der emotionale Faktor spielt eine immense Rolle im klassischen indischen Tanz.

Es mag vielleicht manchmal helfen, wenn man sich etwas auskennt, zumindest was die Geschichte angeht, die dargestellt wird. Aber wenn der Zuschauer, unabhängig von seinem Wissen über Haltungen und Handbewegungen, die Geschichte versteht, dann haben wir einen guten Job gemacht.
 

AB: Wo treten die Tänzer:innen denn auf?

AS: Es gibt sehr viele verschiedene Orte, an denen Tanz gezeigt wird. Es gibt große Auditorien, kleine Theater, auch der so genannte Living room dance ist etwas, das sich gerade für ein intimes Publikum entwickelt. Auch das Kulturministerium in Indien entwickelt viele Programme, es gibt zahlreiche Programme das ganze Jahr über.

AB: Auf Bewegungsebene: Was sind die Unterschiede bzw. Gemeinsamkeiten zwischen klassischem Indischen Tanz und Ballett?

AS: Bei den nicht narrativen Teilen ist Ballett meist leicht und hat viele Bewegungen in der Luft und ist flexibler,. Beim klassischen indischen Tanz geht es darum, geerdet zu sein, und er ist strukturell etwas schwerer und hat andere Komponenten. Musikalisch folgen beide Formen dem Rhythmus, aber der klassische indische Tanz hat eine eigene Sprache für den Rhythmus und verwendet Texte oder komponierte klassische Lieder für die Aufführungen. Das Ballett hingegen basiert nach meinem Verständnis auf Instrumentalmusik.  Mir ist auch aufgefallen, dass beim klassischen indischen Tanz traditionell nicht viele Requisiten auf der Bühne verwendet werden, es sei denn, es handelt sich um einige neuere Produktionen.

 

AB: Es scheint, als ob Tanz in Indien eine bedeutende gesellschaftliche Rolle spielt?

AS: Ja, Tanz spielt in der Tat eine sehr vitale Rolle in unserer Gesellschaft und hat eine sehr lange Tradition. Es ist jetzt nicht so, dass jeder in Indien tanzt. Aber es gibt insgesamt acht verschiedene Stile im klassischen indischen Tanz und tausende von regionalen Folkloretänzen. Ich bin beispielsweise in Bharatanatyam geschult. Und dann gibt es noch die Tänze der Filmindustrie, die Bollywood-Tänze. Die indische Bevölkerung mag Tanz, Musik, alles was mit den darstellenden Künsten zu tun hat. Deshalb gibt es auch so viele Angebote, überall und praktisch jeden Tag. Die Kunstszene ist in Indien sehr stark, was unsere Kultur zusammen und uns nahe an unseren Wurzeln hält. 
 

AB: Der klassische indische Tanz wurde oft mit religiösen Praktiken in Verbindung gebracht. Welche Rolle spielt denn heute noch die Religion?

AS: Ich würde sagen, das ist eine Frage der Perspektive. Einige der Produktionen, die regelmäßig gezeigt werden, basieren auf mythologischen Stoffen, auf religiösen Inhalten, auf Gebeten. Auf Geschichten, die wichtig für unsere Kultur sind. Man kann das religiös deuten. Aber es steht nirgends geschrieben, dass es ausschließlich um Religion geht. Ich würde in diesem Zusammenhang lieber von Hingabe sprechen, von etwas Spirituellem.

Es geht darum, dass ich Glückseligkeit erfahre, weil ich mit Hingabe tanze.

Autorin: Annette Baumann

LA BAYADÈRE

LA BAYADÈRE IN MÜNCHEN

Hintergründe zum Stück

 

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