Mit den Augen eines Fremden

Der Regisseur Francesco Micheli im Gespräch mit Alberto Mattioli

AM Alberto Mattioli
FM Francesco Micheli

Foto:  Mihai Moisa

AM Die beiden Opern Cavalleria rusticana von Pietro Mascagni und Pagliacci von Ruggero Leoncavallo sind innerhalb von zwei Jahren entstanden, Cavalleria 1890 und Pagliacci 1892. Sie wurden nicht als Diptychon konzipiert, aber sind sehr bald zu einem solchen zusammengewachsen, und von diesem Moment an war das Pärchen Cav & Pag eher die Regel als die Ausnahme. Auch in dieser Neuproduktion wird die Tradition aufrechterhalten.
FM Mascagni und Leoncavallo waren zwei moderne Intellektuelle, und der Einakter zu ihrer Zeit eine erfolgreiche Neuerung – wie auch Salome und Elektra von Richard Strauss zeigen –, obwohl Pagliacci in Wirklichkeit aus zwei Akten besteht, wenngleich aus zwei sehr kurzen. Bekanntermaßen ist Mascagnis Oper als Beitrag zu einem Wettbewerb des Verlags Casa Musicale Sonzogno entstanden, bei dem die Komposition einer Oper in einem Akt verlangt war. Italien durchlief damals eine Phase der Umwälzung, nicht nur in musikalischer Hinsicht, sondern auf die Kultur generell bezogen. Der Verismo, wie ein Genre der italienischen Oper heißt, das in Wahrheit viel komplexer ist, wurde als literarische Strömung geboren. Autoren wie Giovanni Verga, dessen Novelle Mascagni als Inspirationsquelle für seine Oper nutzte, oder Federico De Roberto sind die Dostojewskis Italiens. Zum ersten Mal in der italienischen Literatur wurde dem einfachen Volk und den Bauern vor allem im Süden des Landes eine Stimme gegeben – und das in einem historischen Moment, in dem der vom neuen Einheitsstaat auferlegte Militärdienst, die Massenemigration, die Verlockungen der Großstädte und die moderne Zivilisation die archaische Welt der südlichen Landbevölkerung komplett auf den Kopf stellten.

AM Die beiden Opern behandeln also dasselbe Thema.
FM Ja, und aus dem Grund haben wir die Herausforderung angenommen, uns in die Tradition einzureihen und die beiden Stücke als ineinandergreifendes Diptychon zu inszenieren. In unserem Konzept ist Pagliacci die Fortsetzung von Cavalleria rusticana mit demselben Protagonisten, Turiddu/Canio, und beide Opern erzählen letztlich eine zusammenhängende Geschichte. Dabei spielen zwei Elemente eine wichtige Rolle: Das eine ist die Emigration, die Entwurzelung aus dem eigenen Land, der eigenen Kultur. Turiddu musste sein Dorf verlassen, um zum Militär zu gehen, und als er zurückkehrt, erkennt er es fast nicht wieder; Canio und seine Frau sind Wanderkomödianten ohne festen Wohnsitz, die von Ort zu Ort tingeln. Das andere Element ist das tragische Finale: Beide Opern enden im Blutbad, in einer Messerstecherei.

