Über meine Oper Matsukaze

Toshio Hosokawa

Foto: Aus der Serie “How to (Un)Name a Tree” von Andong Zheng

 

 

Die im 14. Jahrhundert entstandene traditionelle japanische Bühnenkunst des Noh ist unter allen traditionellen Künsten Japans diejenige, die mich am meisten interessiert. Dieses Interesse hat folgende Gründe:

1.) Noh ist ein Drama der Seelenheilung. Im Noh sind die Hauptfiguren in vielen Fällen Geister von Toten, Seelen, die im Diesseits Traurige erfahren haben. Sie sind ins Jenseits hinübergegangen, ohne dass die Trauer in ihrem Herzen, ihr Anhaften an dieses Gefühl, gelöst wurde. Auf der Noh-Bühne kehren sie erneut in unsere Welt zurück: Indem sie – hier vor einem buddhistischen Mönch – von ihrer Tragödie erzählen, singen und tanzen, wird ihr Anhaften gelöst, so dass sie geheilt ins Jenseits eingehen können. Dieses Seelendrama ist das Thema vieler Noh-Stücke.

2.) An die eigentliche Noh-Bühne ist ein Gang angebaut, den man hashigakari („Brücke“) nennt. Über diese Brücke betreten die Noh-Darsteller in kleinen, schlurfenden Schritten (suriashi) die Bühne und nachdem sie ihr Drama offenbaret haben, kehren sie über diese Brücke hinter die Bühne zurück. Auf der Noh-Bühne sind wir gleichzeitig im Diesseits und Jenseits, und im Inneren der Hauptfiguren sind Leben und Tod gleichzeitig anwesend. Es handelt sich damit um ein Theater, das in einer vom westlichen modernen Theater verschiedenen Dimension spielt.

3.) Das Noh-Theater wird so aufgeführt, dass Poesie (Sprache), Musik sowie der Körperausdruck der Darsteller eine Einheit bilden. Die Körperbewegungen eines Noh-Darstellers entsprechen nicht den Ausdrucksformen des modernen realistischen Theaters; er verfügt über äußerste Körperbeherrschung, ein differenziertes Repertoire von Körpergesten und kann – und das ist der Höhe- und Wendepunkt, die Kartharsis – einen stilisierten Tanz aufführen, den Noh-Tanz.

4.) Noh ist ein Theater, das tiefe, ursprüngliche Gefühle der Menschen schildert und dazu beiträgt, diese zu reinigen. 

5.) Zeami, Sohn des Kan’ami, des Begründers des Noh, hat den ausgezeichneten Darsteller mit dem Begriff der Blüte (hana) zu erfassen versucht. Die Blüte ist schön, gerade weil sie flüchtig ist und schnel vergeht; ihr Aufblühen vollzieht sich vor dem Hintergrund der Vergänglichkeit. Es ist ein Gleichnis für das Leben, das ebenfalls rasch vergeht. Geburt und Tod sind im tiefsten Grund dem Inneren eines jeden Menschen eingewoben, und gerade weil das Leben zeitlich begrenzt ist, kann es als schön begriffen werden. Im Gegensatz zur Kunst des Westens, die sich darum bemüht, Schönheit in ihrer Ewigkeit und Beständigkeit zu erfassen, findet man im Noh die Schönheit in der Traurigkeit des Lebens, das verfällt und vergeht.

Unter diesen (fünf) Gesichtspunkten bin ich an den grundlegenden Ideen des Noh-Theaters interessiert. Doch ist es beim Noh, wie es heutzutage in Japan aufgeführt wird, so, dass dieser tiefe gedankliche Gehalt im Verborgenen zwar durchaus noch vorhanden ist, aber im Rahmen der durch Gewohnheit erstarrten Tradition ist die Verwirklichung dieses „Lebens“ auf der Bühne nicht mehr gewährleistet.

Bei meiner Komposition möchte ich das Noh-Stück Matsukaze („Kiefernwind“), eines der hervorragendsten Werke von Zeami, als Ausgangspunkt nehmen und versuchen, durch eine deutsche Fassung des Librettos, durch die Komposition einer neuen Musik sowie durch einen neuen Inszenierungsstil eine Oper zu erschaffen, die als Beispiel für ein in unserer Zeit lebendiges Noh-Theater dienen könnte.

