„E lucevan le stelle“

Europa unter Sternennächten: Zeitenwenden im August 1942

Text Marcus Pyka

Fotografie:  Ausschnitte verschiedener Porträts von Maria Callas (ullstein bild).

Wie wohl kaum eine andere Rolle repräsentiert Floria Tosca, die Protagonistin von Giacomo Puccinis Oper, den Inbegriff der Operndiva, und kaum eine andere Sängerin wird so stark mit dieser Partie in Verbindung gebracht wie Maria Callas, die im vergangenen Jahr hundert Jahre alt geworden wäre. Dass sie am 27. August 1942, gerade einmal achtzehnjährig, ihre erste große Opernrolle ausgerechnet als Floria Tosca bestreiten sollte, kann somit wohl füglich als Beginn eines neuen Kapitels in der Operngeschichte, als wahre Zäsur betrachtet werden. Und nicht wenige Medien nutzten im vergangenen Jahr den Anlass der Centenar-Erinnerungsfeierlichkeiten, um gerade an dieses epochemachende Debüt zu erinnern. August 1942 als Zäsur – da war doch etwas? Tatsächlich, die Zufälle der Geschichte haben in jenem sengend-heißen Sommer auf verschiedenen Ebenen Ereignisse zusammengebracht, die an der Oberfläche zwar nur wenig miteinander zu tun zu haben scheinen, die aber zusammengenommen durchaus einige zentrale historische Erfahrungen des mittleren 20. Jahrhunderts in schärferem Profil erscheinen lassen – und uns auch erlauben, die Idee von Zäsuren und Zeitenwenden besser zu verstehen.

Die Idee der Zeitenwende und der Epochenzäsur hat dieser Tage wieder einmal Konjunktur. Seitdem Bundeskanzler Olaf Scholz im deutschen Bundestag anlässlich des russischen Angriffs auf die Ukraine im Februar 2022 eine „Zeitenwende“ in der deutschen Außenpolitik ausgerufen hat, fand der deutschsprachige Begriff sogar Eingang ins Englische und Französische. Doch schon vorher ließ sich etwa auf dem Buchmarkt ein verstärkter Gebrauch dieses Begriffs feststellen. Freilich gehören Termini wie „Wende“ und „Zäsur“ oder auch „Höhepunkt“ und „Krise“ zu Kernbegriffen des historischen Vokabulars, mit deren Hilfe der Fluss der Zeit strukturiert, das Geschehene periodisiert wird. Dass es sich bei dieser Terminologie nicht um objektive Tatbestände handeln kann, sondern um stets zu diskutierende Instrumente der Interpretation, liegt auf der Hand.

Im Kontext des Zweiten Weltkriegs und der Geschichte des Dritten Reichs stellt die zweite Jahreshälfte 1942 einen besonders oft diskutierten Fall dar, zumal sich hier verschiedene Vorstellungen von Zäsur gegeneinander ausspielen lassen: Auf der einen Seite stellte in der Erfahrung gerade der Zeitgenossen die Schlacht um Stalingrad im Winter 1942/43 mit der Kapitulation der deutschen 6. Armee den großen Wendepunkt in der Wahrnehmung des Krieges und des nationalsozialistischen Regimes insgesamt dar, nicht zuletzt da diese katastrophalste Niederlage der deutschen Militärgeschichte weite Teile der Bevölkerung ganz unmittelbar betraf. Auf der anderen Seite aber deutet die Geschichtswissenschaft diese Ereignisse als eher sekundär für das große Kriegsgeschehen: Fachhistoriker sehen die entscheidende Wende bereits im vorhergehenden Dezember 1941 mit dem Scheitern des deutschen Angriffs auf Moskau und der direkt hiermit zusammenhängenden Kriegserklärung Hitlers an die USA – auch wenn die direkten Folgen für die Zeitgenossen nicht sofort einsichtig waren. Doch wo ist die Verbindung zu Callas’ Debüt als Tosca?

