Mozarts Librettist Da Ponte
Paolo Gallarati
Foto: Lorenzo Da Ponte, ca. 1830 (Samuel F. B. Morse zugeschrieben, Ausschnitt)
Paolo Gallarati
Foto: Lorenzo Da Ponte, ca. 1830 (Samuel F. B. Morse zugeschrieben, Ausschnitt)
Reich und vielfältig war Lorenzo Da Pontes Theaterschaffen: Allein in den sechs Jahren seiner Wiener Zeit, von 1784 bis 1790, schrieb er sechzehn Libretti von komischen oder tragikomischen Opern für Salieri, Martín y Soler, Gazzaniga, Righini, Storace, Piticchio und Mozart. Unter diesen Werken stechen Le nozze di Figaro (1786), DonGiovanni (1787) und Cosi fan tutte (1790) hervor. Aufgrund ihrer dramaturgischen und literarischen Merkmale unterscheiden sie sich von den anderen Texten und verraten das Eingreifen Mozarts. In seinem berühmten Brief vom 13. Oktober 1781, den man als poetologisches Programm betrachten kann, schrieb er an seinen Vater:
Da ist es am besten wen ein guter komponist der das Theater versteht,und selbst etwas anzugeben im stande ist, und ein gescheiderPoet, als ein wahrer Phönix, zusamen komen […] Wen wir komponistenimmer so getreu unsern regeln: die damals als man noch nichtsbessers wusste, ganz gut waren folgen wollten, so würden wir ebenso untaugliche Musick, als sie untaugliche bücheln, verfertigen.
Hören wir also auf, so Mozart, die übliche Methode zu befolgen und die vom Dichter verfertigten Libretti als etwas Abgeschlossenes zu komponieren und uns in nutzlosen Szenen zu ergehen, die nur Selbstzweck sind. Das Eingreifen des Komponisten ist notwendig, um die Idee eines neuen Theaters vollständig umzusetzen, die bereits in der Entführung aus dem Serail gereift ist und die darauf abzielt, die italienische Opera buffa in eine echte Komödie zu verwandeln, die auf psychologischem Realismus basiert und sich an Shakespeare, Molière, Goldoni und Beaumarchais orientiert. Wie Da Ponte in seinen Memoiren berichtet, war es Mozart selbst, der 1786, nachdem er Dutzende italienischer Libretti verworfen hatte, Beaumarchais’ LeMariage de Figaro (1778) vorschlug, die große zeitgenössischen Komödie: Der Dichter machte einen „Auszug“ daraus und verwirklichte, wie er im Vorwort darlegt, „vor allem unseren Wunsch, dem Wiener Publikum eine gewissermaßen neue Art von zu bieten“. Also etwas Neues.
Dass Mozart energisch in die Ausarbeitung der Libretti eingriff, lässt sich aus seinen Briefen über die Komposition von Idomeneo und der unvollendeten L’Oca del Cairo ableiten. Am 21. Juni 1783 schrieb er an seinen Vater Leopold über den Librettisten dieser beiden Werke, Giambattista Varesco, einen Kaplan am Salzburger Hof:
Die Musique ist also die Haubtsache bey der opera; und wen es alsogefallen soll und er folglich belohnung hoffen will so muß er mir sachenverändern und umschmelzen so viel und oft ich will, und nicht seinemkopfe zu folgen, der nicht die geringste Practic und theater kentnüsshat.
In Ermangelung von Briefdokumenten können wir nur mutmaßen, dass Mozart mit Da Ponte auf dieselbe Weise arbeitete: Im Gegensatz zu Varesco war Da Ponte jedoch ein „gescheider Poet“ und hatte keine Schwierigkeiten, dem Komponisten die gewünschten Libretti zu liefern, um durch die Musik psychologisch definierte Charaktere zum Leben zu erwecken, in denen Lachen und Weinen, Komödie und Tragödie im Fluss eines echten „Bewusstseinsstroms“ verschmelzen. Aus diesem Grund stellen die Texte von Le nozze diFigaro, Don Giovanni und Cosi fan tutte eine echte Revolution im Aufbau der Dramaturgie, der Wahl der Sprache und der Architektur der Arien, Rezitative, Duette und Ensembles dar.
