Das Noh-Spiel Matsukaze

Im Kontext von Ästhetik, Geschichte und Gegenwart des Noh-Theaters

Barbara Geilhorn

Foto:  Justin Ziadeh

Die Nennung von japanischen Personennamen folgt in diesem Essay der im Japanischen üblichen Form, d. h. der Familienname steht an erster Stelle.

Das Noh-Theater ist ein lyrisches Tanzdrama, das in der Mitte des 14. Jahrhunderts entstanden ist. Seine Stoffe basieren auf klassischen Erzählungen, Gedichten und Legenden, die u. a. von unerwiderter Liebe, den wandernden Seelen gefallener Krieger oder der Suche einer Mutter nach ihrem entführten Kind handeln. Mit seiner über 600 Jahre alten Tradition ist das Noh die wahrscheinlich älteste bis heute lebendige Theaterform weltweit. Es wurde 2001 von der UNESCO in die Liste der Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen.

DIE ÄSTHETIK DES NOH

Noh ist eine hochgradig stilisierte Theaterform, die realistische Darstellung der Handlung ist ihr fremd. Schauspiel und Gesang der Hauptfigur (shite), die typischerweise eine Maske trägt, wird vom Gesang des Chores (jiutai) sowie der Musik (hayashi) von Flöte (nōkan) und bis zu drei verschiedenen Rhythmusinstrumenten – Schultertrommel (kotsuzumi), Hüfttrommel (ōtsuzumi) und taiko – begleitet. Der Gesang des Chores im Unisono beschreibt die Handlung, ihren Hintergrund sowie die Emotionen des Protagonisten. Das Noh kennt keine Stimmlagen vergleichbar mit denen der Oper. Entsprechend ist die Angabe von Tonhöhen im Noh relativ, nicht absolut.

Die Choreographie des Noh ist aus fest gefügten Mustern (kata) zusammengesetzt. Sie umfassen einfache Bewegungen wie die Grundhaltung (kamae) oder das Gehen (hakobi), abstrakte Formen ohne tiefere Bedeutung bis zu stilisierten Bewegungsabläufen mit klarer Symbolik wie das Weinen (shiori), bei dem eine oder beide Hände langsam auf Augenniveau angehoben werden. Trotz streng kodifizierter Choreographie eröffnen kata nahezu grenzenlose Kombinationsmöglichkeiten von Bewegungsabläufen. Weitere Akzente der Interpretation einer Rolle lassen sich durch die Wahl einer der kostbaren Masken und Kostüme innerhalb vorgegebener Grenzen wie Alter, Geschlecht und sozialem Stand setzen. Daneben existieren oft mehrere Aufführungsvarianten (kogaki) eines gegebenen Noh-Spiels.

Die Noh-Bühne aus Zypressenholz ist in Hauptbühne (honbutai) und Bühnensteg (hashigakari) unterteilt. Auf symbolischer Ebene verbindet der Bühnensteg das Jenseits (backstage) mit dem Diesseits der Hauptbühne. Er wird nicht nur als Auftrittsrampe genutzt, sondern erweitert den Bühnenraum für die Darstellung dynamischer Szenen. Ein Bühnenbild im eigentlichen Sinne kennt das Noh nicht. Diese Funktion übernimmt der von einer Kiefer geschmückte Bühnenhintergrund (kagami’ita). Ebenso schlicht sind die auf das Notwendigste beschränkten Requisiten (tsukurimono). Sie werden bis heute aus einfachen Materialien wie weißen Stoffbahnen und Bambus vor jeder Aufführung neu zusammengestellt.

Noh wird üblicherweise als Familientradition vom Vater an den Sohn weitergegeben. Seine Sozialstruktur ist streng hierarchisch aufgebaut, und obwohl Frauen seit den Anfängen professionell im Noh aktiv sind, gilt es bis heute als maskulin dominierte Theaterform. Kinder beginnen ihr Training im Alter von etwa drei Jahren und sammeln erste Bühnenerfahrung in Kinderrollen (kokata). Im jungen Erwachsenenalter vervollständigen sie ihre Ausbildung im Hause des leitenden Noh-Spielers (iemoto) der von ihren vertretenen Stilrichtung. Erst seit dem frühen 20. Jahrhundert ist auch eine Ausbildung an staatlichen Schulen bzw. Universitäten möglich.

