Alle Schattierungen der Moderne
François de Médicis über Stil und Rezeption von Debussys Pelléas et Mélisande
Fotografie von Vic Bakin
François de Médicis über Stil und Rezeption von Debussys Pelléas et Mélisande
Fotografie von Vic Bakin
Die Uraufführung von Pelléas et Mélisande von Claude Debussy in der Pariser Opéra-Comique am 30. April 1902 ist ein zentrales Datum in der Geschichte der modernen Oper und indirekt auch im Leben Debussys. Bis zu diesem Tag hatte der Komponist unter den Liebhabern moderner Musik in Frankreich und Belgien eine gewisse Bekanntheit erlangt. Die Aufführungen seiner beiden Orchesterwerke Prélude à l’après-midi d’un faune (1894) und Nocturnes (Uraufführung als dreiteiliger Zyklus 1901) hatten die Aufmerksamkeit des Publikums der Konzertgesellschaften auf sich gezogen. Aber diese Erfolge waren nicht zu vergleichen mit dem Prestige, das die Uraufführung einer Oper an einem der renommiertesten Pariser Theater mit sich bringen konnte. Eine solche Aufführung bot die Chance auf eine weit größere Sichtbarkeit und erheblich höhere Einnahmen, ein nicht zu verachtender Punkt für einen jungen Komponisten. Die Kombination aus Skandal und Achtungserfolg brachte Debussy tatsächlich sofortiges Ansehen und einen glänzenden Ruf ein, nicht nur in Frankreich, sondern in der ganzen westlichen Welt. Zum Beweis mag die rasche Verbreitung des Werks außerhalb Frankreichs dienen: Brüssel und Frankfurt (beide 1907), New York, Mailand, München, Berlin (alle 1908) usw. Debussy konnte durch diesen Erfolg nach etlichen mageren Jahren seine Finanzen sanieren und seinen Lebensstil erheblich verbessern. Seine neuen finanziellen Mittel erlaubten es ihm, mit Frau und Tochter ein repräsentatives Wohnhaus am Rand des Bois de Boulogne in einem der reichen Viertel von Paris zu beziehen und einen Chauffeur sowie Dienstboten einzustellen.
Seit der Uraufführung von Pelléas et Mélisande wurde über verschiedene musikalische Einflüsse auf das Werk spekuliert: einen Einfluss Richard Wagners, einen Einfluss Modest P. Mussorgskis oder einen der Gamelan-Musik der Insel Java, die Debussy auf der Pariser Weltausstellung 1889 gehört hatte. Die Fixierung auf einen Einfluss Wagners erklärt sich nicht nur aus tatsächlich vorhandenen Merkmalen, von denen noch zu sprechen sein wird, sondern auch aus den Umständen der Uraufführungszeit, in der das französische Publikum gerade eine Phase großer Begeisterung für Wagners Kunst durchlebte. Nachdem man Wagners Opern lange Zeit stolz widerstanden hatte, begannen sie von den 1890er Jahren an die französischen Bühnen triumphal zu erobern. Französische Komponisten warfen sich auf die Komposition von Opern im Stil Wagners, die das breite Publikum eher kalt ließen, wie Gwendoline (1886) von Emmanuel Chabrier oder Fervaal (1897) von Vincent d’Indy. Etwas früher hatte auch Debussy eine Phase fieberhafter Wagner-Begeisterung durchlebt. Am Ende der 1880er Jahre war er, wie er selbst eingestand, „Wagnerianer bis zur Aufgabe der einfachsten Anstandsregeln“ gewesen. Der französische Komponist hatte die Opern Wagners so aufgesaugt, dass er Tristan und Isolde mehr oder weniger vollständig auswendig singen und sich dabei am Klavier begleiten konnte. Das Musiktheater-Konzept, das Debussy in Pelléas entwickelt, verdankt seiner eingehenden Beschäftigung mit Wagner viel, auch wenn es Wagners Konzept entschlossen den Rücken kehrt.