Das Neue zeigt sich im Vergleich zwischen Don Giovanni von Da Ponte und der erst kurz zuvor entstandenen einaktigen Farce DonGiovanni o sia il Convitato di pietra von Giovanni Bertati, die am 5. Februar 1787 in Venedig mit der Musik von Giuseppe Gazzaniga uraufgeführt wurde und Mozarts Textdichter als Vorlage für einige Szenen der Oper diente.
AUSGEPRÄGTER SINN FÜR DAS THEATER
Die Unterschiede sind nicht zu übersehen. Zunächst einmal erfindet Da Ponte, um die kurze einaktige Farce in eine große Oper in zwei Akten umzuwandeln, den gesamten dramatischen Block zwischen dem Duett von Don Giovanni und Zerlina im ersten Akt und der Friedhofsszene im zweiten Akt ex novo. Es werden also folgende Elemente hinzugefügt: Donna Elviras Arie „Ah fuggi il traditor“, das Quartett, Donna Annas Rezitativ und Arie, Don Ottavios Arie, Don Giovannis Arie („Fin ch’han dal vino“) und Zerlinas Arie, das gesamte Finale I. Außerdem die Stücke des zweiten Aktes: Das Duett zwischen Leporello und Don Giovanni, das sogenannte Balkontrio, das Ständchen, die Arie des Don Giovanni („Metà di voi qua vadano“), die Arie der Zerlina, das Sextett, die Arie des Leporello, die des Don Ottavio, die dritte Arie der Donna Elvira und die zweite Arie der Donna Anna. In dieser Erweiterung strebt Da Ponte eine größere erzählerische Kompaktheit an als Bertati: Er eliminiert überflüssige Figuren wie Lanterna, Don Giovannis zweiten Diener, und Donna Ximena, eine Art Duplikat von Donna Elvira in ihrer Funktion als Braut Don Giovannis, die dieser betrogen hat.
Das Vorgehen zeugt von einem ausgeprägten Sinn für das Theater: Die Handlung soll linear und kompakt sein, wobei die für die italienische Opera buffa typischen überflüssigen Possen gestrichen werden, wie etwa die Rezitative von Don Giovanni, Pasquariello, Donna Ximena, Donna Elvira und Maturina (Szenen XV–XVII), das possenhafte Duett zwischen Donna Elvira und Maturina (Szene XVIII) und das völlig überflüssige Trinklied zu Ehren der Venezianerinnen, das Pasquariello während des Abendessens von Don Giovanni anstimmt. In der italienischen komischen Oper waren Szenen purer Unterhaltung, ohne genauen Bezug zur Handlung üblich, sie dienten dazu, dem Komponisten Gelegenheit zu geben, brillante Musik zu schreiben, und dem Publikum, zu lachen: die Realität wurde oft im reinen Spiel umgestoßen. Eine solche spielerische Überflüssigkeit ist Mozart zuwider, für den jedes Stück in der Oper seine dramatische Berechtigung haben muss. So streicht Da Ponte Wortspiele („Tarantella con tantarantà“ „Oh Oh, Poffar Mercurio!“) und burleske Aktionen wie Don Giovannis Ohrfeigen für Biagio (Szene XII) oder das Duett zwischen Ximena und Maturina (Szene XVIII), allesamt possenhafte Einsprengsel, die der realistischen Komödie fremd sind. Alles ist jetzt auf das Drama ausgerichtet, in der Osmose von Komik und Ernst, buffonesken Elementen und Erhabenheit.