AM Sprechen wir über Emigration.
FM Die Emigration ist eines der großen Themen, um nicht zu sagen: eine der großen Tragödien der jüngeren italienischen Geschichte. Seit der Einigung Italiens und dann wieder nach dem Zweiten Weltkrieg haben Millionen junger Italiener ihre Dörfer im Süden verlassen, um im Ausland oder in Norditalien Arbeit zu suchen. Sie haben regelrecht einen sozialen Tod erlitten. Viele Menschen haben mir erzählt, dass sie lieber gestorben wären, als ihre Heimat zu verlassen. Die Emigration ist ein schwer zu überwindender Schmerz. Und das ist kein Phänomen der Vergangenheit, wenngleich die Zahl der Auswanderer gesunken ist. Viele junge Süditaliener müssen ihr Glück auch heute noch woanders suchen; ich persönlich kenne einige Landsleute, die emigrieren mussten, weil sie zuhause von der Mafia drangsaliert wurden. In unserer Inszenierung wird der Aufschrei „Man hat Gevatter Turiddu umgebracht!“ nicht wörtlich genommen: Es geht uns nicht um Turiddus physischen Tod, sondern um den Verlust seiner Identität, als er endgültig sein Dorf verlassen muss, in dem nun alle gegen ihn sind. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als einen anderen Namen anzunehmen und ins Ausland zu gehen, in diesem Fall nach München. Uns gefiel die Vorstellung vom Diptychon Cavalleria-Pagliacci als die große Saga von Turiddu/Canio, der aus einem Dorf des Nachkriegssizilien kommt und sich in einem fremden Land in einer Stadt im Wirtschaftsboom neu zu etablieren versucht. Die Geschichte also von einem, der auf der Suche nach einer besseren Zukunft die Nabelschnur durchtrennt, die ihn mit der Heimat verbindet, die Geschichte von Tausenden Italienern, die nach Bayern kamen, um hier eine neue Heimat, eine neue Gemeinschaft zu finden. Wie in Verdis Theater ist hier der Held, der Protagonist, Überbringer einer universalen Botschaft: Die Entwurzelung bedingt zwangsläufig eine beinahe existenzielle Entfremdung, was nur zu einem tragischen Ende führen kann – wie in einer Novelle von Verga oder eben bei Dostojewski.

AM Kommen wir zur Handlung der beiden Opern.
FM Man könnte sie als Märchen erzählen: Es war einmal ein guter Sizilianer, Turiddu, der seine Verlobte Lola daheim zurückließ, um in der Fremde Geld zu verdienen, damit er sie heiraten kann. Bei seiner Rückkehr entdeckt er, dass der örtliche Mafiaboss, Gevatter Alfio, sich Lola mit Gewalt genommen hat, wie es bis vor gar nicht langer Zeit durchaus üblich war. Bei der fuitina, dem Brautraub, wurde die Frau vom Mann entführt, vergewaltigt und dann in Form einer sogenannten Wiedergutmachungsehe mit ihm zwangsverheiratet, um ihre Ehre und die ihrer Familie wiederherzustellen. Die erste Frau, die sich dagegen gewehrt hat, indem sie sich der Heirat mit ihrem Vergewaltiger widersetzte, war Franca Viola. Das war 1966, und ihr Schicksal wurde zu einem Meilenstein in der Geschichte der weiblichen Emanzipation in Italien. Um den Mut dieser Frau zu würdigen, haben wir unsere Inszenierung in jene entscheidenden Jahre des sozialen und kulturellen Wandels verlegt. Aber zurück zur Oper: Als Reaktion auf den Verlust der Frau, die er liebt, begeht Turiddu in seiner Verzweiflung einen typischen Racheakt und schwängert die Tochter der Familie, bei der er arbeitet, Santuzza. Er wird also unweigerlich zum Außenseiter und von dem Mann, dessen Ehre er befleckt hat, zum Duell herausgefordert. Turiddu bleibt nichts anderes übrig als wegzugehen und den erstbesten Zug in die Fremde zu nehmen, um sich unter einem neuen Namen ein neues Leben in einem Land aufzubauen, das nicht das seine ist. Turiddu, als Ausgestoßener, „stirbt“ folglich, und Canio wird geboren. Dieses Mal ist der Abschied von der Gemeinschaft, in die er hineingeboren wurde, ein Abschied für immer. Turiddu/Canio kehrt nie mehr nach Sizilien zurück, außer zur Beerdigung seiner Mutter.

