Inspiriert von den besten Traditionen
Pietro Mascagnis Cavalleria rusticana
Helen M. Greenwald
Foto: Rafael Garcin
Pietro Mascagnis Cavalleria rusticana
Helen M. Greenwald
Foto: Rafael Garcin
ERNEUERUNG DURCH STILWECHSEL
Die künstlerische Welt in Italien in der Zeit nach 1860 wurde beherrscht von Giuseppe Verdi, dessen Musik verkörperte, was es bedeutete, italienisch zu sein. Er war es auch, der die italienische Oper von den Konventionen des primo ottocento genannten ersten Teils seines Jahrhunderts befreite, insbesondere von der cabaletta, dem schnellen, virtuosen Schlussteil einer Arie. Nun mussten junge Opernkomponisten, der musikalischen Formeln der vorangegangenen Epoche entledigt, neue Wege zu einer eigenen Identität finden; sie waren sozusagen Trapezkünstler ohne Sicherheitsnetz. Selbst Giacomo Puccini, der lange als Nachfolger Verdis galt, musste leiden: weniger an seinem Publikum als vielmehr an der Presse, jenen Scharfrichtern des Geschmacks und der vermeintlichen Unverfälschtheit „italienischer“ Musik. Zu sagen, Puccini wäre von der „Vierten Gewalt“ verurteilt worden, wäre noch eine Untertreibung: Kritiker wie Filippo Tomaso Marinetti waren gnadenlos und erklärten, Puccinis Musik dünste „ranzige alte Jahrmarktsmelodien“ aus – „den ekelhaften Gestank von Zuckerwatte und – vor allem – den hoffnungslosen Geruch intellektuellen Abschaums“. Es gab wenige Möglichkeiten für die junge Generation, ihre eigene Nische zu finden. Es kann daher kaum überraschen, dass diese neuen musikalischen Kräfte überlebten, indem sie eine Vereinigung gründeten, die Giovane Scuola, die ihren Dichter- und Schriftstellerfreunden, den Scapigliati („Die Zerzausten“), eng verbunden war. Zu den selbsternannten Revolutionären der Giovane Scuola zählten neben Giacomo Puccini auch Ruggero Leoncavallo, Alberto Franchetti, Alfredo Catalani, Francesco Cilea und Pietro Mascagni.
Sie hatten sich auf die Fahnen geschrieben, die Traditionen und Konventionen der italienischen Musik, insbesondere die der Oper, zu „korrigieren“. Ihre Ideen verbreiteten sie regelmäßig anhand der Zeitung Figaro, die einige Jahre zuvor vom Dichter und Komponisten Arrigo Boito und dem Dichter und Maler Marco Praga gegründet worden war. Boito schrieb auch für die Tageszeitung La Perseveranza; in deren Ausgabe vom 13. September 1863 publizierte er ein Manifest über die Erneuerung des italienischen „Nationalsports“ Oper, vor allem ihrer formelhaften Bestandteile: der Arie, des Rondos, der Cabaletta, des Ritornells – also all jener Segmente mit einem auf Applaus angelegten Schluss. In seinem Plädoyer für eine organische Kompositionsmethode beschwor Boito Richard Wagners Operntheorien: „Die Stunde eines Stilwechsels ist gekommen; die Form, die in den anderen Künsten weitgehend erreicht ist, muss sich auch in unserer entwickeln … Lasst uns ihren Namen und ihren Aufbau ändern und statt Libretto, dem Begriff der konventionellen Kunst, Tragödie sagen und schreiben, wie es die Griechen taten.“ Dieses Ziel sollte durch Anlehnung an ausländische Künstler erfüllt werden, vor allem an Wagner, der vollständige Kontrolle über seine Werke ausübte, indem er nicht nur die Musik, sondern auch seine Libretti selbst schrieb. Eine Untergruppe dieser Bewegung, die vor allem von Schriftstellern und Opernkomponisten gebildet wurde, wird allgemein Verismo– „Wahrhaftigkeit“ – genannt, da dessen Stoffe realistischer und zeitgenössischer Natur waren.
Diese neuartigen Werke des Verismo richteten den Blick auf die Unterschichten, ihre Handlungen spielten oft an Orten, die von Armut geprägt waren, in Städten wie Neapel oder in sizilianischen Dörfern; die Geschichten wurden aus einer quasi wissenschaftlichen, objektiven Perspektive erzählt, die beschreibende Sprache und Sentimentalität mied und stattdessen emotionale Extreme in den Vordergrund rückte. Eine der bekanntesten Hervorbringungen dieser Zeit ist Giovanni Vergas Erzählung Cavalleria rusticana, die er später selbst in ein Theaterstück für die berühmte Schauspielerin Eleonora Duse umarbeitete. Doch Vergas Geschichte ist der Welt heute hauptsächlich in ihrer Gestalt als Oper von Pietro Mascagni bekannt. Mascagni, Sohn einer Bäckerfamilie, zeigte schon früh musikalisches Talent; er lernte Klavier und verschiedene Streichinstrumente, bevor er von 1882 an am Mailänder Konservatorium studierte (1885 brach er sein Studium nach einem Streit mit dem Rektor Antonio Bazzini ab). Mascagnis erste Oper, Guglielmo Ratcliff, war eine blutrünstige Erzählung schottischer Stammeskämpfe und Liebesintrigen und basierte auf Heinrich Heines gleichnamiger Tragödie; Andrea Maffei, ein enger Freund Verdis und Librettist seiner Oper I masnadieri, hatte sie ins Italienische übersetzt. Der Komponist hatte die Arbeit an der Oper jedoch verworfen, als er das Konservatorium verließ, und konnte sie erst 1894 fertig stellen. In der Zwischenzeit, 1884, sah er am Teatro Manzoni in Mailand Vergas Stück Cavalleria rusticana.
KAMPF DER VERLEGER
Wie Mascagni etwa fünfzig Jahre später in seinem Artikel „I quanti anni di Cavalleria“ („Die vielen Jahre von Cavalleria“, in La Domenica del Corriere, März 1940) schrieb, konsultierte er Verga, der ihm die Erlaubnis gab, seinen Text zu verwenden; sein Freund Puccini drängte ihn geradezu, die Oper zu komponieren. Was das Libretto betraf, wandte sich Mascagni an einen anderen Freund, Giovanni Targioni-Tozzetti, der schließlich Guido Menasci mit ins Spiel brachte, um den Text fertigzustellen. Entgegen der romantisierenden Behauptung, die Oper sei in einem spontanen Ausbruch der Inspiration komponiert worden, wie es nach ihrem durchschlagenden Erfolg zirkulierte, gab Mascagni später zu Protokoll, er habe „die Idee zu Cavalleria rusticana mehrere Jahre lang in meinem Kopf gehegt“. Er habe die Oper gerade eben nicht „schnell notiert, wie ein Geistesblitz, in Eile aufgeschrieben, in mir fortsprudelnd wie ein Geschenk Gottes“. Stattdessen betonte er: „Cavalleria kostete mich viel Mühe.“ Diese Mühe erwuchs laut Mascagni großenteils aus seinem Anspruch, eine „ernsthafte“ Oper zu erschaffen. Er hatte zwar bereits das bekannte Intermezzo geschrieben, doch die eigentliche Arbeit kam erst danach: Vergas Schauspiel möglichst nah am Original in ein Stück Musiktheater zu übertragen. (Mascagnis Autograph zeigt, wie heftig er mit Revisionen, Kürzungen und Einschüben um dieses Ziel rang.)
Die nächsten Herausforderungen gingen mit der Veröffentlichung und der Uraufführung einher. Um 1890 befand sich ein Großteil des Operngeschäfts in den Händen der Verlage. Die Verleger zogen die Fäden in diesem komplexen – und oft halsabschneiderischen – Marionettentheater. Das Musikverlagswesen übte so naturgemäß großen Einfluss darauf aus, was und wie komponiert und aufgeführt wurde und welche Werke größere Verbreitung fanden. Jedes der drei großen italienischen Verlagshäuser publizierte auch (mindestens) eine eigene Zeitschrift mit in- und ausländischen Kritiken, Aufführungskalendern sowie Werbung: Gazzetta musicale di Milano (Ricordi), L’Italia musicale (Lucca) und Il Teatro illustrato (Sonzogno). Massive Gewinne wurden mit Aufführungstantiemen, dem Verkauf von Klavierauszügen und diversen Zweitverwertungen der populärsten Themen gemacht: Fantasien, Capricen, Walzer, Hommagen, Divertissements, Souvenirs, Märsche, Quadrillen und weitere Bearbeitungen für alle möglichen Instrumentenkombinationen.
