Wahrer als wahr
Ruggero Leoncavallos Blick auf den „wilden Süden“ Italiens
Anselm Gerhard
Foto: Angy Iano
Ruggero Leoncavallos Blick auf den „wilden Süden“ Italiens
Anselm Gerhard
Foto: Angy Iano
CUM GRANO SALIS
Mit Pagliacci versuchte der damals 35-jährige Ruggero Leoncavallo, an den Erfolg von Cavalleria rusticana anzuknüpfen, den sein Konkurrent Mascagni zwei Jahre zuvor erzielt hatte. Seine erste aufgeführte Oper erwies sich für den bis dahin völlig unbekannten Komponisten als Volltreffer. Seither werden die beiden Kurzopern als siamesische Zwillinge wahrgenommen. Mascagnis Vorlage, Giovanni Vergas gleichnamige Novelle, gilt als Manifest des Verismo. So lag es für Leoncavallo nahe, auch sein Werk dieser italienischen Spielart des Realismus einzuschreiben. Er fabulierte, die Handlung von Pagliacci zeichne einen realen Kriminalfall nach, der sich ein Vierteljahrhundert zuvor in Kalabrien zugetragen habe. Oder wie es Tonio in seinem Prolog bei geschlossenem Vorhang formuliert: „Ed al vero ispiravasi“, der Autor habe sich vom „Wahren inspirieren“ lassen.
Das einzige Körnchen Wahrheit in dieser Legende findet sich im Umstand, dass Leoncavallos Vater 1865 in Montalto Uffugo über einen Mord zu richten hatte. Der damals noch nicht achtjährige Leoncavallo hatte das Mordopfer als Hausangestellten gekannt. Von Komödianten keine Spur. Verantwortlich war überdies nicht eine Einzelperson, sondern ein Brüderpaar. Ermordet wurde nicht eine Frau, sondern „nur“ der Rivale um deren Gunst. Und zwar am 5. März, nicht in sommerlicher Hitze am Marienfest des 15. August. Nüchtern betrachtet haben Pagliacci und dieses Verbrechen nur eine Gemeinsamkeit: Eifersucht, ein nicht gerade seltenes Motiv in der Kriminalstatistik.
Ebenso gut hätte Leoncavallo auf Georges Bizets Carmen, Mascagnis Cavalleria rusticana oder Shakespeares Othello verweisen können. Oder auf Giuseppe Verdis Shakespeare-Oper aus dem Jahre 1887. In der Tat entsprechen die ersten vier Töne des berühmten „Ridi Pagliaccio“, die nicht nur am Ende des ersten Aktes erklingen, Note für Note (in derselben Tonart e-Moll) Otellos Wutausbruch im dritten Akt von Verdis Partitur („A terra … e piangi!“). Doch mit dem Bezug auf den echten Kriminalfall aus Kalabrien schien seine Oper „wahrer“ als alle Vorläufer, noch „wahrer“ gar als Mascagnis Einakter.
VORBILDER
Dabei ist in der Konzeption der Pagliacci etwas anderes viel bemerkenswerter als das Motiv der Eifersucht: Das vom Komponisten selbst gedichtete Libretto zielt auf doppelte Böden, inszeniert Theater auf dem Theater. Als Geniestreich erweist sich der plötzliche Umschlag von gespielter Komödie zu blutiger Tragödie. Für solche doppelten Böden gab es in der Tat Vorbilder – nicht in „wahren“ Verbrechen, sondern in der Theatergeschichte. Bereits die Pariser Romantiker um Victor Hugo hatten sich auf Shakespeares Spuren der Überblendung komischer und tragischer Elemente verschrieben (nicht zuletzt wäre hier Verdis Un ballo in maschera aus dem Jahre 1859 mit seiner Pariser Vorlage von 1833 zu nennen). Catulle Mendès hatte in seinem Stück La femme de Tabarin das Milieu italienischer Komödianten in Paris nachgezeichnet, 1887 wurde es – mit der Schauspielmusik von Emmanuel Chabrier – am Théâtre-Libre an seinem neuen Standort im Quartier Montparnasse uraufgeführt, später sollte Mendès Leoncavallo des Plagiats beschuldigen. Zu nennen wäre auch die Oper Tabarin von Émile Pessard, die 1885 an der Pariser Opéra herausgekommen war und in der einige Monologe fast wörtlich Formulierungen Leoncavallos vorwegnehmen. Und nicht zuletzt das 1867 in Madrid uraufgeführte Stück Un drama nuevo, in dem der spanische Dichter Manuel Tamayo y Baus den leibhaftigen Shakespeare auftreten ließ.
