2023: Wir leben in einer bereits seit mehreren hundert Jahren säkularisierten Welt, aufgeklärt, (post-)feministisch – sind Hochzeiten da nicht aus der Zeit gefallen?

Nein. Das glaube ich nicht. Gerade jetzt wäre es Zeit für Rituale. Nur gerade scheint es so, als würden wir uns kollektiv so vieler Rituale blindlings entledigen. