Von Architekten, Eismachern, Bau- und Fabrikarbeitern
Italienische Arbeitsmigration und der Traum vom Paradies
Axel Körner
Foto: Bundesarchiv, B 145 Bild-F013093-0001 / Unterberg, Rolf
Italienische Arbeitsmigration und der Traum vom Paradies
Axel Körner
Foto: Bundesarchiv, B 145 Bild-F013093-0001 / Unterberg, Rolf
[…] und dann kam das Richtfest, und alle waren blau.
Der Polier, der nannte ihn „Itaker-Sau“.
Das hört er nicht gerne
im Paradies,
und das liegt irgendwo bei Herne
Tonio Schiavo, der zog sein Messer,
Das Schnappmesser war’s aus dem Mezzo-giorno.
Er hieb’s in den harten Bauch vom Polier,
und daraus floss sehr viel Blut und viel Bier.
Tonio Schiavo, den packten gleich vier.
Er sah unter sich Herne,
das Paradies,
und das war gar nicht so ferne.
Und das ist das Ende von Tonio Schiavo,
geboren verwachsen im Mezzo-giorno:
Sie warfen ihn zwanzig Meter hinab. […]
Franz Josef Degenhardt, aus Tonio Schiavo (1967)
DER FALSCHE TRAUM VOM GLÜCK
Franz Josef Degenhardts Ballade Tonio Schiavo erzählt von Träumen und zerstörten Hoffnungen, rassistischen Demütigungen, Gewalt und Gegengewalt. In den 1960er Jahren war er eine der ersten Stimmen, die auf das Missverhältnis zwischen deutschem Wirtschaftswunder und Umgang mit dem Thema Arbeitsmigration hinwiesen. Tonio Schiavo suchte in der Migration das Paradies und fand in ihr den Tod.
Die italienische Oper hat diesen falschen Traum vom Glück in der Ferne immer wieder thematisiert und dabei in der Regel ein desolates Bild der aus Exil und Migration folgenden Lebensumstände gezeichnet. Was in der Nachkriegszeit die italienische Arbeitsmigration nach Frankreich, Belgien und Deutschland war, entsprach in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und nochmals verstärkt um 1900 der Emigration nach Süd- und dann auch bald Nordamerika, weshalb es vor allem mit diesem Reiseziel verbundene Erfahrungen waren, die ihren Weg auf die Opernbühne fanden. Die Neue Welt jenseits des Atlantiks hat in der Oper allerdings wenig mit „dem Land, wo Milch und Honig fließen“ gemein, erlaubte sie doch nur äußerst selten den legendären Aufstieg vom Tellerwäscher zum Millionär, der mehr Mythos als Realität zu sein schien. So lebt beispielsweise die Einwanderergesellschaft der Boston Bay, in Giuseppe Verdis Un ballo in maschera, in einer Welt von Aberglauben, Missgunst und Verschwörungen, die dann in Mord und Totschlag endet. Uraufgeführt wurde die Oper 1859, kurz vor dem Zweiten Einigungskrieg Italiens. Die politische Einigung Italiens und das Verschwinden der alten Staatenwelt der Halbinsel sollte nach den Jahren des vor allem politisch motivierten Exils während des Risorgimentos bald zu neuen Emigrationswellen führen: ausgelöst durch die als despotische Last verstandenen Steuern des neuen Staates, den Krieg Piemont-Sardiniens gegen den Süden, der sich so gar nicht in den Nationalstaat integrieren lassen wollte, und den Militärdienst in einer als fremd empfundenen Armee, von dem in Pietro Mascagnis Einakter Cavalleria rusticana auch der junge Bauer Turiddu desillusioniert zurückkehrt. Zwar versetzte Verdi auf Drängen der Zensur die Handlung von Ein Maskenball ins 17. Jahrhundert zurück, in die englische Kolonialzeit, doch in den Jahren der italienischen Einigung waren die Vereinigten Staaten als gesellschaftliches und konstitutionelles Modell für die im Entstehen begriffene Nation in aller Munde. Gleichzeitig war es jedoch ausgerechnet der musikliebende, republikanisch-demokratische Revolutionär Giuseppe Mazzini, der den Vereinigten Staaten jegliche Legitimation als Modell für Italien absprach: wegen einer angeblich auf puren Materialismus beschränkten Werteordnung des Landes, einer der Idee von Nation widersprechenden föderalen Ordnung und eines auf Sklaverei beruhenden Wirtschaftssystems. Un ballo in maschera wurde in italienischen Theatern regelmäßig in Kombination mit einer Ballettfassung von Harriet Beecher Stowes großem Roman Onkel Toms Hütte aufgeführt. Gerade die Verbindung dieser zwei Perspektiven auf die amerikanische Gesellschaft zeichnete ein verheerendes Bild des Lebens in der Neuen Welt, das Auswanderern und Arbeitsmigranten nur als Warnung vor der Illusion neuen Glücks jenseits des Atlantiks erscheinen konnte. Auch die italienische Presse warnte während dieser Jahre regelmäßig vor den enttäuschenden „greenhorn experiences“ der italienischen Migranten in Amerika, häufig mit Hilfe exotischen Lokalkolorits dramatisch überzeichnet – Erfahrungen, die tatsächlich einen nicht unerheblichen Teil der Italiener nach kurzer Zeit in die Heimat zurückkehren ließen, wenn sie nicht ohnehin mehrfach hin- und zurück pendelten.
Auch Verdis Otello (1887) lässt sich als eine Geschichte missglückter Migration und Integration lesen, die neben dem Femizid die gesellschaftliche Ausgrenzung des Anderen thematisiert. In Giacomo Puccinis lyrischem Drama Manon Lescaut wird die Protagonistin in das amerikanische Louisiana deportiert. Die Liebenden wandern in die britischen Kolonien weiter nördlich aus, doch ihr Traum von der Neuen Welt wird von den ungebändigten Kräften der Natur, die der Idee eines von Zivilisation auf allen Ebenen durchdrungenen Europas diametral widersprechen, zerstört: Manon ist vereint mit ihrem Liebhaber Des Grieux, aber muss die Hoffnung auf ein besseres Leben in der Fremde aufgeben und verdurstet in der Wüste.
DER NOT ENTKOMMEN
Die Uraufführung von Puccinis Oper fand 1893 statt, als Mascagnis Cavalleria rusticana erstmals in Kombination mit Leoncavallos Pagliacci zur Aufführung kam, in einer Zeit, in der die italienischen Regierungen ihre Hoffnung immer mehr darauf setzten, der Armut des Südens und der Unzufriedenheit seiner Bevölkerung mit Anstößen zu Arbeitsmigration innerhalb des Landes oder sogar zur Auswanderung zu begegnen. In Puccinis Fanciulla del West (1910) schließlich zerstört das harte Schicksal der in Kalifornien gestrandeten Goldgräber jegliche Illusion neuen Glücks durch Emigration, obwohl die Oper ausgerechnet in New York mit großem Pomp uraufgeführt wurde. Auch Puccinis Bruder Michele misslang der Schritt, sich in Argentinien beruflich als Komponist zu etablieren. Er wollte in die Fußstapfen unzähliger aus Italien stammender Musiker und Musikerinnen treten, deren Karriere jenseits des Atlantiks ihren entscheidenden Verlauf genommen hatte, doch er verstarb, ohne den großen Erfolg gefunden zu haben, nach wenigen Jahren in Rio de Janeiro an Gelbfieber. Die italienische Oper scheint keine positiven Erfahrungen von Auswanderung und Arbeitsmigration zu kennen. Wie Degenhardts Tonio Schiavo finden ihre Protagonisten das erträumte Paradies erst im Leben nach dem Tod.
Über Generationen hat der italienische Nationalstaat die Arbeitsmigration gefördert, um auf diesem Weg dem demografischen Druck seiner in Armut verharrenden, wirtschaftlich unterentwickelten Regionen zu begegnen. Dies betraf durchaus nicht nur den Süden des Landes, wo die großen Latifundien – nach römischem Vorbild organisierte Landgüter – die Masse der Bevölkerung kaum ernähren konnten. Auch in den von Lohnarbeit oder Halbpacht geprägten Gegenden Mittel- und Norditaliens, nicht zuletzt auf den Inseln, suchten Italiener durch Arbeitsmigration ihrer Not zu entkommen. Ausgehend vor allem von den Hafenstädten und den ans Eisenbahnnetz angeschlossenen Orten suchten mitunter ganze Familien eine bessere Zukunft im Ausland. Genua an der ligurischen Küste wurde so zu einem wichtigen Auswandererhafen. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ging ein überwiegender Teil der Migranten jedoch nicht nach Übersee, sondern nach Frankreich, in die Schweiz und auch nach Belgien, häufig nur saisonweise. Die große Emigrationswelle nach Amerika setzte erst in den Jahren um die Jahrhundertwende ein; sie wandte sich zunächst Richtung Lateinamerika und erst später verstärkt in die Vereinigten Staaten. Zwischen 1876 und 1914 verließen 14 Millionen Italiener ihre Heimat, ein Großteil davon in Richtung Südamerika: Um 1900 waren zwölf Prozent der Bevölkerung Argentiniens italienischer Abstammung.