Mascagni wurde schließlich von der Casa Musicale Sonzogno unter Vertrag genommen, einem Musikverlag, den Edoardo Sonzogno aus der familieneigenen Buchdruckerei heraus 1874 gegründet hatte. Die ursprünglichen Ziele der jungen Firma wurden 1873 in der Mai-Ausgabe von Il Secolo kundgetan: monatlich zum Preis von nur einer Lira eine „Sammlung preisgünstiger Meisterwerke der großen Meister“ zu veröffentlichen. Jede Ausgabe sollte „ein Porträt des Komponisten, erläuternde Anmerkungen von Aminatore Galli [dem Künstlerischen Leiter des Verlags] und dazu sowohl ein thematisches Verzeichnis als auch den Gesangstext“ enthalten. Bereits im ersten Jahr offerierte Sonzogno erfolgreich erschwingliche Ausgaben von Werken Gioachino Rossinis, Giacomo Meyerbeers, Vincenzo Bellinis, Gaetano Donizettis, Gaspare Spontinis, Wolfgang Amadeus Mozarts und Daniel-François-Esprit Aubers.
WETTBEWERB ALS MARKETING-TOOL
Sonzogno war auch an jungen Komponisten interessiert und förderte sie durch eine Reihe von vier Wettbewerben (1883, 1888, 1890 und 1902) für neue Operneinakter. Der erste Aufruf wurde im April 1883 im Teatro illustrato platziert, unter der Überschrift: „Incoraggiamento al giovani compositore italiani“ („Ermutigung junger italienischer Komponisten“). Der Stoff der neuen Oper könne „nach Wahl des Bewerbers idyllisch, ernst oder komisch“ sein, und das Preisgeld sollte 2000 Lire und/oder eine Mailänder Produktion des ausgezeichneten Werkes sein. Bereits uraufgeführte Werke würden nicht angenommen und die eingereichten Kompositionen von einer Jury bewertet, der unter anderem der Komponist Amilcare Ponchielli (La Gioconda) und Galli selbst angehörten. Der vielleicht wichtigste Punkt: „Die Musik muss von den besten Traditionen der italienischen Oper inspiriert sein.“ 1883 gewannen die Opern Anna e Gualberto von Luigi Mapelli (auf einen Text von Ferdinando Fontana, der später die Libretti für Puccinis Le villi und Edgar schreiben sollte) und La Fata del nord von Guglielmo Zuelli (Text von Naborre Campani); sie wurden 1884 am Teatro Manzoni uraufgeführt. Keine der beiden Opern erzielte nachhaltigen Erfolg, und der einzige Aspekt, weswegen man sich dieses Wettbewerbs erinnert, ist die Bewerbung Giacomo Puccinis mit seiner (damals noch so genannten) Oper Le Willis, die von vornherein keine Berücksichtigung fand, weil man das Manuskript für unlesbar hielt. (Es mag etwas Wahres daran gewesen: Tatsächlich verfügte Puccini nie über eine leserliche Notenhandschrift.)
Der zweite Wettbewerb Sonzognos, ausgeschrieben im Juli 1888, wurde wieder von Galli nebst mehreren Amtsträgern und Künstlern geprüft, unter ihnen Antonio Ghislanzoni, der das Libretto für Verdis Aida (1871) verfasst hatte. Nicht weniger als 73 Opern wurden eingereicht, die vom Komitee zwei Jahre lang begutachtet wurden, bis es schließlich die Finalisten einlud, sich persönlich vorzustellen. Mascagni sang nervös alle Rollen und begleitete sich selbst am Klavier. Später schrieb er: „Ich trat in einem bemitleidenswerten Zustand vor die Kommission, sodass die Darbietung meiner Oper sehr schlecht ausfiel; meine Hände zitterten, und ich verlor meine Stimme.“
Die Aufregung wurde belohnt: Mascagni gewann, Sonzogno höchstselbst überbrachte ihm die frohe Botschaft. Cavalleria rusticana wurde am 17. Mai 1890 am Teatro Costanzi in Rom uraufgeführt und von der Presse gefeiert. Kritiker Eugenio Checchi erklärte, Mascagni habe „das hohe Ziel der Kunst“ wiederbelebt. Schon in ihrem ersten Jahr wurde Cavalleria rusticana in ganz Europa aufgeführt, von Rom über Stockholm bis Budapest.