AM Und von hier an wird Cavalleria rusticana in Pagliacci „weitererzählt“ …
FM Im Zug trifft Turiddu auf Tonio, auch er ein Auswanderer, der jedoch aus Venetien stammt und in seinem kulturellen Gepäck die Masken und Figuren der venezianischen Commedia dell’arte mit sich führt. Tonio kommt auf die Idee, die Abende in dem italienischen Restaurant, in dem sein in Bayern lebender Cousin Peppe arbeitet, durch Maskenspiele aufzupeppen. Turiddu, der unter seinem neuen Namen Canio ebenfalls einen Job in dem Restaurant findet und sein Scheitern in der Heimat irgendwie kompensieren möchte, mausert sich zur Seele der italienischen Theatertruppe und erzielt große Erfolge bei den abendlichen Darbietungen. Von der Beerdigung seiner Mutter aus Sizilien zurückkommend, lernt er auf dem Bahnhof wieder jemanden mit einem ähnlichen Schicksal kennen: Diesmal ist es eine Frau, die türkische Migrantin Nedda, die wie er aus einer bäuerlichen Kultur der archaischen Rituale und Glaubensvorstellungen stammt. Turiddu/Canio nimmt Nedda bei sich auf und heiratet sie, um mit ihr jenen Traum vom ehelichen Glück zu verwirklichen, der ihm mit Lola nicht vergönnt war. Der einzige ihm bekannte Weg, um diese Bindung zu wahren, ist krankhafte Eifersucht. Canio versucht, sich von seiner Kultur zu befreien, doch schafft es nicht: Er bleibt seiner patriarchalischen Vorstellung von Besitz verhaftet, die in toxische Eifersucht ausartet und ihn bis zum Mord treibt, wobei er dieselbe Demütigung erleidet, die er selbst einst Alfio zugefügt hatte. Canio ist es zwar gelungen, durch seine Flucht aus Sizilien der von der Mafia diktierten Vendetta, der süditalienischen Blutrache, zu entgehen, doch das tragische Paradox besteht darin, dass nun er zum Protagonisten eines Mordes nach bester mafiöser Manier wird. Das Ende dieser Geschichte ist mit blutgetränkter Feder geschrieben.

AM Schauen wir uns die Charaktere einmal näher an: Turiddu/Canio …
FM Der Tenor, der die Rüstung eines Manrico oder Otello abgelegt hat, also nichts mehr mit Verdis Heldentum gemein hat, wird hier zum Clown, um nicht zu sagen: zum Hanswurst. Ein Mann von der Straße, der sich sogar dann lächerlich macht, wenn er versucht, er selbst zu sein. Er verkörpert die Entwurzelung von der Kultur, in die er hineingeboren wurde und in der sich seine Werte herausgebildet haben. Er ist ein Wohnsitzloser, der ständig nach Akzeptanz strebt, aber von der Gesellschaft immer wieder zurückgewiesen wird – bis zu jenem letzten Akt der Rebellion, der ihn endgültig aus der Gemeinschaft ausschließt und seine Natur als Ausgestoßener, Verrückter, Hanswurst bekräftigt.

AM … Santuzza …
FM Das wahrhaft Metaphysische an diesen sogenannten veristischen Opern zeigt sich darin, dass ihre Charaktere fast immer Opfer sind, Individuen, die zerrieben werden von der Macht der Stärkeren, der sie sich nur ergeben können. Santuzza ist Opfer des eifersüchtigen Turiddu, der sie, die Tochter seines Arbeitgebers, aus Rache an Alfio, dem Räuber seiner Braut, schwängert. In einem Sozialgefüge, das die Menschen dazu zwingt, entweder Opfer oder Täter zu sein, wird Santuzza zum Opfer eines anderen Opfers, nämlich von Turiddu. Ihre einzige verzweifelte Antwort ist die Rache, was wiederum in einen Teufelskreis aus Scheitern und Ausschluss führt.

AM … Gevatter Alfio …
FM Ein Sinnbild der Unterdrückung. Er prahlt mit seinem Reichtum, seiner Macht und dem sozialen Status, den er erreicht hat. Ein normaler Arbeiter aus dem Süden würde so etwas nie tun – anders als jemand, der in diese Position mit Hilfe illegaler Methoden gekommen ist, wie sie nun einmal typisch waren im vereinten Italien mit seinen halbstaatlichen, sprich: mafiösen Strukturen, die auf Missbrauch und Gewalt beruhten und hier durch Alfios Schergen repräsentiert werden. Er ist Schutzgelderpresser, der Weinkauf ist nur ein mieser Vorwand. Lucia hat nicht das Geld, ihn zu bezahlen, also muss Turiddu ein erstes Mal in die Ferne gehen, um es zu verdienen (was bei Verga der weit von daheim abzuleistende Militärdienst ist).