DAS NOH-THEATER AUS HISTORISCHER PERSPEKTIVE 

Die Geschichte des Noh-Theaters ist durch wiederholten Aufstieg und Fall seines gesellschaftlichen Stellenwertes geprägt. So führt der epochale Auftritt von Kan’ami Kiyotsugu (1333–1384) und Zeami Motokiyo (1363–1443), Vater und Sohn, vor dem Shōgun Ashikaga Yoshimitsu (1358–1408) zum rasanten Aufstieg der ehemals als „Bettler vom Flussbett“ (kawara-kojiki) bezeichneten wandernden Schauspieler. Durch Patronage des Shōguns erlangen sie Zugang zu den einflussreichsten Kreisen der Gesellschaft, darunter führende Literaten ihrer Zeit. Kan’ami und Zeami prägen das Noh in seiner klassischen Form. Neben ihrer Tätigkeit als Schauspieler und Leiter ihrer Truppe verfassen und konzipieren sie zahlreiche Noh-Spiele von hoher literarischer Qualität, die noch heute den Kern des gängigen Repertoires bilden. Zeami gilt darüber hinaus als Verfasser der wahrscheinlich ältesten theoretischen Abhandlungen zum Theater weltweit. Während zum Beispiel Aristoteles’ weitaus ältere Poetik lediglich eine Abhandlung zur Dramentheorie ist und die Aufführungsdimension ausblendet, schließt Zeami in seinen Schriften die Aufführung und auch das Publikum als wichtige Komponente ein. Daneben greift er auf Konzepte älterer Theaterformen, Literatur und Lyrik zurück und entwickelt sie weiter. Für seine Noh-Spiele lässt er sich von bekannten Stoffen der klassischen Literatur inspirieren und kreiert die für das Noh charakteristische Form des mugen nō (wörtl.: „Traum- Noh“). Dabei bildet der Traum eines wandernden Mönchs den Rahmen, in dem zentrale Figuren der japanischen Klassik als Geistwesen erscheinen und mit Gesang und Tanz ihr Schicksal erneut durchleben. Das Konzept des mugen nō lässt außerdem die enge Verflechtung des Noh mit der buddhistischen Philosophie deutlich werden, inszeniert es doch die Erlösung vom Kreislauf der Wiedergeburten durch das Gebet eines buddhistischen Mönchs. In der historischen Praxis stellt das Sammeln von Spenden für Tempel und Schreine (kanjin nō) eine wichtige Aufgabe von Noh-Aufführungen dar.

Im Verlauf der Tokugawa-Zeit (1600–1868) entwickelt sich das Noh zum Theater des aufstrebenden Militäradels, zu einer Kunst, die dessen Status auch auf kultureller Ebene repräsentieren soll. Shōgun Toyotomi Hideyoshi (1537–1598) etabliert die Vergabe von Reisstipendien an Noh-Spieler. Er übt sich selbst im Noh, gibt Werke zum Ruhm seiner Regentschaft in Auftrag und tritt vor ausgewähltem Publikum in ihnen auf. Tokugawa Ieyasu (1543-1616) und seine Nachfolger übernehmen diese Praxis. Noh ist nun als Zeremonialkunst (shikigaku) fest am Hof des Shōgun verankert und unterliegt dessen strenger Reglementierung. Noh-Spieler werden in den Rang von Samurai erhoben, unterrichten den Shōgun (sowie sein Gefolge) und unterstützen ihn bei der Durchführung eigener Aufführungen, in denen der Shōgun selbst als Noh-Spieler auftritt. Noh und die japanischen Kampfkünste beeinflussen sich gegenseitig in erheblichem Maße, denn nicht nur die Samurai üben sich im Noh, auch Noh-Spieler pflegen die Kampfkünste. Mit wachsender Kodifizierung von Aufführungspraxis und Auswahl der Stücke nimmt aber auch die Nachfrage nach neuartigen Versionen bekannter Werke (kogaki) zu, die zum Teil bis heute existieren. Obwohl Aufführungen weitgehend den Mitgliedern des Kriegeradels vorbehalten sind, gewinnen Singen (utai) und Tanzen (shimai) ausgewählter Passagen auch in der breiteren Bevölkerung an Beliebtheit.

1868 stürzt die Meiji-Restauration das Noh-Theater in eine existenzielle Krise, denn mit dem Zusammenbruch des Shōgunats verlieren das Noh und seine Repräsentanten die sie unterstützende Gesellschaftsstruktur. Zahlreiche Noh-Spieler sind gezwungen, kostbare Masken, Kostüme und Instrumente zu veräußern oder ganz die Profession zu wechseln. Herausragenden Noh-Spielern wie Umewaka Minoru (1828–1909) gelingt dank der Unterstützung führender Persönlichkeiten ihrer Zeit die Neupositionierung des Genres in der japanischen Gesellschaft. Die Meiji-Zeit ist eine Epoche von Modernisierung und Nationalbildung, die durch die von westlichen Mächten erzwungene Landesöffnung Japans befördert wird. Vor diesem Hintergrund machen bekannte Politiker und Noh- Liebhaber wie Iwakura Tomomi (1825–1883) und Kume Kunitake (1839–1931) ihren Einfluss geltend, um das Noh-Theater als Inbegriff japanischer Hochkultur, vergleichbar mit der westlichen Oper, zu etablieren.

