Was ist Allmacht und wie weit kann sie gehen?
Text: Prof. Dr. Carl Hegemann
Fotografie: Milena Wojhan
Was ist der Reiz? Warum denken viele, wenn nicht alle Menschen, dass Macht etwas durch und durch Positives ist, wenn man sie hat. Macht zu besitzen ist, im Gegensatz zu der Macht, der man ausgeliefert ist, ein beruhigender Zustand, man fühlt sich gut, weil Macht mit dem Gedanken verbunden ist, dass einem nichts passieren kann. Wenn man sehr mächtig ist, oder sich einbildet, es zu sein, überkommt einen ein ungeheures Wohlgefühl, man fühlt sich wie der Mittelpunkt der Welt. Diejenigen aber, die wenig oder keine Macht haben, bewundern die Mächtigen. Sie beneiden sie und wären gern wie sie. Und wenn sie schon selbst nicht mächtig sein können, dann identifizieren sie sich mit denen, von denen sie annehmen, dass sie es sind und lesen alles über sie. Dafür gibt es extra einen ganzen bunten, analogen und digitalen Zeitschriftenmarkt, der den Zukurzgekommenen das Leben der Mächtigen und Schönen und Reichen nahe bringt. Stimmt die These, dass die Mächtigen nur so mächtig sind, weil die Ohnmächtigen es so wollen? Sicher nicht. Aber dass die Ohnmächtigen in einem erstaunlichen Maße die Macht, der sie ausgeliefert sind, hinnehmen und sich sogar oft mit ihren Unterdrücker:innen identifizieren, lässt sich schwer bestreiten.
Margaret Mahler, eine der Begründerinnen der psychoanalytischen Entwicklungstheorie, behauptet, dass wir, sofern wir aus einem halbwegs intakten Elternhaus stammen, alle einmal sehr mächtig gewesen sind, und zwar in einer frühen Phase unserer Kindheit, die etwa im 10. Lebensmonat beginnt und spätestens nach dem 18. Lebensmonat schon wieder vorbei ist. „Während dieser kostbaren Zeit“, berichtet Mahler, „gehört dem Kleinkind die Welt, und das Kind scheint von seinen Fähigkeiten und der Größe seiner Welt wie berauscht.“ In dieser kurzen “Allmachtsphase“ wird dem Kind, so scheint es, noch jeder Wunsch erfüllt, es braucht nur zu schreien. Es kann es gar nicht anders, als sich wie der Mittelpunkt der Welt vorzukommen, und genießt wie Shakespeares Richard III. den „Frühling seiner Macht“. Mahler beschreibt diese kurze Phase als „die schönste Zeit im Leben“, was vielleicht auch erklärt, warum wir uns später so gerne mit Mächtigen identifizieren. Leider, oder auch Gott sei Dank, kann diese Phase vermeintlicher Allmacht nur von kurzer Dauer sein. Noch vor dem Ende des zweiten Lebensjahres muss das Kleinkind erkennen, dass es nur ein Wesen unter vielen anderen ist, dass andere Leute auch Wünsche haben und dass es im Vergleich zu anderen – auch und gerade zu seinen Eltern –, eine sehr schwache und hilflose Existenz ist. Kaum hat es sich in seiner Allmacht eingerichtet, ist es auch schon wieder vorbei mit ihr, und es beginnt die Disziplinierung, das schmerzhafte Lernen von Ein- und Unterordnung. Die schreckliche Erfahrung, dass man eben nicht allmächtig, sondern ohnmächtig ist, können einem auch die liebevollsten Eltern nicht ersparen. Der ganze Sozialisationsprozess ist eine Anpassung an ein übergeordnetes System, an ein Leben in der Beschränkung, unter der Fuchtel anderer, die die Macht haben. Dieser Verlust der Allmacht in der frühen Kindheit bleibt, zumindest in Mahlers Erzählung, als lebenslanges Trauma bestehen. Wir tragen die vage Erinnerung an eine Zeit umfassender und radikaler Bedürfnisbefriedigung in uns, an eine Zeit, in der wir jeden Morgen begeistert und sorglos aufwachten – bevor sich das Omnipotenzgefühl in Angst verwandelte und das Kind in der „Wiederannäherungskrise“ seine Abhängigkeit und das Ausgeliefertsein gegenüber seinen Bezugspersonen begreift.
Der Anthropologe Eli Sagan glaubt in seinem Standardwerk Tyrannei und Herrschaft herausgefunden zu haben, dass es einige privilegierte Menschen gab, bei denen das anders lief. Menschen, die die glückliche Allmachtsphase nie verlassen mussten, weil sie ihr Leben lang wie ein Kleinkind zwischen dem 10. und 18. Lebensmonat behandelt wurden. Sie wurden nicht unsanft herausgerissen aus diesem Zustand, sondern immer weiter in der Vorstellung bestärkt, sie seien alles und die Welt sei ohne sie nichts, während die umgekehrte Erfahrung, dass die Welt alles und sie selbst nichts sind, sich außerhalb ihres Horizonts befand. Die Könige in den sogenannten komplexen Stammesgesellschaften, die den archaischen Sippenverbänden folgten, werden in Sagans Untersuchung als Personen dargestellt, die in der Allmachtsphase stecken geblieben sind oder festgehalten wurden. Sie durften sich mit selbstverständlicher Zustimmung ihrer Umwelt alles erlauben, so wie das Kleinkind auf dem Höhepunkt seines Narzissmus – und zwar mit der Gewissheit, dass ihnen das nicht nur erlaubt ist, sondern sogar von ihnen er wartet wird. Sagan beschreibt diesen Zustand in den höchsten Tönen: Allmacht ist ein zu blasses Wort, um dem Ideal des Königtums voll gerecht zu werden. Es vermittelt nicht genug von dem traumhaften, poetischen Lebensgefühl, dem keinerlei Grenzen und Restriktionen gesetzt waren, von dem Bewusstsein, in einer Welt zu leben, in der es keine Gesetze der Moral und gegen Inzest gab, nicht einmal ein Schwerkraftgesetz, in der zwischen Wunsch und Tat kein Schatten stand, in der es keine Mäßigung und kein Maß gab, kein „Realitätsprinzip“, eine Welt, in der der eigene Wunsch für jeden anderen Befehl ist und in der man sich über die Realität erheben kann. Nichts ist verboten. Den heftigsten Wutausbrüchen folgen freigiebige Beweise der Großzügigkeit. Alle Frauen der Welt – mit einer einzigen Ausnahme – sind Freiwild für den sexuellen Appetit, ein Kopfnicken und jeder andere muss sterben. Das wichtigste in den Augen ihrer Untertanen ist es, dass diese Könige töten dürfen, wen sie wollen und wann sie wollen. „Nur er hat das Recht uns die Augen auszustechen“, erklären die Anhänger des Königs dem Forscher. Und wenn ein König nicht mehr tötet, machen sich seine Untertanen Sorgen ...