AM … Lola …
FM Durch das etablierte Ritual des Brautraubs war sie gezwungen, Alfio zu heiraten. Wie gesagt, erst Mitte der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts haben sich ein paar mutige Frauen gegen dieses System aufgelehnt, indem sie sich gegen die Wiedergutmachungsehe und damit gegen die Gesellschaft und ihre Familien gestellt haben.

AM … Mamma Lucia …
FM Sie ist nicht die pittoreske Figur, für die viele sie halten. Es gibt genug wahre Geschichten von couragierten Müttern, die die Kraft hatten, ihre von der Mafia bedrohten Söhne in die sichere Fremde ziehen zu lassen.

AM In Pagliacci begegnet uns eine Theatertruppe, die geradezu anachronistisch wirkt.
FM In Träumerei, der ersten Geschichte aus Vergas Novellensammlung Landleben, die auch die Erzählung Dörfliche Ehre / Cavalleria rusticana enthält, schildert Verga anhand der Erinnerungen seines Ich-Erzählers das harte Leben der Bewohner eines sizilianischen Fischerdorfs in einer Zeit des kulturellen Umbruchs. Bereits hier spricht er vom „Ideal der Auster“, eine Metapher, die er später in seinem Meisterwerk Die Malavoglia weiterentwickeln wird. Seiner Überzeugung nach sollen „die armen Leute“ auf keinen Fall „den Felsen, auf dem das Schicksal sie ausgesetzt hat“, verlassen, um nicht von dem „gefräßigen Fisch“ verschlungen zu werden, dem Symbol für die Gefahren der Natur, aber auch der sozialen und wirtschaftlichen Zwänge. Die Theatertruppe um Canio versucht nun, mit Hilfe ihres traditionellen Pantomime-Repertoires in einer Gesellschaft zu überleben, die sich mit rasender Geschwindigkeit verändert. Die altüberlieferten Geschichten dieser Italiener, die nur noch die folkloristische Dekoration eines Abends bei Spaghetti und Mandolinenklang sind, wirken in einer ganz auf die modernen Zeiten ausgerichteten Stadt wie München noch antiquierter.

AM Wie fügt sich Nedda hier ein?
FM Nedda ist in unserer Inszenierung eine türkische Immigrantin, die einen älteren Mann geheiratet hat, noch dazu einen so rüden und brutalen wie Canio. Aber nun ist sie in München, einer internationalen Großstadt, und das Anfang der 1970er Jahre, der Hochzeit des Feminismus, der Befreiung der Frau, der sozialen und intellektuellen Revolte gegen die traditionelle Gesellschaft. In gewisser Weise ist es also ganz natürlich und unvermeidlich, dass sie eine Affäre mit Silvio beginnt, dem bayerischen Besitzer des italienischen Restaurants, in dem Canio arbeitet. Silvio repräsentiert einen Typ Mann, der in die städtische Gesellschaft integriert ist und dessen Werte und Verhaltensweisen „moderner“ sind als die ihres Ehemanns. Aber liebt Nedda ihn wirklich? Daran zu zweifeln ist durchaus legitim, genau wie Silvios Vorwurf aus dem Duett, dass sie ihn nicht mehr liebt, ausnahmsweise wörtlich zu nehmen ist. Hier ist beim „Liebesduett“ zwischen Silvio und Nedda von Romanza da Salotto nicht mehr viel übrig: Zwar ist er wirklich verliebt, doch sie sucht vor allem nach einer Fluchtmöglichkeit aus einem Leben, das sie nicht befriedigt. Nedda will sich emanzipieren, wozu auch eine für sie neue sexuelle Freiheit gehört. Diese Sehnsucht nach Freiheit wird extrem deutlich in ihrer Ballatella, in der Metapher des Vogelflugs. Aber durch die Beziehung zu den drei Männern, die sie, jeder auf seine Weise, gerne lieben würden, bleibt ihr diese Freiheit verwehrt. In unserer Inszenierung bleiben die drei nicht von ungefähr immer an ihrem Arbeitsplatz: Canio in der Bar, Tonio in der Küche und Silvio im Büro – an Orten also, an denen in Zeiten vor der Emanzipation typischerweise Frauen arbeiteten. Nedda indessen sehnt sich nach Freiheit, danach, die Welt zu bereisen, ihrer aktuellen Situation zu entfliehen. Bei jedem dieser Männer verhält sie sich anders, aber ohne dabei ihren Wunsch nach weiblicher Freiheit aufzugeben: sexy bei Peppe, ironisch und frech bei Tonio, kokett, aber nicht wirklich verliebt bei Silvio, rebellisch bei Canio. Doch in der Hinterhand hat sie längst eine Fahrkarte nach London, Paris oder Amsterdam, sprich: den emanzipiertesten und freizügigsten Metropolen jener Jahre. Der Job in München, die Ehe mit Canio, die Affäre mit Silvio waren alles nur Etappen auf ihrem Weg in die Freiheit, der mit dem Verlassen der patriarchalischen Türkei, ihrem Geburtsland, begann und erst durch Canios Femizid beendet sein wird.