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Die Handlung von Cavalleria rusticana ist unkompliziert und richtet sich, mit seinen Themen von Eifersucht und Rache in einem sizilianischen Dorf, unmittelbar an das Innerste des Menschen: Turiddu liebte einst Lola, die sich während seiner Militärzeit Alfio zuwandte und nun mit diesem verheiratet ist. Turiddu tröstete sich für eine Weile mit Santuzza, macht nun aber in Abwesenheit Alfios neuerlich Lola den Hof. Santuzza erzählt Alfio von der Affäre; dieser schwört Rache und fordert Turiddu zu einem Duell heraus. Turiddu nimmt Abschied von seiner Mutter Lucia und stirbt hinter der Bühne mit einem letzten Schrei durch Alfios Hand.
Was diese Geschichte jedoch spezifisch italienisch macht, ist ihre regionale Färbung und die knappe Sprache, wichtige Charakteristika schon in der Vorlage von Verga und auch in anderen Werken seiner Zeitgenossen. Das Innovative an Cavalleria rusticana ist die Ökonomie: wenige Figuren, keine Nebenhandlungen, keine Subtexte, kein „comic relief“. Hier gilt: „What you see is what you get“. Die Atmosphäre von Sex und Gewalt inspirierte Francis Ford Coppola, eine Aufführung dieser Oper in Der Pate III als eine Vorahnung für seine Filmhandlung einzusetzen und mit dem berühmten Intermezzo die erschütternde Montage zu untermalen, die mit Michael Corleones schmachvollem Tod endet.
Trotz des modernen dramatischen Sujets entfaltet sich die Musik von Cavalleria rusticana in einer Folge von Arien, Ensembles und Chören, die lose von Rezitativen verknüpft und von einem stornello (einer Art Volkslied), einem brindisi (einem Trinklied), einer Prozession und einer preghiera belebt werden. Was diese Oper jedoch vor allem auszeichnet, ist die unaufhörliche (manche würden sagen: unbarmherzige) Intensität der Emotionen und der Melodien, die so eindringlich und reichhaltig scheinen, dass der Musikhistoriker Donald J. Grout sie als in einem Zustand der „immerwährenden Schwangerschaft“ bezeichnete – beginnend mit Turiddus Serenade, einer Siciliana, die, nur von einer Harfe begleitet, in das Vorspiel eingebettet ist. Trotz der grundsätzlich pastoralen Natur der Siziliana als Genre stellt Turiddus Lied eher eine Art Urschrei dar, eine Blasphemie sogar, da er es an einem friedlichen Ostermorgen vor der Kirche singt. Turiddu aber ist nicht weniger ein Sohn als ein Liebhaber, und er bittet seine Mutter um ihren Segen, bevor er in den sicheren Tod geht.
Prof. Dr. Helen M. Greenwald ist Autorin zahlreicher wissenschaftlicher Artikel über Vokalmusik des 18. bis 20. Jahrhunderts und hat als Herausgeberin oder Mitarbeiterin die kritischen Editionen von Gioachino Rossinis Zelmira (Fondazione Rossini, 2005), Pietro Mascagnis Cavalleria rusticana (Bärenreiter, in Vorbereitung) und Giuseppe Verdis Attila (Ricordi/University of Chicago Press, 2013) betreut; letztere wurde 2010 von Riccardo Muti bei seinem Debüt an der Metropolitan Opera in New York erstmals aufgeführt. Zu ihren weiteren Veröffentlichungen gehören das Oxford Handbook of Opera (2014) und Programmhefte für internationale Institutionen wie das Boston Symphony Orchestra, das Teatro alla Scala in Mailand, das Teatro Regio in Parma, den Maggio Musicale in Florenz, das Gran Teatre del Liceu in Barcelona, die Bilbao Opera, das Royal Opera House Covent Garden in London, das Glyndebourne Festival und die Metropolitan Opera. Ihr jüngstes Projekt ist eine Monographie über Verdis Rigoletto bei Oxford University Press. Sie unterrichtet Musikwissenschaft am New England Conservatory in Boston.