Es kann als sicher gelten, dass Leoncavallo die ersten beiden Stücke kannte. Zwischen 1882 und 1888 hatte er in Paris gelebt und dort eifrig die Theater besucht. Un drama nuevo sollte dagegen erst 1890 in einer italienischen Bearbeitung vorliegen. Leoncavallo gestand ein, Ermete Novellis Einrichtung in Rom gesehen zu haben, ein halbes Jahr nach der Uraufführung seiner Pagliacci. Dabei wurde Un dramma nuovo dort 1892 gar nicht gespielt, sehr wohl aber in den letzten Tagen des Jahres 1891 wie übrigens auch schon im Frühjahr 1891 in Mailand. Angesichts frappierender Übereinstimmungen (dazu gleich noch mehr) spricht alles dafür, dass Leoncavallo auch Un dramma nuovo gekannt hatte.
Damit aber noch nicht genug der intertextuellen Abhängigkeiten: Leoncavallos Libretto fügte sich passgenau den damals virulenten Diskussionen um die nationale Identität des italienischen Theaters ein. Die Personen seiner Oper spielen nicht irgendeine Komödie, sondern Commedia dell’arte. Diese Form des improvisierten Theaters mit ihren stereotypen Figuren geht auf norditalienische Traditionen des 16. Jahrhunderts zurück, danach war sie auch in Paris sehr präsent, Carlo Goldoni sollte sie um 1750 zu literarischem Rang überhöhen. Im 19. Jahrhundert war sie vor allem zum historischen Referenzrahmen geworden. Es ist unwahrscheinlich, dass man dieses Genre „in Kalabrien, in der Nähe von Montalto“ in den Jahren „zwischen 1865 und 1870“ – so die sehr präzisen Angaben in Leoncavallos Libretto – noch gepflegt hätte. Dagegen spielte die Commedia dell’arte am Ende des 19. Jahrhunderts eine zentrale Rolle in erregten Debatten, wie man der Tradition der italienischen Komödie im Sprechtheater, aber auch in der Oper neues Leben einhauchen könnte.
„ICH BIN DER PROLOG“
In der ersten Fassung von Pagliacci fehlte noch der Prolog. Offenbar wurde dieser erst in den letzten Wochen vor der Uraufführung hinzugefügt, auf Anregung von Victor Maurel, des Baritons, der Tonio verkörpern und achteinhalb Monate später in der Uraufführung von Verdis Falstaff die Titelrolle übernehmen sollte. Die Abhängigkeit von Un dramma nuovo ist offensichtlich: Der von Novelli hinzugefügte Prolog beginnt mit genau derselben Frage „Si può?“ (etwa: „Ist es erlaubt?“ oder „Darf man?“). Während dort der Prolog einem Türsteher zugewiesen ist, ging Leoncavallo einen Schritt weiter. Tonio ist bei ihm die Personifizierung des Prologs selbst, der Bariton verkündet: „Io sono il prologo“. Auch dafür gab es ein konkretes Vorbild, das wiederum nichts mit kalabrischem Dorfleben zu tun hatte. In Pietro Cossas Nerone, einer erstmals 1871 in Rom aufgeführten Tragikomödie, beginnt der Komödiant Menecrate das Drama mit den Worten: „Il prologo son’io“.
Cossas Theaterstück war seinerzeit höchst erfolgreich. Verdi beeilte sich 1883, einer Aufführung in Genua beizuwohnen, im selben Jahr wurde es neuerlich in Rom gespielt, genau in den Wochen, als Maurel dort die Titelpartie in Verdis Rigoletto sang. Auf jeden Fall schien 1892 mehreren Journalisten die frappierende Ähnlichkeit der Prologe von Nerone und Pagliacci offensichtlich. (1935 sollte – ausgerechnet – Mascagni aus Cossas Drama eine Oper machen, wobei er allerdings auf den Prolog verzichtete.)
Maurels Anregung war alles andere als uneigennützig. Dem Sänger aus Marseille, der 1887 in der Uraufführung von Verdis Otello den Jago gesungen hatte, ging es um die Aufwertung seiner Rolle. Der Opernkonvention entsprechend stand sie hinter der Tenorpartie zurück, die 1892 überdies einem weniger renommierten Sänger zugewiesen war: Fiorello Giroud aus Parma. Im Interesse Maurels wurde auch der Titel des Werks verändert. An die Stelle des Singulars Pagliaccio (der sich im deutschen Bajazzo, im französischen Paillasse und im englischen Punchinello erhalten sollte) trat der Plural Pagliacci. Canio und Tonio scheinen im Titel gleichberechtigt.