1. „Vissi d’arte“

Die Umstände, unter denen das Griechische Nationaltheater im Sommer 1942 Puccinis Oper auf die Bühne brachte, waren alles andere als ideal: Das Mutterland des europäischen Theaters hatte erst seit wenigen Jahren begonnen, eine Tradition des Musiktheaters aufzubauen, und die finanziellen Möglichkeiten waren von Anfang an äußerst beschränkt. Allerdings gab es eine ganze Reihe von einheimischen Talenten, und durch die Weltlage seit den 1930er Jahren fanden weitere ihren Weg nach Athen. So auch die in New York geborene Anna Maria Kalogeropoulou – die erst nach 1945 als Mary und schließlich als Maria Callas für weltweite Furore sorgen sollte. Sie war als Kind zusammen mit ihrer älteren Schwester von einer ehrgeizigen Mutter in deren Heimatland gebracht worden, in der Hoffnung, ihr offenkundiges musikalisches Talent in Athen günstiger ausbilden zu können als in der US-amerikanischen Metropole New York. Tatsächlich schaffte die junge Maria die Aufnahme an eines der privaten Konservatorien der Stadt, um schließlich von der großen Sopranistin Elvira de Hidalgo nachhaltig gefördert zu werden. Diese vermittelte ihr auch die Möglichkeit, nach einigen ersten kleineren Engagements mit der Titelpartie in Tosca einen wahrhaft großen Auftritt zu haben.

Nach allem, was über Callas’ Athener Jahre bekannt ist, spiegelte diese Rolle durchaus ihr Leben. Toscas Arie „Vissi d’arte“ („Ich lebte für die Kunst“) konnte durchaus auch als Motto für die überaus hart an sich arbeitende Maria Callas gelten. Nicht nur als Ausdruck ihres später so berühmten Perfektionismus; die Zeiten allgemein waren hart. Im April 1941 hatte das nationalsozialistische Deutschland als Verbündeter von Benito Mussolinis Italien Griechenland überfallen und nach der raschen Niederwerfung unter anderem Athen besetzt. Das Besatzungsregime der Achsenmächte sah in dem Land lediglich eine Quelle von Rohmaterial und Arbeitskräften, die ausgebeutet werden konnten. Entsprechend brutal verfuhren die Besatzer. Die Folgen waren der Zusammenbruch der griechischen Wirtschaft, starke Inflation und eine massive Hungersnot, der Tausende zum Opfer fielen, gerade in der Hauptstadt. Entsprechend war der begehrteste Teil der Abendgage für die Sänger der Oper eine Extraration an Lebensmitteln seitens der Besatzungsmächte (deren Propagandaabteilung die Aufführung von Puccinis Oper verlangt hatte). Und es scheint, dass die junge Callas zum Durchkommen ihrer Familie dadurch beitrug, dass sie abends, nach stundenlangem Studieren und Proben tagsüber, Besatzungssoldaten in einem Nachtclub mit Schlagern wie Luigi Arditis Il bacio („Der Kusswalzer“) unterhielt. Doch nicht allein wegen solcher Umstände waren die siebzehn Aufführungen der Athener Tosca ein großer Erfolg, der sich nicht nur in ausverkauften Vorstellungen, sondern auch in positiven Rezensionen niederschlug. Allgemein wurde das große Talent der Protagonistin gelobt, auch wenn einige Rezensenten anmerkten, dass eine Achtzehnjährige noch viel zu jung für diese Rolle sei. Aber dass hier eine junge Künstlerin mit einer Stimme von Rang ebenso wie schauspielerisch zu überzeugen vermochte, musste selbst das Propagandablatt Deutsche Nachrichten in Griechenland zugestehen, das sich ansonsten eher herablassend gegenüber den Griechen zeigte.

Ein überzeugter Nationalsozialist wie der Athener Musikrezensent Friedrich W. Herzog konnte im August 1942 tatsächlich der Meinung sein, dass ihm und seiner Ideologie die Welt zu Füßen zu liegen habe. Der von den drei Achsenmächten (Deutschland, Italien und Japan) kontrollierte Raum hatte seine größte Ausdehnung erreicht. Heutige Historiker sehen zwar bereits für diese Periode deutliche Anzeichen der Überdehnung der Kräfte, doch für die Zeitgenossen konnten Namen wie Midway-Inseln im Pazifik oder El Alamein in Nordafrika allenfalls wie kleinere Rückschläge erscheinen; zu stark erschien die Bewegungsdynamik der vergangenen Monate. Gerade am Tage vor der Athener Tosca-Premiere titelten die deutschsprachigen Tageszeitungen in ganz Europa, dass die Hakenkreuzflagge nun auch auf dem Gipfel des Elbrus-Gebirges im Kaukasus wehe. Zur gleichen Zeit hatte die Vorhut der deutschen 6. Armee das westliche Wolga-Ufer erreicht: Hitlers Kalkül, die Sowjetunion von ihren Rohstoffzugängen im Süden abzuschneiden und dadurch nachgerade zu strangulieren, schien triumphal aufzugehen. Das Dritte Reich machte sich daran, nach den Sternen zu greifen.

2. „E lucevan le stelle“

Als am 27. August 1942 der Athener Startenor Antonis Delendas, der zuvor schon in Leipzig, Hamburg und an der Berliner Volksoper reüssiert hatte, Mario Cavaradossis wehmütiges, erinnerungsschweres Arioso im dritten Akt zu singen begann, leuchteten tatsächlich die Sterne. Die Aufführung fand unter freiem Himmel statt, auf der Freilichtbühne des repräsentativen Klafthmonos-Platzes nahe der Universität (den Leo von Klenze als Stadtplaner des ersten griechischen Königs, Otto von Wittelsbach, Aischylos-Platz hatte nennen wollen). Nach einem extrem kalten Winter – für München hält der Januar 1942 bis heute mit –30,5 Grad Celsius den Minusrekord – hatte der Sommer des Jahres in ganz Europa große Hitzewerte gebracht, mit über 40 Grad in der griechischen Hauptstadt. Für die Künstler auf der Bühne bedeutete dies in Zeiten des Hungers eine weitere Erschwernis, da die extreme Trockenheit den Stimmen keinen Gefallen tat, zumal auf einer Freilichtbühne. Aber die heißen, sternenklaren Nächte jenes Sommers hatten noch weitaus gravierendere Auswirkungen: Für den deutschen Vormarsch im Osten bedeutete dies zwar Wasserknappheit, aber gerade in der Steppenlandschaft zwischen Don und Wolga erlaubten die ausgetrockneten Böden ein Vordringen in atemberaubender Geschwindigkeit. Für die Luftwaffe waren es ideale Bedingungen, um die Bodentruppen tatkräftig zu unterstützen, sowohl zur Aufklärung als auch im Kampf gegen feindliche Stellungen. Überdies brachte das Jahr 1942 eine neue Dimension an Verheerungen aus der Luft: Die Luftwaffe des Dritten Reiches hatte bereits im Spanischen Bürgerkrieg (Guernica) das Flächenbombardement von ganzen Städten als Kriegsmittel erprobt; im Verlauf des Zweiten Weltkriegs wurden zerstörerische Bombenangriffe zur neuen Normalität, etwa in Warschau, Coventry und Rotterdam. An der Ostfront stand in dieser letzten Augustwoche der größten Metropole im südlichen Wolgaraum die Heimsuchung bevor: Stalingrad.

Zahlreiche Soldaten der deutschen Truppen an der Ostfront hatten bereits im Vorjahr am Balkanfeldzug bis zur Einnahme Athens teilgenommen. Nun, in der flimmernden Hitze des Augusts 1942, fühlten sich nicht wenige von den gleißend-weißen, kubistischen Bauten der sowjetischen Modellstadt am Hochufer der Wolga an Griechenland erinnert, einige gar an die Akropolis. Die Stadt selbst hatte bislang in der deutschen Kriegsplanung eine eher untergeordnete Rolle gespielt, erst am 20. August war sie erstmals offiziell als Kriegsziel genannt worden. Drei Tage später bereits erschien die Lage günstig, nicht nur den sowjetischen Nachschub über die Wolga zu unterbinden, sondern die Stadt selbst einzunehmen. Und nicht nur einzunehmen: zu vernichten. Wenige Tage später sollte Hitler selbst die Order erlassen, dass nach der Einnahme der Stadt, die Stalins Namen trug, die gesamte männliche Bevölkerung getötet und Frauen und Kinder deportiert werden sollten. Zu dem Zeitpunkt allerdings hatte sich die Millionenstadt bereits in ein flammendes Inferno verwandelt: An jenem 23. August 1942 begann das mehrtägige Bombardement aus der Luft, bei dem mehr als tausend Tonnen Sprengmittel die weiße Metropole in Schutt und Asche legten. Innerhalb von nur einer Woche kamen etwa 40 000 Menschen ums Leben. Die Schönheit eines wolkenlosen Sommerhimmels begann sich in ein Albtraumszenario zu verwandeln.