AM Zu guter Letzt: Tonio.
FM Er ist die personifizierte Erniedrigung: ein Emigrant, der voller Hoffnungen sein Land verlassen hat, aber brutal mit der Realität konfrontiert wird, verraten unter anderem von dem Freund, dem er seine Idee anvertraut hatte und der sich dann als der begabtere Entertainer herausstellte. In seinem Groll und seiner Art, sich zu rächen, zeigt er, dass er Sklave eben jener gewalttätigen Kultur ist, der er entkommen zu sein geglaubt hatte.

AM Wie bringt man all das auf die Bühne?
FM Das tragende Element ist die Idee der Gemeinschaft: einerseits die archaische Gemeinschaft in dem sizilianischen Dorf und anderseits diejenige, die Turiddu in seinem neuen großen „Dorf“ erschaffen will, der Metropole München. Diese zwei so weit auseinanderliegenden Pole jener neuen Welt namens Europa werden verbunden durch den Zug mit seinen Waggons, der sie durchquert. Zwischen den beiden Opern liegen nur wenige Jahre, doch in dieser kurzen Zeit hat sich alles verändert. In Cavalleria rusticana befinden wir uns in einem Sizilien des 20. Jahrhunderts, das jedoch im Stil des antiken griechischen Theaters noch archaische Züge trägt, mit großen Gesten und chorischen Bewegungen. In Pagliacci sieht man den Gegensatz zwischen der Moderne, die auch das Fernsehen als neuen sozialen Klebstoff mit sich bringt, und den Bräuchen und Ritualen des bäuerlichen Italiens, das nicht mehr da ist. Cavalleria ist ganz in Schwarz-Weiß gehalten, eine vergangene Welt, die im Kontrast zu den Technicolor-Farben der frühen Konsumgesellschaft in den mitgebrachten Erinnerungsfotos der Emigranten wieder aufzutauchen scheint. Letzten Endes versuchen auch wir, eine Gruppe italienischer Künstler, die zum ersten Mal an der Bayerischen Staatsoper gastiert, einen fruchtbaren Dialog mit Deutschland aufzunehmen, der die Zugehörigkeit zur Europäischen Union umso wichtiger macht. Unser Stück will auch eine europäische Geschichte sein. In diesem historischen Moment halten wir es für angebracht, jede Form des künstlerischen Ausdrucks dafür zu verwenden, die europäischen Werte zu verteidigen, also das, was uns eher vereint als trennt. Genau wie es die Intellektuellen des italienischen Verismo taten.