THEATRALISCHE SENSIBILITÄT
Die Ergänzungen und Verschiebungen, die Da Ponte im Vergleich zu Bertatis Libretto vornimmt, werten die einzelnen Situationen auf und stellen sie in einen dramatischen Kontext, um Spannung und Interesse zu erzeugen. So verwandelt sich Maturinas Arie „Se pur degna voi mi fate“ in Zerlinas und Don Giovannis Duett „Là ci darem la mano“. Dem Rezitativ von Anna und Ottavio, die die Leiche des Commendatore entdecken, fügt Da Ponte das Duett „Fuggi, crudele, fuggi“ mit dem Schwur, Rache zu nehmen, hinzu; dies schafft einen emotionalen Höhepunkt, den Mozart in einen spannungsgeladenen Moment übersetzt; der Bericht über den nächtlichen Überfall, den Donna Anna Ottavio gibt und der bei Bertati unmittelbar auf die Szene mit dem Tod des Commendatore folgt, wird weiter nach hinten verlegt und dient nun als Ausgangspunkt für die wütende Arie „Or sai chi l’onore“, die dadurch eine klimaktische Funktion erhält.
Ein weiteres bezeichnendes Beispiel für die theatralische Sensibilität Da Pontes ist das wortreiche Rezitativ zwischen Don Giovanni und Donna Elvira, die Don Giovanni in einer Arie vor dem finalen Bankett bittet, Buße zu tun: eine unnötige Langatmigkeit, die der Dichter streicht; die Situation konzentriert sich so auf Donna Elviras plötzliches Erscheinen während Don Giovannis letztem Mahl. Dadurch entsteht ein sehr wirkungsvoller Kontrast zwischen der Wut und dem Schmerz der verlassenen Frau und der spöttischen Atmosphäre des handfesten Genusses von Essen zur Tafelmusik.
ALLE AUSDRUCKSFORMEN DES MENSCHSEINS
Vor allem aber, und hier liegt der Schlüssel zu allem, erneuert Da Ponte das Libretto in Sprache und Dramaturgie. Sein Italienisch ist flüssig, natürlich, elegant, ohne gekünstelt zu sein; die Dialoge zwischen den Figuren sind knapp und direkt, ohne Umschreibungen oder künstliche Ausschmückungen, aber so, dass Mozart die Möglichkeit hat, ihre Bedeutungen stark zu erweitern; die Unterschiede zwischen hohem und niedrigem Stil werden wirkungsvoll ausgespielt; das Facettenreichtum ist nie Selbstzweck, sondern dient dazu, die volkstümlichen Figuren, insbesondere Leporello und Masetto, zu charakterisieren; es sind alle Ausdrucksformen des Menschseins, die zum Kontinuum des Lebens gehören und alle Ausdrucks-bereiche umfassen, vom Materiell-Körperlichen (Don Giovannis Bankettszene) bis hin zu religiös motivierter Erhabenheit und Entsetzen, mit allen Abstufungen dazwischen. Da Ponte folgt darin dem Beispiel von Giambattista Casti, der in Il Re Teodoro in Venezia, 1784 in Wien mit Musik von Paisiello uraufgeführt, die Aktschlüsse zu einer Art Komödie in der Komödie ausgebaut hatte.
Um Mozart die Möglichkeit zu geben, diese natürliche menschliche Bandbreite in Musik umzusetzen, verändert Da Ponte die traditionelle Anordnung von Arien, Duetten und Concertati. Die Arien sind keine an das Publikum gerichtete Erklärungen rational ausgearbeiteter Gedanken: Der Monolog verwandelt sich in einen Dialog mit einer anderen Figur auf der Bühne oder drückt die Gefühle auf direkte und unmittelbare Weise aus. Es ist eine Sache, wie Donna Elvira in Bertatis Convitato di pietra, eine objektive moralische Beobachtung zu singen: „Arme Frauen! Man nennt uns in unserer Liebe sprunghafte Geister, undankbare Seelen, wankelmütige Herzen“, aber es ist eine andere Sache, sich mit einem Schrei des Kummers und der Wut Luft zu machen: „Ach, wer wird mir je sagen, wo der Barbar ist, den ich um meiner Verachtung willen liebte, der mir den Glauben genommen hat?“ In der traditionellen Opera buffa setzte die Figur ein Publikum voraus, das ihr zuhört – ein altes Erbe der Commedia dell’arte. Bei Da Ponte und Mozart grenzt der psychologische Realismus bereits an die Definition der sogenannten vierten Wand. Auch der Ausdrucksgehalt der Duette und Concertati änderte sich auf diese Weise: Wenn in der italienischen komischen Oper von Piccinni, Paisiello, Cimarosa und anderen der Übergang vom Rezitativ zur geschlossenen Form erfolgt, schafft der dann einsetzende deskriptive, exklamatorische Tonfall einen klaren Bruch mit dem Dialog und führt in eine abstraktere und konventionellere Dimension.