INNEREUROPÄISCHER AUSTAUSCH
Mit dem Ersten Weltkrieg wechselten neuerlich die Ziele der italienischen Migration. Die Vereinigten Staaten verfolgten eine restriktivere Einwanderungspolitik; und bald versuchte auch das faschistische Regime in Italien, die Emigration einzudämmen. Es brauchte Männer für die Armee, Familien für die afrikanischen Kolonien und Siedler für die Binnenmigration im Zuge der Urbarmachung von Land, auf Sardinien und in Gegenden wie der toskanischen Maremma. Nach dem Zweiten Weltkrieg geriet dann Europa, anknüpfend an eine jahrhundertealte Tradition, wieder verstärkt in den Fokus italienischer Arbeitsmigranten. Bis Mitte der 1970er Jahre verließen erneut über sieben Millionen Italiener ihr Land, wenn auch etwa die Hälfte nach wenigen Jahren in die Heimat zurückkehrte. Während Italien auf diesem bewährten Weg Arbeitslosigkeit und soziale Konflikte einzudämmen versuchte, zudem einen Rückfluss von im Ausland erwirtschaftetem Kapital erhoffte, unterstützten italienische Arbeiter in Nordeuropa auf diese Weise das Wirtschaftswachstum in den prosperierenden Regionen West- und Nordeuropas. Dieser Austausch wurde durch bilaterale Abkommen reguliert und war durch die Errungenschaften der europäischen Integration bald ohne große bürokratische Hürden möglich. Bergbau und Stahlindustrie, die auch schon früher von italienischer Migration profitiert hatten, aber auch die wachsende Autoindustrie waren Nutznießer entsprechender Vereinbarungen. Selbst kleine Staaten wie Luxemburg zogen italienische Migranten an, partiell auch die Länder jenseits des Eisernen Vorhangs, beispielsweise die Tschechoslowakei. 1950 waren in der Bundesrepublik fast 26.000 Italiener registriert, in den 1970er Jahren wuchs die Zahl auf über 600.000 an. Auch wenn das Thema Migration damals schon öffentliche Debatten bestimmte, waren diese Zahlen gering im Vergleich zur italienischen Migration in Richtung Frankreich, das zwischen den 1950er und den 1970er Jahren fast eine Million Italiener (meist sehr viel besser als Deutschland) in ihre neue Heimat integrierte. Für viele dieser Migranten, die von Piemont oder Ligurien über die Grenze kamen, war es ein kurzer Weg nach Frankreich, was den Kontakt mit der Heimat erleichterte und auch die Bildung von Netzwerken in der Ankunftsregion beförderte. In den 1960er Jahren nahm selbst das kleine Belgien mehr italienische Arbeiter auf als Deutschland. Trotzdem gab es in Deutschland auch zu dieser Zeit Selbstwahrnehmungen einer angeblichen Überfremdung, die politisch-ideologisch ausgeschlachtet wurden, teilweise unter direkter Bezugnahme auf Vokabular aus der Zeit des Nationalsozialismus, wobei der „Fremdarbeiter“ nur eines von vielen Konzepten war, die plötzlich wiederbelebt und in einen ganz anderen Kontext übertragen wurden.
Waren es zuvor häufig Norditaliener, die der Heimat den Rücken kehrten, suchten in der Nachkriegszeit zunehmend Arbeiter aus dem Süden ihr Glück im europäischen Ausland. Diese Bewegung erfolgte parallel zur Migration in die Industriezentren Mittel- und Norditaliens, wo die Autofabriken Turins oder die Unternehmen um Städte wie Mailand, Bologna, Florenz oder Bergamo Hunderttausenden Arbeitsplätze boten, wenn auch häufig unter prekären Lebensbedingungen. Arbeitsplätze in der Industrie boten den Migranten aus Süditalien vor allem Berechenbarkeit durch ein garantiertes Einkommen und regulierte Arbeits- und Urlaubszeiten – Bedingungen, die in mitunter harten Arbeitskämpfen erzwungen wurden.