AM Mit dem Unterschied, dass der geografische Horizont damals nicht Europa, sondern das vereinte Italien war.
FM „Die Letzten“, von denen Verga, aber auch Mascagni und Leoncavallo sprachen, waren die Opfer der auf sozial-politischer Ebene sehr schwierigen Einigung Italiens, die zwar offiziell im Jahr 1861 vollzogen wurde, in Wirklichkeit aber bis heute nicht abgeschlossen ist und die ebenso positive wie negative Folgen hatte. Dieser problematische, aber notwendige Dialog zwischen dem Norden und dem Süden Italiens wird hier zu einem nicht weniger dringlichen zwischen dem Norden und dem Süden Europas: Im Sinne einer Union, in der jeder seinen Platz hat, der sich an die aus den gemeinsamen Werten abgeleiteten Regeln hält, werden die gewalttätigen Überbleibsel einer überholten Kultur als rückständig gebrandmarkt. Wie schon beim Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert kam es auch nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem schrecklichen Exodus aus Süditalien, als Millionen von Menschen in den Norden zogen. So wie viele europäische Länder hat auch Deutschland, gefestigt durch seine eigene jahrhundertealte Kultur, andere Traditionen aufgenommen und ein gemeinsames Erbe an Werten und Errungenschaften hervorgebracht, das sich Europa nennt. Das Bild von den Komödianten, die ihre alten Geschichten dafür nutzen, um mit der Kraft des Gesangs neuen Gefühlen eine Stimme zu verleihen, scheint uns die perfekte Metapher für die Art von Oper, die wir heute machen wollen.

AM Zumal das Thema Migration aktueller ist denn je.
FM Wir sind Künstler, wir haben keine politische Antwort auf das große Thema der Migration. Es fällt jedoch auf, dass in den Ländern, die mehrere aufeinanderfolgende Migrationswellen erlebt haben, wie den Vereinigten Staaten oder eben Italien, dass gerade dort die Intoleranz und Abneigung gegenüber Fremden immer stärker wird und zu einer Politik der Ausgrenzung, wenn nicht gar der Abschiebung führt. Ich habe viele Migranten der zweiten Generation in Norditalien kennengelernt, deren Eltern seinerzeit den gleichen Weg wie diejenigen zurückgelegt haben, denen sie heute mit Rassismus begegnen. Wie jede Kunstgattung darf auch die Oper nicht museal sein, sondern muss sich mit der Gegenwart auseinandersetzen und uns das Rüstzeug liefern, sie zu verstehen. Unsere Inszenierung von Cavalleria rusticana / Pagliacci soll dabei helfen, die Komplexität dieses so wichtigen und zeittypischen Phänomens zu begreifen, wie ihn der tiefgreifende gesellschaftliche Wandel darstellt – und bei dem Versuch, die Welt mit den Augen eines Fremden zu sehen.

Wie gefällt Ihnen der Artikel?

125 Reaktionen

Alberto Mattioli

Alberto Mattioli schreibt als Journalist für La Stampa, Il Foglio und Quotidiano Nazionale und hat eine monatliche Kolumne in Amadeus. Als Opernexperte hat er für die großen italienischen Theater Programmhefttexte geschrieben und Einführungsvorträge gehalten, darunter das Teatro alla Scala in Mailand, das Teatro La Fenice in Venedig, das Teatro San Carlo in Neapel, das Teatro Regio in Turin, das Teatro Comunale in Bologna, die Opera di Roma, die Arena von Verona, der Maggio Musicale in Florenz und das Verdi-Festival von Parma sowie das Grand Théâtre de Genève und das Opernhaus Zürich. In den vergangenen Jahren war er Dramaturg beim Donizetti Opera Festival in Bergamo. Er hat an der Neuausgabe von Donizettis Convenienze e inconvenienze teatrali mitgewirkt, sechs Libretti geschrieben und zehn Bücher über Musik, Oper und Gesang veröffentlicht. Mit der Neuproduktion von Cavalleria rusticana / Pagliacci in der Spielzeit 2024/25 ist er erstmals als Dramaturg an der Bayerischen Staatsoper tätig.

Cavalleria rusticana / Pagliacci