Seitenwechsel

von Annette Baumann

Viele sind Mitte Dreißig, manche schaffen es bis Anfang Vierzig, einige tauschen bereits mit Ende Zwanzig (Spitzen-)schuh und damit Metier: Das Berufsleben professioneller Balletttänzer:innen ist in aller Regel kurz. Wo andere im Beruf erst so richtig durchstarten, beginnt für Tänzer:innen bereits das Umdenken. Was mache ich, wenn ich nicht mehr tanzen kann?

Für jemanden, dessen Leben von Kindesbeinen an ausgefüllt war mit Pliés und Grands jétés, mit Klavierklängen und Theaterschminke, aber auch mit malträtierten Zehen und Muskelkater, ist dies oft ein schmerzlicher Prozess. Nicht alle können oder wollen im Theater bleiben, wenn sich der Vorhang hinter beziehungsweise vor ihnen geschlossen hat.

Häufig wechseln Tänzer:innen in einen der vielen Gesundheitsberufe, manch einer beginnt ein Studium in Kunst- oder gar Finanzwissenschaft, einige geben als Ballettpädagog:innen ihr Wissen an Kinder oder ambitionierte Laien weiter. Solist:innen, bei denen Repertoire und Stil der Compagnie sich über lange Jahre in die Künstler-DNA eingeschrieben haben und die das Ensemble gut kennen, bleiben ihrem Haus aber im besten Fall treu: als Ballettmeister:in.

Ballettmeister:innen geben Training, studieren Schrittkombinationen ein, leiten Proben und sind Coach; manchmal auch ein bisschen Psycholog:in. Ohne sie würden die verschiedenen Ballette wohl nie das Licht der Bühne erblicken. Aus eigener Erfahrung geben sie weiter, worauf es bei den schnellen Schrittfolgen in George Balanchines Rubies, bei der Ausführung eines Schwanen-Port de Bras oder bei der Rolleninterpretation einer Giselle genau ankommt.

Eine derjenigen, die dafür Sorge trägt, dass die Giselle auf der Bühne genau das zerbrechliche, zarte Wesen ist, das Choreograph Peter Wright 1974 bei der Uraufführung seiner Fassung im Kopf hatte, ist Judith Turos. Die Kammertänzerin feiert in dieser Spielzeit ihr 40-jähriges Jubiläum am Haus. 1981/82 wurde sie vom damaligen Ballettdirektor Edmund Gleede als Tänzerin an das Ballett der Bayerischen Staatsoper engagiert. Konstanze Vernon übernahm die Solistin bei Gründung des künstlerisch eigenständigen Bayerischen Staatsballetts, Ivan Liška ernannte sie schließlich zur Ballettmeisterin – eine Funktion, die sie nun seit fast zwei Jahrzehnten inne hat.
 

Für alle, die die Seiten wechseln, bedeutet dies zunächst eine Umstellung. „Ich habe bestimmt zwei Spielzeiten gebraucht, um mich vollständig zu adaptieren“, erinnert sich Turos. „Das Tanzen prägt dich sehr in deinem Charakter, du bist immer darauf fixiert, nach vorne zu schauen, zum Publikum beziehungsweise in den Spiegel. Was die Kolleg:innen neben einem machen, bekommt man oft gar nicht so genau mit. Man ist sehr mit sich selbst beschäftigt, arbeitet an der eigenen Karriere. Wechselt man die Seiten, musst man erstmal lernen, loszulassen.“

Psychologisches Geschick und ein hohes Maß an Empathiefähigkeit sind entscheidend in diesem Theaterberuf – ganz besonders in den Einzelcoachings mit den Solist:innen, bei denen es um eine individuelle und damit sehr persönliche Rolleninterpretation geht. „Der zwischenmenschliche Aspekt ist enorm wichtig, man muss die richtigen Worte für jeden einzelnen finden. Die Atmosphäre im Saal muss stimmen, die Tänzer müssen frei sein, um die Seele öffnen zu können“, so beschreibt Turos ihre Arbeit als Coach.

Die Herausforderungen, die als Ballettmeister:in auf die ehemaligen Tänzer:innen warten, sind in der Tat zahlreich. Dass man selbst eine erfolgreiche Bühnenkarriere hinter sich hat, ist quasi Voraussetzung. „Man muss das ganze Repertoire kennen, alle Schritte, auch den Stil des jeweiligen Choreographen. Dazu kommen musikalische Kenntnisse, außerdem die Fähigkeit zu organisieren. Man muss ja die Proben planen und strukturieren. Und man braucht neben Menschenkenntnis vor allem eines: Durchsetzungsvermögen. Als Tänzer lässt man sich gerne auch mal ablenken, ist mit dem Kopf woanders. Da ist man aber ja nur für sich und gegebenenfalls für den Partner verantwortlich. Aber als Ballettmeisterin geht es um das Ganze, das Resultat auf der Bühne“, resümiert auch Séverine Ferrolier.
 

Die Herausforderungen sind enorm: Ein Seitenwechsel zwingt einen zu grundlegender Flexibilität – beruflich und privat.

Die Französin, die neben ihrer Tanzkarriere ein Tanzpädagogik-Studium bei Alex Ursuliak absolvierte, ist mit dieser Spielzeit ebenso wie ihr Ensemble-Kollege, der ehemalige Erste Solist Javier Amo, als Ballettmeisterin tätig. Ihren Verpflichtungen im Charakterfach kommen beide selbstverständlich weiterhin nach.  Auch Javier Amo wird neben seinen Rollen in Cinderella und Coppélia ab diesem Jahr darauf achten, dass die assemblés-Sprünge des Corps-de-ballets synchron ausgeführt werden und die Arme einheitlich sind. Bei ihm war dieser Schritt glücklicher Zufall – oder auch vorbestimmtes Schicksal: „Ich hätte mir gut vorstellen können, etwas ganz Anderes zu machen. Aber dann kam unser Ballettdirektor Igor Zelensky zu mir und fragte, ob ich nicht mithelfen möchte. Nach und nach habe ich immer mehr Aufgaben übernommen und mir gefällt diese neue Position in der Compagnie sehr gut. Es ist ganz anders, früher musste ich selbst repräsentieren, jetzt darf ich mein Wissen an die Jüngeren weitergeben.“

Dass die Tänzer:innen ihre beiden neuen Ballettmeister von der Bühne kennen und schätzen, hilft bei der Arbeit sicherlich sehr. Beide haben viel weiterzugeben: Grenzenlose Leidenschaft, eine unglaubliche Disziplin und natürlich Respekt allen Mitarbeitenden und der Kunstform Ballett gegenüber. Was sie den Kolleg:innen mit auf den Weg geben möchte? „Gib alles, genieße die Karriere, solange du kannst und sei für dich selbst verantwortlich, aber nicht in einer egoistischen Weise. Und: „Listen to the Ballettmeister“ – sagt Ferrolier und verschwindet mit einem Lächeln zur nächsten Probe hinter der Türe im Ballettsaal.