Historische Umstände erklären auch die Diskussionen um den Einfluss Modest P. Mussorgskis. 1908 fiel die Wiederaufnahme von Debussys Oper an der Opéra-Comique zeitlich zusammen mit einer Aufführungsserie von Mussorgskis Boris Godunow (1874) an der Opéra de Paris. Das Rätsel, das die Quellen von Debussys Kunst umgab, schien plötzlich gelöst: die Missachtung von Konventionen, die Kühnheiten in der Harmonie, all das sollte der Komponist Mussorgski verdanken. Auch wenn dieser Befund reichlich übertrieben ist, enthält er doch einen Funken Wahrheit. Zum Beispiel klingt in der musikalischen Charakterisierung von Yniolds kindlicher Welt ein Echo von Mussorgskis Liederzyklus Kinderstube nach, den Debussy sehr bewunderte. Andererseits unterschlägt dieser Befund aber den Einfluss, den andere Persönlichkeiten der russischen Musik auf Debussy hatten, insbesondere Alexander P. Borodin und Nikolai A. Rimski-Korsakow.
1902 boten die Neuheiten von Pelléas et Mélisande dem Publikum Verwirrendes und Erstaunliches auf allen Ebenen: die Orchestrierung des Werks, der Umgang mit der Gesangslinie, die Harmonik, die leitmotivische Organisation und seine Gesamt-Struktur. Die klangliche Raffinesse von Pelléas macht sich die neuesten Erfindungen in der Kunst der Orchestrierung, derjenigen Wagners wie derjenigen der Russen, zu eigen und entwickelt sie weiter: etwa die Verwendung von geteilten Streicherstimmen (die also nicht als große Gruppe alle dasselbe spielen, sondern verschiedene Linien übereinandersetzen), den geheimnisvollen Klang gestopfter Hörner oder die so originelle wie diskrete Verwendung der Schlaginstrumente. Auch wenn Debussy Wagners Parsifal verehrte, äußerte er sich kritisch gegenüber der Orchestrierung seines deutschen Kollegen. Wagners Orchester bevorzuge, so Debussy, eine Verschmelzung der Klangfarben (mit der Mischung kompletter Instrumentenfamilien wie den Streichern und den Holzbläsern, was eine einheitliche Klangmasse hervorbringe). Debussy hält sich lieber an die französische und russische Tradition, die einer Unterscheidbarkeit der Klangfarben den Vorrang gibt, einer Reinheit der Klänge. Daraus resultiert eine Klarheit der musikalischen Ebenen, zwischen denen sich der Gesang mit vollkommener Textverständlichkeit abhebt.
Die orchestralen Möglichkeiten sollen nicht nur das Ohr erfreuen, sondern die Handlung stützen, und mit ihrer Hilfe gelingt es dem Komponisten, noch die vergänglichsten Ereignisse heraufzubeschwören: das Funkeln einer Krone am Grunde des Wassers, das Auffliegen der Tauben vom Turm, ein Ring, der in einen Brunnen fällt, die Bewegung des fließenden und das Faulen des stehenden Wassers. Debussy beschränkt das Orchester dabei nicht auf Effekte in impressionistisch gebrochenen Farben, er kann auch überwältigende Klangstürme entfalten, um das Aufbranden von Golauds Wut nachzuzeichnen.
Die Enthusiasten unter den ersten Hörern des Pelléas wurden niedergeworfen vom subtilen Sinn in Debussys Harmonik und vergingen in mal lieblichen, dann finsteren, dann gewalttätigen oder grellen Akkorden. Mit diesem unerhörten neuen Stil erreichte der Komponist seine völlige künstlerische Reife. Mehrere junge Kompositionsschüler vom Pariser Konservatorium verpassten nach der Uraufführung nicht eine einzige Vorstellung und verteidigten das Werk mit glühender Begeisterung. Aber sie berauschten sich nicht nur an den unkonventionellen Harmonien, sie eigneten sie sich auch an und übernahmen sie in ihre eigenen Kompositionen, auch wenn ihre Professoren vor Empörung tobten. So wurde die Bewegung eines „Debussyismus“ geboren, aus dem einige der vollendetesten Musiker der neuen Generation hervorgingen,
etwa Maurice Ravel oder Florent Schmitt.