Auch im Gebiet des Deutschen Reiches wurde die tödliche Gefahr in Sternennächten allmählich deutlich. Während die Luftwaffe weit im Osten Krieg führte, machten sich im Reichsgebiet erste Mangelerscheinungen bei der Luftabwehr bemerkbar. Unter der skrupellosen Führung von Arthur Harris erlaubten technische Innovationen dem britischen Bomber Command, immer mehr und immer entferntere Ziele anzugreifen: Köln, Lübeck, Rostock waren die ersten großen Leidtragenden. Und dies mit immer verheerenderen Folgen – der Luftkrieg wurde zum Luftbrandkrieg. Die Behörden reagierten eher hilflos. In München etwa, das zwar bereits 1940 von britischen Angriffen erreicht, aber letztlich kaum berührt worden war, wurde in der letzten Augustwoche 1942 vom Reichsluftschutzbund und vom Reichspropagandaamt in der Mädchen-Oberschule an der Luisenstraße eine Aufklärungsausstellung unter dem Titel „Luftschutz – Wehrdienst der Heimat“ eröffnet, die reges (besorgtes?) Interesse fand. Doch bei strahlendem Wetter und Temperaturen um die 30 Grad schien München zu leuchten wie eh und je.

3. „Com’è lunga l’attesa …“

Am Abend des 28. August 1942 hatte der aufgehende Stern der jungen Maria Callas bereits zum zweiten Mal geleuchtet, das Publikum – unter ihnen zahlreiche italienische Militärangehörige – war begeistert. Die angesehene Kritikerin Alexandra Lalouni hatte in der Morgenausgabe dieses Tages in der Zeitung I Vradyni geschrieben: Die jugendliche Erscheinung der Kalogeropoulou „durchlebt diese Rolle bis zum Innersten ihrer Seele und überträgt die tiefsten Gefühle in das Publikum“. Doch Kriegszeiten sind immer auch Zeiten des bangen Erwartens, und ähnlich wie Floria Tosca im dritten Akt der Oper bedeutete Warten in allen Städten Europas zu diesem Zeitpunkt sowohl Hoffnung als auch Sorge. Die Stadt München sollte schon wenige Stunden nach dem Ende der Athener Aufführung dieses Tages Bestätigung erfahren, dass diese Sorgen berechtigt waren: Um 1.03 Uhr morgens ertönten Luftschutzsirenen, mehrere Häuser entlang der Brienner Straße und in ihrer Umgebung gingen in Flammen auf, auch das Deutsche Museum wurde erstmals getroffen. Ähnliches ereignete sich in dieser Nacht auch in Nürnberg und Augsburg sowie entlang der deutschen Küsten bis hin zur Danziger Bucht. Zwar bedeuteten die rund hundert Spreng- und 23 Flüssigkeitsbrandbomben, die über der Münchner Innenstadt abgeworfen wurden, nur einen winzigen Bruchteil des Horrors, der in den Tagesstunden derselben Woche über Stalingrad niederging; doch war nicht zuletzt die Hilflosigkeit der Behörden ein deutliches Zeichen, dass dies lediglich der Vorgeschmack auf Kommendes sein konnte. Selbst in dem hoffnungsfrohen Überschwang an der Ostfront konnte, wer wollte, erste drohende Anzeichen wahrnehmen: Die Brutalität der Angriffe hatte nicht die Entschlossenheit der Verteidiger gebrochen, sondern trug eher zum Gegenteil bei – Verteidigungsbereitschaft bis zum Letzten. Und waren die Tage auch noch heiß, so wurden die Nächte im kontinentalen Steppenklima der unteren Wolga bereits merklich kühler – erste Zeichen eines nahenden Winters, dessen Auswirkungen abermals nicht in den kunstvollen deutschen Kriegsplänen vorgesehen war.