In den Libretti Da Pontes aber setzt sich die Unterhaltung der Rezitative in den geschlossenen Stücken mit größter Selbstverständlichkeit fort. Die Rezitative verschmelzen mit den Musiknummern und schaffen die theatralische Kontinuität der tranche de vie, für die es keine andere Lösung als die metrische der Versifikation gibt.
EIN GEISTIGES SYSTEM IM EWIGEN WERDEN
Dieses Verfahren war die Voraussetzung dafür, dass Mozart sein revolutionäres Vorhaben ausführen konnte: das Operntheater auf die künstlerische Bewegung einzustimmen, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die europäische Kultur erfasst hatte, die von der Wiederentdeckung Shakespeares, den der Rationalismus vergessen hatte, erschüttert wurde. Das war der große Wandel, der sich, in der deutschen Dichtung, von Klopstock über Herder bis Goethe zunehmend vollzog: die Welt nicht mehr als ein System rational objektivierbarer Bilder und Erfahrungen zu deuten, sondern als ein geistiges System im ewigen Werden.
Poesie nicht mehr als Ausdruck fester Ideen, Bilder und Begriffe, sondern als unmittelbarer Ausdruck des Gefühls im ständigen Werden. Das bedeutete, in der Oper die Unterteilung in ernste, komische und halbernste Rollen zu überwinden und den Übergang zwischen Rezitativen und den einzelnen Nummern fließend zu gestalten, um das Individuum in der fluiden Wirklichkeit des Daseins darzustellen. Zu diesem Zweck wandte Mozart den klassischen Wiener Stil, der auf der Vielfalt in der Einheit beruhte und in der instrumentalen Gestaltung gereift war, auf die italienische Dramentechnik an: Das Ergebnis war eine beispiellose Osmose zwischen theatralischer Lebendigkeit und Tiefe des Ausdrucks, zwischen italienischem Belcanto und deutscher instrumentaler Textur, Unmittelbarkeit des theatralischen Ausdrucks und komplexen Anspielungen, die vor allem im Don Giovanni von einer Shakespeare’schen Vorliebe für die Mischung von Tragik und Komik beherrscht wurde, nicht im Sinne der barocken Tragikomödie, sondern eines europäischen Theaters, das inzwischen in die Komplexität der romantischen Erfahrung eingetaucht war. Die drei Libretti von Da Ponte bildeten für diese geniale Leistung Mozarts die wesentliche Grundlage.
Paolo Gallarati war Ordentlicher Professor für Musikgeschichte und Musikdramaturgie an der Universität Turin. Er ist Mitglied der Accademia delle Scienze di Torino. Seine Studien im Bereich Musikgeschichte und Musikästhetik umfassen Arbeiten zu Monteverdi, Gluck, Paisiello, Mozart, Salieri, Rossini, Weber, Verdi und zu Librettisten wie Zeno, Metastasio, Calzabigi, Da Ponte, Goldoni und Piave. Unter seinen zahlreichen Veröffentlichungen seien genannt: Gluck e Mozart, Musica e maschera. Il libretto italiano del Settecento, La forza delle parole. Mozart drammaturgo, L’Europa del melodramma. Da Calzabigi a Rossini, Verdi ritrovato. Rigoletto, Il trovatore, La traviata. Zuletzt erschien eine umfangreiche Verdi-Monografie.