Das Noh verdankt seinen Fortbestand aber ebenso der tiefen Verankerung als angesehene Form der Freizeitgestaltung, welche sich vom Kriegeradel in der frühen Tokugawa-Zeit über die wohlhabende Stadtbevölkerung am Ende der Epoche bis zur breiten Mittelschicht in der Moderne weiterentwickelt. Seit dem Zerfall des Shōgunats bilden Laien die finanzielle Stütze der Theaterform. Denn die große Mehrheit der Noh-Spieler kann ihren Lebensunterhalt nicht primär aus Einnahmen ihrer Aufführungen bestreiten. Stattdessen kommt den Unterrichtsgebühren der Laienschüler diese Rolle zu. Amateure stellen darüber hinaus einen erheblichen Anteil am Publikum. Und gerade in der heutigen Zeit bietet die eigene Praxis eine nicht zu unterschätzende Grundlage für ein tieferes Verständnis dieser vormodernen Theaterform, welches nicht mehr durch Familie oder Schule vermittelt werden kann.

Seine größte Blütezeit der jüngeren Geschichte erlebt das Noh in den 1950er Jahren. Inspiriert von den Schriften Zeamis leitet der künstlerisch und technisch überragende Kanze Hisao (1925–1978) durch neuartige Interpretation und bahnbrechende Kooperation mit japanischen und internationalen Tanz- und Theaterschaffenden die Renaissance des Noh-Theaters ein.

Trotz neuer Marketingstrategien wie dem Ausrichten von Workshops an Schulen und Einführungsveranstaltungen im Vorfeld von Aufführungen sieht sich das Noh heute erneut von einer existenziellen Krise bedroht. Japans fallende Geburtenrate lässt auch die Anzahl junger Noh-Spieler immer geringer werden. Und die Notwendigkeit, Laienschüler an sich zu binden, begrenzt den Spielraum der professionellen Noh-Spieler, sich noch intensiver der Weiterentwicklung der eigenen künstlerischen Fähigkeiten zu widmen. Dieser Faktor ist umso entscheidender in einer Kunstform, in der der Höhepunkt einer professionellen Karriere erst nach Mitte des fünften Lebensjahrzehnts erreicht ist. Gleichzeitig erscheint es immer schwerer, sich den Sehgewohnheiten vor allem des jungen Publikums anzupassen, ohne damit die Charakteristika des Noh zu verleugnen und sein angestammtes Publikum zu enttäuschen. Vor diesem Hintergrund kommt der Adaption von Stoffen und dramaturgischen Elementen des Noh für die Oper wie Hosokawa Toshios Matsukaze neben ihrem eigenen künstlerischen Wert eine wichtige Rolle für den Erhalt des Noh im kulturellen Gedächtnis Japans und der Welt zu.

DAS NOH MATSUKAZE

Matsukaze („Wind in den Kiefern“) ist neben Yuya das wohl populärste Noh-Spiel. Die gängige Wendung Yuya Matsukaze wa kome no meshi vergleicht beide Werke mit einer Portion Reis, dem japanischen Grundnahrungsmittel par excellence. Auch auf ästhetischer und formaler Ebene kann Matsukaze als repräsentatives Beispiel eines Noh gelten. Zum einen gehört es inhaltlich zur Gruppe der „Frauenspiele“, die Zeamis Ideal der subtilen Eleganz (yūgen, eine detaillierte Ausführung zu yūgen im Kontext des Noh Matsukaze gibt der Beitrag von Wakebayashi Michiharu im Programmbuch der Produktion) in besonderem Maße zum Ausdruck bringen. Gleichzeitig ist Matsukaze strukturell an die von Zeami entwickelte, für das klassische Noh typische Form des Traum-Noh (mugen nō) angelehnt, wie im folgenden Abriss des Inhaltes deutlich wird. 

Das heutige Noh Matsukaze ist aus Zeamis Überarbeitung eines früheren Stückes hervorgegangen. Sein Stoff lässt sich auf zentrale Werke der klassischen japanischen Literatur zurückführen, darunter eine Episode des Genji monogatari (Die Geschichte vom Prinzen Genji) vom Beginn des 11. Jahrhunderts sowie zwei Gedichte von Ariwara no Yukihira aus der Anthologie Kokin wakashū (Sammlung alter und moderner Gedichte), die auf kaiserlichen Befehl zu Beginn des 10. Jahrhunderts entstanden ist.