4. „Ecco un artista!“

Für das Regime waren dies gravierende Nachrichten. Ein beträchtlicher Teil der Attraktivität Hitlers hatte stets darin bestanden, dass er sich als jemand inszenierte, der sich nicht an Regeln des Establishments zu halten brauchte, weil er als Außenseiter mit überlegenem Durchblick instinktiv die wahren Schuldigen erkannte, der unbeeinflusst von vermeintlich korrupten alten Eliten und überkomplizierten Bürokraten die besten Lösungen finden konnte und damit seinen Herrschaftsbereich in eine glorreiche Zukunft führen würde. Die neuerlichen Erfolge des Sommers 1942 ließen somit auch die Härten und Desaster des vergangenen Winters wegerklären. Aber eben nur, solange die Erfolgsserie hielt. Während die Propaganda auch im späten August noch Erfolge zelebrierte – etwa das Flaggenhissen auf dem Elbrus – war Hitler empört über solche Eskapaden, nicht einsehend, dass es nicht die Eigenmächtigkeiten einzelner Anführer an der Front waren, die seine erträumten Triumphe vereitelten, sondern seine überspannten Ziele, die Notwendigkeiten wie ausreichende Versorgung mit Nahrungsmitteln, Treibstoff und Waffensystemen schlichtweg ignorierten. In grenzenloser Verkennung der Lage übernahm Hitler selbst mehr und mehr Detailentscheidungen, wobei er skeptische Lagebeschreibungen von vornherein als Defätismus abtat. Eine solche Herrschaft, die wie die des nationalsozialistischen Deutschlands auf dem Charisma des nahezu fehlerlosen Führers aufgebaut war, konnte sich aber die Rückschläge der Folgemonate bis hin zur Katastrophe der Kapitulation der 6. Armee in den Ruinen von Stalingrad im Januar 1943 schlicht nicht leisten. Entsprechend machte auch Hitler selbst sich mehr und mehr in der Öffentlichkeit rar – und unterhöhlte damit selbst den schönen Schein des Regimes.

Freilich, auch in der zweiten Jahreshälfte 1942 veränderte sich die Kriegslage nicht sofort zum Schlechteren. Aber die ausbleibenden Erfolge an den verschiedenen Fronten, die immer heftiger werdenden Bombardements deutscher Städte und schließlich Stalingrad bedeuteten in psychologischer Hinsicht die Wende. Vom Winter 1942/43 an vermochte selbst die sinistre Kunst des Propagandaministers Joseph Goebbels nicht mehr, Hitler von Kritik und sogar Spott freizuhalten. Für mehr und mehr (nicht-jüdische) Deutsche ähnelte Hitlers Herrschaft in ihrem düsteren Glamour jener Leiche Scarpias, vor der sich Tosca allabendlich erschüttert-ungläubig wundert, dass dies derselbe sei, vor dem ganz Rom gezittert habe.

Im Falle des Dritten Reichs waren es allerdings nicht allein Gewalt oder die schwächer werdende Verführungskunst des Regimes, die den Krieg noch mehr als zwei weitere Jahre fortleben lassen sollten, auch wenn selbst im innersten Machtzirkel kaum jemand mehr an einen Sieg glaubte. Im Unterschied zu Scarpia, den das gewaltsame Ende durch die Hand Toscas plötzlich ereilt, verweigerte sich das Regime der Einsicht, dass der Krieg bereits im Dezember 1941 mit dem Scheitern vor Moskau und dem Kriegseintritt der USA zumindest als nicht mehr zu gewinnen zu gelten hatte. Die tatsächliche Erfahrung einer solchen Zäsur schien hingegen noch aufhaltbar zu sein. Entsprechend wurde nicht allein die Propaganda verstärkt, sondern insbesondere der ideologische Kern des Nationalsozialismus voll ausgespielt, der durchaus die Grundlage des gesamten Herrschaftssystems darstellte: Mit dem sich abzeichnenden Scheitern im Osten konzentrierte sich das Regime nun darauf, seine antisemitische Politik zur vollständigen Vernichtung aller Juden im Machtbereich zu steigern. Da dies nur mit der Bevölkerung als Komplizen (sowie in den meisten besetzten Gebieten mit Hilfe zahlreicher Kollaborateure) möglich war, hatte somit der Holocaust auch eine herrschaftsstabilisierende Wirkung – bis hin zur nahezu vollständigen Zerstörung.