DREHORGELSPIELER UND MARONIRÖSTER
Nicht immer war das Verhältnis zwischen deutscher Mehrheitsgesellschaft und italienischen Migranten so negativ belastet, wie es Degenhardts Ballade erzählt. Deutsch-italienische Migrationserfahrungen reichen weit in die frühe Neuzeit zurück. Dies betraf zu einem nicht unerheblichen Teil auch hochspezialisierte Berufsgruppen wie Steinmetze, Maler und Architekten, ohne die das mitteleuropäische Barock als Stilepoche kaum vorstellbar gewesen wäre. Auch italienische Kaufleute und Bankiers prägten mit ihren Familien das Wirtschaftsleben nördlich der Alpen, und seit dem 18. Jahrhundert belebten aus Italien stammende Operntruppen überall in Europa, aber auch in Südamerika, die Spielzeiten der Theater. Dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts an deutschsprachigen Theatern die Opern Wolfgang Amadeus Mozarts weiter gespielt wurden, verdanken wir ganz entscheidend einer in Böhmen ansässigen, von dem Impresario Domenico Guardasoni geleiteten italienischen Theatertruppe, die regelmäßig für bestimmte Spiel- und Messezeiten über die sächsische Grenze nach Dresden und Leipzig kam. Seit dem 19. Jahrhundert gehörten Berufsgruppen wie die Eismacher zu den Italienern, die in verschiedenen Regionen Europas neue, ihnen eigene Gewerbesektoren etablieren konnten, wobei die Eismacher alle aus der gleichen Region Norditaliens über die Alpen kamen. Beispielsweise zog es Drehorgelspieler und Straßenhändler, darunter die Maroniröster, häufig in die europäischen Nachbarländer. Wurde ihr Gewerbe mit dem Herkunftsland in Verbindung gebracht, war diese Assoziation nicht unbedingt negativ belastet.
In der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft wurde die Akzeptanz von Migranten dadurch gefördert, dass über lange Zeit fast Vollbeschäftigung herrschte; sozial- und tarifrechtlich waren sie den deutschen Arbeitnehmern zudem in der Regel gleichgestellt, weshalb die Neuankömmlinge nicht als billige Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt wahrgenommen wurden. Bis 1970 waren die Italiener die größte Gruppe unter Deutschlands ausländischen Arbeitsmigranten. Von 1955 an erleichterte der Familiennachzug die Integration, obwohl es im Gegensatz zur Situation in Frankreich dem deutschen Schulsystem kaum gelang, sozialen Aufstieg zu unterstützen. Neben der Beschäftigung in der Industrie und im Bergbau arbeiteten Italiener in Deutschland weiterhin wie Tonio Schiavo im Bausektor, aber kaum noch in der immer stärker mechanisierten Landwirtschaft. Auch in der zweiten Generation meist schulisch und beruflich nur unzureichend qualifiziert, wussten sich Italiener in Deutschland als Kleinunternehmer in Sektoren wie der Gastronomie zu etablieren, während italienische Familien in Frankreich häufig größere Unternehmen aufbauen konnten. Auch die Integration italienischer Frauen in den Arbeitsmarkt funktionierte in Frankreich besser als in Deutschland, mit positiven Folgen für das verfügbare Familieneinkommen.
Der im Deutschland der 1960er Jahren noch vorherrschende Fokus auf die aus Italien zuziehenden Arbeitnehmer mit entsprechenden negativen Stereotypisierungen veränderte sich, als verstärkt sogenannte „Gastarbeiter“ aus der Türkei angeworben wurden. Ähnlich war es bereits den sogenannten Italo-Amerikanern ergangen, als zunehmend Migranten aus anderen Weltregionen in die USA einwanderten.
Neue Wellen der Globalisierung, eine verschärfte Sicherheitslage in Folge militärischer Konflikte und nicht zuletzt der Klimawandel und der Kampf um Überlebensressourcen werden unterschiedliche Gruppen der Weltbevölkerung weiterhin in Kontakt miteinander bringen. Seit Tausenden von Jahren ist die Idee ethnisch und kulturell homogener Gesellschaften kaum mehr als eine Fiktion. Das Leben der Menschheit ist eine Geschichte von Kontakten und eine des Austauschs zwischen unterschiedlichen Kulturen.
Axel Körner ist Professor für Neuere Kultur- und Ideengeschichte an der Universität Leipzig und Honorary Professor am University College London, wo er seit 1996 gelehrt hat. Er studierte Geschichte und Musikwissenschaft in Bonn, Berlin, Lyon und Florenz. Gastaufenthalte führten ihn an das Institute for Advanced Study, Princeton, die École Normale Supérieure Paris und das Remarque Institute der New York University. Neben Forschungen zur europäischen Musik- und Operngeschichte im 18. und 19. Jahrhundert arbeitet er zur Geschichte der Habsburgermonarchie, zum modernen Italien und zu transatlantischen Verflechtungen. Sein Buch America in Italy. The United States in the Political Thought and Imagination of the Risorgimento, 1763–1865 (Princeton 2017) wurde mit dem Marraro-Prize der American Historical Association ausgezeichnet. Mit Paulo M. Kuehl veröffentlichte er den Band Italian Opera in Global and Transnational Perspective: Reimagining Italianità in the Long Nineteenth Century (Cambridge 2022). Momentan leitet er ein vom European Research Council finanziertes Projekt zur Rolle der Oper in der Habsburgermonarchie.