NEO-ROKOKO UND GROßER PINSEL
In seiner Musik macht Leoncavallo einen ohrenfälligen Unterschied zwischen Exposition und Theater auf dem Theater. Die als „Commedia“ bezeichnete Szenenfolge im zweiten Akt ist von altertümlichen Tanzrhythmen geprägt. Leoncavallo komponiert eine Art Neo-Rokoko – knapp drei Jahrzehnte vor Igor Strawinskys Pulcinella und gut drei Jahrzehnte nach Un ballo in maschera, in dessen tödlichem Finale die Tanzmusik ein ganz ähnliches Parfum verströmt. Das, was Verdi am Ende der 1850er Jahre als schwedisches Rokoko konzipiert hatte, bevor die Zensur die Verlegung der Handlung von Stockholm nach Nordamerika erzwang, findet sich nun in den „Wilden Süden“ Italiens übertragen. Auf seine Weise partizipiert Leoncavallo an der Exotismus-Mode des späten 19. Jahrhunderts; wir werden darauf zurückkommen.
Als der vor Eifersucht tobende Canio darauf besteht, er sei kein „Pagliaccio“ (mehr), jetzt erlange „der Mann seine Rechte“ wieder, greift Leoncavallo unvermittelt zu dickflüssigen Melodien, die wir mit dem sogenannten Verismo in der Oper assoziieren. Nur für einen kurzen Moment kehrt Nedda – in einem verzweifelten Versuch, die Situation zu beruhigen, – zur tänzelnden Gavotte der Commedia zurück. Vergebens. Mit dem großen Pinsel malt das Orchester im Fortissimo wilde Leidenschaft, die Frage der Zuschauer „Fanno davvero?“ („Die machen ernst?“) ist zwar komponiert, geht aber im „concitato“, im erregten, immer wieder ins Unisono mündenden Tonsatz unter. Dem originellen Libretto mit seinen doppelten Böden entspricht keine ebenso komplexe Musik, der Komponist Leoncavallo war weniger kühn als der Librettist Leoncavallo.
Dabei ist seine Perspektive von der inzwischen tonangebenden Stadt Italiens geprägt, von Mailand. Für die gut situierten Opernbesucher im Norden war der verarmte Süden mindestens so exotisch und so weit entfernt wie das Andalusien in Bizets Carmen für das Pariser Publikum. Leoncavallos Blick auf Kalabrien ist der eines Arbeitsmigranten. Zwar entstammte er – im Gegensatz zu typischen Migranten – den Funktionseliten Neapels: Der Großvater mütterlicherseits war Professor an der dortigen Kunstakademie gewesen, der Vater aus apulischem Provinzadel machte Karriere als Richter, nach 1867 wieder in Neapel, der damals größten Stadt Italiens.
Dennoch trieb es den jungen Ruggero in die Fremde. Mit der italienischen Einigung war 1861 aus der stolzen Hauptstadt eines Königreichs, das vom Hinterland Roms bis nach Apulien und Sizilien reichte, eine Provinzstadt geworden. Nach dem Studium in Bologna und den Jahren in Paris suchte Leoncavallo sein Glück im äußersten Norden Italiens, in Mailand, dem Zentrum der italienischen Opernindustrie. Mehr noch: Seit 1893, also unmittelbar nach dem sensationellen Erfolg der Pagliacci, hielt er sich immer öfter im Schweizer Kanton Tessin auf. 1903 ließ er in Brissago am Lago Maggiore, wenige Kilometer westlich von Locarno, eine prunkvolle Villa errichten. Doch obwohl sich Pagliacci als Goldesel erwiesen hatte und Leoncavallo die reichlich fließenden Tantiemen nicht mit einem Librettisten teilen musste, war seine finanzielle Situation alles andere als solide. Die 1903 erbaute „Villa Myriam“ musste er – nach ruinösen Rechtshändeln hoffnungslos überschuldet – 1916 verkaufen. Dennoch blieb selbst nach seinem Tod im August 1919 der Norden Fluchtpunkt seiner entwurzelten Existenz. Obwohl zunächst in Florenz begraben, wurden – einem vorgeblich geäußerten Wunsch entsprechend – seine sterblichen Überreste 1989 nach Brissago überführt, 1200 Kilometer entfernt vom vermeintlichen „Originalschauplatz“ seiner erfolgreichsten Oper.
Anselm Gerhard, geboren in Heidelberg, war von 1994 bis 2021 ordentlicher Professor für Musikwissenschaft an der Universität Bern. Sein wichtigster Forschungsschwerpunkt ist das europäische Musiktheater des 19. Jahrhunderts. Sein Buch Die Verstädterung der Oper. Paris und das Musiktheater des 19. Jahrhunderts (Stuttgart/Weimar 1992) entwickelte sich bald zum Standardwerk der Operngeschichtsschreibung und erschien auch in englischer Übersetzung (University of Chicago Press). Mit zahlreichen einschlägigen Veröffentlichungen – darunter das Verdi-Handbuch (Stuttgart/Weimar 2001, überarbeitete Neuauflage 2013) und Giuseppe Verdi (München 2012) – gilt er international als einer der führenden Verdi-Forscher. Vor wenigen Wochen erschien sein Buch Vorhang auf? Ein Streifzug durch die Geschichte der Opern-Ouvertüre (Berlin 2025).