5. „Avanti a Dio!“

Sowohl die Vorlage der Oper, Victorien Sardous Drama La Tosca (1887), als auch Puccinis Werk enden mit dem Selbstmord der Protagonistin, die erkennen muss, dass sie noch im Tode von Scarpia betrogen worden ist. Doch während bei Sardou die durch die Schauspielerin Sarah Bernhardt verkörperte Titelheldin ihr Leben mit einem Schimpfwort über „la canaille“, den Mob, endet, lassen Puccinis Librettisten Giuseppe Giacosa und Luigi Illica die Sängerin mit einer Anrufung Gottes sterben. In beiden Fällen brachte dies das Drama zu einem genügend bedeutungsvollen Ende. „Geschichte“ allerdings funktioniert nicht so, es gibt keinen universalen, alles umfassenden Handlungsbogen. Entsprechend muss jede Periodisierung, muss jede Erzählung von Geschichte eine Auswahl treffen und kann somit unmöglich vollständig, gar total sein. Diese Komplexität erklärt, warum Historiker immer wieder aufs Neue über Periodisierungen diskutieren – und auch, warum keine dieser Periodisierungen endgültig ist. Aus einer olympischen Perspektive war der Zweite Weltkrieg zweifellos vorentschieden, als die Vereinigten Staaten von Amerika unter Präsident Franklin D. Roosevelt nach Pearl Harbour und nach Hitlers Kriegserklärung endlich ihr volles Potenzial zugunsten der Alliierten in die Waagschale zu werfen begannen. Allein, für die Zeitgenossen war die Situation so eindeutig nicht, und oftmals, nicht nur im Krieg, bleibt hoffendes Klammern an eine bestehende Grundannahme die Regel, bis es nicht mehr anders geht. Die Geschehnisse des Kriegsjahres 1942 stellen ein Musterbeispiel für diese Psychologie der verweigerten Erkenntniszäsur dar, bis hin zu jener letzten Augustwoche, die sich durchaus als der wirkliche Beginn des Endes lesen lässt – wenngleich eines quälend langsamen Endes, das noch Millionen von Menschenleben kosten sollte.

Gleichzeitig illustriert aber auch die Geschichte jener Tosca-Produktion im besetzten Athen des Jahres 1942, dass nicht alle Details mit der großen Geschichte notwendigerweise übereinstimmen müssen, ohne dabei an Gültigkeit zu verlieren. Die junge Maria Kalogeropoulou würde nach ihrem Erfolg als Tosca noch einige große Rollen an der Nationaloper singen dürfen (unter anderem Leonore in Fidelio sowie Marta in Eugen d’Alberts Tiefland), ohne dabei jedoch im Athener Musikleben der Besatzungsjahre eine so zentrale Rolle zu spielen, dass man von jenem Augustabend als einem ganz großen Durchbruch sprechen könnte. Ihre wirkliche Karriere sollte erst nach dem Krieg, nach einem eher unerfolgreichen Zwischenspiel in ihrer Geburtsstadt New York, mit dem Engagement als La Gioconda (in der Titelpartie der gleichnamigen Oper) für die Arena di Verona starten. Dennoch ist es fraglich, ob ohne die vielfältigen Erfahrungen der jungen Kalogeropoulou in all ihrer Komplexität – und mit der Tosca des 27. Augusts 1942 als Beginn eines neuen Kapitels – die Kunst der Callas ihr volles Maß erreicht hätte.

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Marcus Pyka

Der Historiker und Judaist Marcus Pyka lehrt an der Franklin University Switzerland in Lugano. In seiner Forschung setzt er sich mit der Frage auseinander, wie europäische Gesellschaften Sinn stiften und vermitteln. In seinem Buch Heinrich Graetz – Jüdische Identität und Historiographie (Vandenhoeck & Ruprecht, 2008), das aus seiner Promotionsschrift an der Ludwigs-Maximilians-Universität München hervorgegangen ist, befasst er sich mit der Konstruktion jüdischer Identität mittels Geschichtsschreibung im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Seine aktuelle Forschung konzentriert sich auf den Einsatz von narrativen Sinnstiftungsstrategien sowohl in Texten wie in visuellen Medien und wie diese Strategien in Kultur, Politik und Geschichtsschreibung benutzt und verschränkt werden – sei es für den Zusammenhalt von Stadtgesellschaften im Rahmen des modernen Nationalismus oder das moderne Verständnis der Idee „Europa“. Er unterrichtet Weltgeschichte und Weltreligionen, die Geschichte des Nationalismus, des Konzepts der Revolution sowie die Geschichte der Biografik. Daneben gehören auch Stadtgeschichte und -entwicklung sowie Musik und Theater zu seinen Forschungsinteressen.

TOSCA

Melodramma in drei Akten (1900)