Matsukaze erzählt von den jungen Schwestern Matsukaze und Murasame („Herbstregen“), die an der Bucht von Suma Wasser schöpfen, um daraus Salz zu gewinnen. Im historischen Japan war die Bucht von Suma für ihre landschaftliche Schönheit und als Austragungsort entscheidender Schlachten bekannt. Hier hat Ariwara no Yukihira, Poet und einflussreicher Hofbeamter, die Zeit seiner Verbannung vom Hof verbracht, die Liebe der jungen Frauen gewonnen und mit ihnen Salz gesiedet. Auch der legendäre Prinz Genji, Hauptfigur der gleichnamigen Erzählung und Archetyp des japanischen Frauenhelden, war – lange nach Ariwara no Yukihira – an den gleichen Ort verbannt worden.

Das Noh Matsukaze entfaltet sich vor diesem poetisch verdichteten Hintergrund. Ort und Zeit der Handlung ist ein Herbstabend an der vom Mondlicht beschienenen Bucht von Suma. Ein wandernder Mönch tritt auf. Er wird auf eine Kiefer, welche dem Gedenken an Matsukaze und Murasame gewidmet ist, aufmerksam. In Gestalt von Fischermädchen erscheinen die Seelen der beiden Verstorbenen:

An der einsamen Bucht von Suma
netzt die salzige Flut unsere Ärmel;
steigt der Mond empor kommt Trauer und Einsamkeit,
und die Träne netzt den Ärmel,
und der Herbstwind voll Melancholie der Bucht von Suma
(von welchem Ariwara no Yukihira sang)
kommt klagend über die Wogen …
Ach kein Freund ist’s, der mit uns geht
außer dem einsamen Monde.
(Hermann Bohner: Die Einzelnen Noh. 1956)

Vom Mönch auf Ariwara no Yukihira und sein Gedicht von der Bucht von Suma angesprochen, geben sich die Schwestern zu erkennen. Den Höhepunkt des Noh-Spiels bildet Matsukazes leidenschaftlicher Tanz im Gewand des Geliebten. In diesem Kleidungsstück, das Ariwara no Yukihira den Schwestern zum Andenken zurückließ, ist die Erinnerung an eine glückliche Vergangenheit und die Trauer um ihren Verlust untrennbar miteinander verbunden. Das Noh endet mit dem Erwachen des Mönchs aus seinem Traum. Durch sein Gebet haben die wandernden Seelen Erlösung gefunden.

Seine Bedeutungstiefe verdankt Matsukaze nicht zuletzt einem komplexen Geflecht von lyrisch-sprachlichen Anspielungen und Symbolen: So verweist das Homonym matsu (deutsch: „Kiefer“, aber auch: „warten“) auf die mit Sehnsucht erwartete Rückkehr des Geliebten; der zum Salzsammeln verwendete Wagen, das Matsukaze kennzeichnende Requisit, weckt Assoziationen an das buddhistische Rad der Lehre, Symbol für die Befreiung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten. Nicht zuletzt kommt dem Bild des sich im Wasser spiegelnden Mondes eine zentrale Bedeutung zu, zeigt es doch die Unfähigkeit des Menschen, zwischen Realität und Illusion zu differenzieren. In Matsukaze erfährt dies durch die Dopplung der Schwestern und ihrer Schöpfeimer eine metaphorische Überhöhung. 

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Barbara Geilhorn

Barbara Geilhorn ist Professorin für Cultural Resource Studies an der Universität Tokio. Zuvor war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für Japanstudien Tokio und JSPS Postdoctoral Researcher an der Waseda Universität tätig. Barbara Geilhorn lehrte unter anderem an der Universität Manchester, der Universität Düsseldorf und der Freien Universität Berlin. Ihr Forschungsinteresse gilt Verhandlungen von Geschlecht und Macht in der klassischen japanischen Kultur, kulturellen Repräsentationen der Dreifachkatastrophe von Fukushima, der Umsetzung gesellschaftspolitischer Themen im japanischen Gegenwartstheater sowie Theater- und Kulturfestivals im ländlichen Raum Japans. Zu ihren jüngsten Publikationen gehören: Okada Toshiki & Japanese Theatre (mit Peter Eckersall, 2021), Literature After Fukushima (mit Linda Flores, 2023), Art and Regional Revitalization – Case Studies from Japan (Contemporary Japan, 2024). Darüber hinaus trug sie Kapitel über Frauen als Performerinnen im Noh und Kyōgen für das umfangreiche Handbuch A Companion to Nō and Kyōgen Theatre (2024) bei.