Aber mitten in den Neuheiten der harmonischen Sprache des Pelléas tauchen doch hier und da Erinnerungen an einen fremden Stil auf. Für den Übergang von einer Szene in die nächste hatte Debussy einige instrumentale Zwischenspiele vorgesehen. Nach dem Beginn der Proben bat ihn der Direktor der Opéra-Comique, einige Zwischenspiele zu verlängern und noch weitere hinzuzufügen, um den Wechsel der Bühnenbilder zu ermöglichen. Eilig und halbherzig machte sich Debussy an die Arbeit. In diesen Passagen klingen die überraschendsten Reminiszenzen an Wagners Musik, insbesondere an Parsifal, auf. Die Erinnerung an Wagner schwebt auch über dem musikalischen Kontinuum und dem abwechselnden Gesang der Figuren. Debussy setzt ihren Dialog in Musik, er lässt die Stimmen niemals gleichzeitig singen, wie man es traditionellerweise in einer Oper findet. Außerdem folgt seine Musik einem kontinuierlichen Fluss, der sich der Abgeschlossenheit der „Nummernoper“ (also einer Abfolge von einzelnen aneinandergereihten Einheiten wie Arien, Duetten, größeren Ensembles und Chören) verweigert. Bei Letzterem handelt es sich aber auch um die direkte Folge einer weiteren Herausforderung, der sich Debussy stellt, nämlich eine „Literaturoper“ zu schreiben, mithin ein Werk, das Maeterlincks Dramentext direkt vertont, ohne Änderungen außer der Streichung einiger nicht wesentlicher Szenen. Viele Opern basieren auf literarischen Vorlagen, aber in den allermeisten Fällen – etwa bei Jules Massenets auf dem berühmten gleichnamigen Schauspiel von Corneille beruhenden Le Cid (1885) – verwendet der Komponist nicht den originalen Dramentext. Stattdessen schreibt ein Librettist neue Verse, mehr oder weniger nah am Schauspiel, die auf die Vertonung als Oper hin konzipiert sind.
Während die Herausforderung, einen Dramentext direkt zu vertonen, Debussy also dazu brachte, auf ein Prinzip zurückzugreifen, dessen sich auch Wagner bedient hatte, unterscheidet er sich in anderen Punkten von ihm. Der Franzose beschwerte sich, in Wagners Opern werde „zu viel gesungen“. Er meinte, zu lange und zu häufige Aufschwünge des Gesangs blähten Wagners Opern auf und hemmten den dramatischen Fortgang. Debussy erlaubt sich lyrische Ausbrüche selber nur sparsam und nur dort, wo die Situation es erfordert. Auf diese Weise oszilliert seine musikalische Sprache: Am einen Ende der Skala findet sich die nüchterne Rezitation – wenn Geneviève Golauds Brief vorliest, in vielen Gesprächspassagen und, seltener, wenn Golaud in Wut ausbricht. Am anderen Ende der Skala blüht in seltenen Momenten ein rein gesanglicher Ausdruck auf: Mélisandes Kantilene im Turm, Pelléas’ Trunkenheit, wenn er Mélisandes Haar um sich schlingt, oder die Liebesgeständnisse des jungen Paares. Aber auch wenn Debussy eine vielfältige Palette vokalen Ausdrucks zur Verfügung hat, begnügt er sich meist mit einer an das gesprochene Wort angepassten Tonlage. Diese Mäßigung schließt an die französische Tradition an, die Verständlichkeit des Textes durch eine große Sorgfalt in Hinblick auf Prosodie und Sprache in den Vordergrund zu stellen, jedoch bei Debussy mit einer vokalen Zurückhaltung, die niemals zuvor so weit getrieben worden ist.