ZUM NOH-STÜCK MATSUKAZE

Das Stück Matsukaze ist im Repertoire des Noh-Theaters in Japan sehr beliebt. Es gehört der Gattung der Traumstücke an, dem mugen nō. Ein buddhistischer Mönch auf Pilgerreise erreicht am Abend einer Mondnacht eine armselige Hütte neben einem einsamen Kiefernhain. Dort bittet er um Obdach für eine Nacht. In der Hütte wohnen zwei gut aussehende Schwestern; sie schöpfen am nahen Strand Salz und führen mit dem Erlös ein kärgliches Leben. Als der Mönch nach der Legende fragt, auf welche die Inschrift, ein Gedicht an einem Kiefernbaum, anspielt, beginnen die Schwestern erstaunliche Dinge zu erzählen. Es stellt sich heraus, dass beide Schwestern in Wahrheit bereits gestorben sind und nun als Totengeister erscheinen.

Einst war der Adelige Yukihira aus Kyōto in dieses einsame Dorf am Meer – damals ein Ort der Verbannung – geschickt worden, und er hat während seines Aufenthalts dort (trotz des Standesunterschieds) beide Schwestern geliebt. Als die Zeit gekommen war, dass er in die Hauptstadt zurückkehren durfte, hinterließ der Mann ein Gedicht, in dem er versprach, beide Frauen wiederzusehen. Doch Yukihira starb in der Hauptstadt bald an den Folgen einer Krankheit. Und auch die beiden Schwestern, die ihm gegenüber ein Gefühl aufrichtiger Liebe gehegt hatten, starben kurz darauf vor Kummer. Daher kehren sie in dieser Nacht, von unerfüllter Zuneigung zu Yukihira beherrscht, als Totengeister ins Diesseits zurück.

Matsukaze, die ältere Schwester, beginnt über ihre tiefen Gefühle zu dem Mann zu singen. Am Zweig eines Kiefernbaums glaubt sie ein Stück seiner Kleidung zu erblicken. Sie zieht sich dieses Kleidungsstück über und beginnt in einem Zustand des Wahnsinns zu tanzen. Dafür wird sie von Murasame, der jüngeren Schwester, zurechtgewiesen. Doch in ihrem heftigen Gesang und Tanz gerät Matsukaze in Ekstase und macht die Erfahrung der Einswerdung mit dem Mann. Auch Murasame, die die Situation von der Seite aus lange betrachtet, wird in diese Katharsis hinein verwickelt, und so befreien die beiden Schwestern ihre Herzen von ihren Anhaftungen an Illusionen und können ins Jenseits zurückkehren.

Der Name „Matsukaze“ ist ein Kompositum aus zwei Wörtern mit den Bedeutungen matsu („Kiefer“) und kaze („Wind“). In der Tanzszene ist es wahrscheinlich so, dass der Baum, die Kiefer, den Mann und der Wind die Frau symbolisierte. Mit dem Bild des Windes, der sich kräftig um die Kiefer schlingt, wird die Vereinigung von Mann und Frau angedeutet. Daraus ergibt sich nicht nur die erotische Ekstase der geschlechtlichen Vereinigung von Mann und Frau, sondern die Frau wird zugleich zu einem Teil der Natur; sie wird zum Wind, also einem Naturphänomen. Mit der Metapher vom „Wind in den Kiefern“ (matsu no kaze) dürfte eine spezifisch japanische Weltsicht zum Ausdruck kommen.

Ich habe mir für meine eigene Musik immer gewünscht, Werke zu schaffen, die ein Teil des Klangs der Natur, des Klangs des Kosmos sein können. In dieser Oper nun möchte ich das Gefühl, das eine Frau tief im Innersten ihres Herzens hegt, mittels Gesang und Tanz zum Ausdruck bringen, so dass sich die Existenz dieser Frau namens Matsukaze in einen Klang verwandelt, der dem des Windes gleicht, wenn er durch die Kiefer streicht. Und ich möchte versuchen, damit ein Drama zu schaffen, in dem die Einswerdung mit dem Kosmos und der Welt thematisiert wird. Was am Ende des Dramas zurückbleibt, das sind gleichsam die Klänge des gereinigten Herbstwindes und der Wellen, die vom Meer auf den Strand schlagen. Zuletzt erwacht der Mönch im Morgenrot – er hat einen Traum erlebt …

Meine Oper Matsukaze soll ein Werk sein, das die Tiefe der im Innersten des Herzens eines Menschen verborgenen Empfindungen zeigt, und es soll eine Oper der Reinigung der Seele dieses Menschen sein.

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