Man findet in der Partitur – im Orchester, aber niemals im Gesang – wiederkehrende Motive, die eine ähnliche Funktion haben wie Wagners Leitmotive. Einige dieser charakteristischen musikalischen Gebilde sind mit den Hauptfiguren verbunden: Mélisande, Pelléas, Golaud und Arkel. Andere bezeichnen besondere Objekte oder Gefühle wie Mélisandes Ring oder Golauds Rache. Aber Debussy hält Distanz zu Wagner, dem er mit Vehemenz einen zu plumpen Umgang mit den Leitmotiven vorwarf, wie dort, wo ein Leitmotiv überflüssigerweise den Auftritt einer Figur unterstreicht. Bei ihm dagegen erklingt im Orchester, wenn Mélisande Golaud ihren Namen verrät, kein Motiv, sondern ein einfacher, durchsichtiger Akkord, der das Licht symbolisiert, das die junge Frau ausstrahlt. Im Allgemeinen verwendet Debussy seine Motive viel flüchtiger und vieldeutiger als Wagner. Auf diese Weise sind sie der Aufmerksamkeit mehrerer Kritiker bei der Premiere entgangen.
Der Franzose warf Wagner auch vor, den Fortgang des Dramas zu behindern, indem er auf die Leitmotive die Techniken symphonischer Entwicklung anwandte: mehrmalige Wiederholung der Motive auf verschiedenen harmonischen Stufen der Tonart, dann allmähliche Verkürzung des Motivs durch Weglassen einzelner Noten. Debussy selber verzichtet zwar nicht ganz auf die Techniken motivischer Entwicklung, nutzt sie aber nur dort, wo es dem dramatischen Effekt dient. Zum Beispiel erweisen sie sich als ausgesprochen hilfreich, um das allmähliche Anwachsen eines Gefühls von Angst und Panik zu begleiten, wie in der Szene, in der Golaud Yniold zwingt, Pelléas und Mélisande auszuspähen.
In Debussys Werkverzeichnis wird Pelléas das einzige fertiggestellte Musiktheaterstück bleiben, ein Werk ohne Nachfolger. Zwar fasste der Komponist in der Folge verschiedene Stoffe ins Auge und skizzierte mehrere Opern. Aber keine von ihnen sollte es auf die Bühne schaffen. Man hat dieses Unvermögen mit dem Argument erklären wollen, Debussy habe nach Pelléas seine Inspiration nicht wiedergefunden. Aber man sollte dabei im Auge behalten, dass er noch ein dramatisches Werk schrieb, das einen von Grund auf anderen Geist atmet: Jeux (1913), ein Ballett statt einer Oper. Die radikale musikalische Neuheit dieser Partitur in einer Ästhetik, die sich völlig von der in Pelléas unterscheidet, weist auf neue Zeiten voraus, auf die sich eine viel spätere Avantgarde berief, diejenige von Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen.
Nach dem strahlenden Licht, das Opern wie Wagners Götterdämmerung (1876) und Parsifal (1882) oder Verdis Falstaff (1893) warfen, kommt Pelléas et Mélisande die Ehre zu, die Gattung Oper in allen Nuancen der Dunkelheit in die Moderne geführt zu haben. In ihrem Gefolge sollten Richard Strauss’ dunkle Opern Salome (1905) und Elektra (1909), Béla Bartóks beklemmendes Werk Herzog Blaubarts Burg (1919) oder Alban Bergs Wozzeck (1925) auf die Bühne kommen. So zeugt Pelléas wie ein Phönix von der immerwährenden Erneuerungskraft der Oper.
François de Médicis ist Professor für Musikwissenschaft an der Universität von Montreal (Kanada). Sein Spezialgebiet ist die französische und die russische Musik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er forscht neben Claude Debussy zu Komponisten wie Darius Milhaud, Alexander N. Skrjabin, Igor Strawinsky, César Franck und Camille Saint-Saëns. 2020 erschien seine Monographie La maturation artistique de Debussy dans son contexte historique (1884 – 1902) / Debussys künstlerischer Reifungsprozess in seinem historischen Kontext (1884 – 1902), in der er die Entwicklung des Komponisten vom Prix de Rome bis zur Uraufführung von Pelléas et Mélisande nachzeichnet. Er ist Mitherausgeber der Bände Debussy’s Resonance und Musique et modernité en France (1900 – 1945). 2024 schließt er ein Forschungsprojekt über den Einfluss Debussys auf die nachfolgende Komponistengeneration ab.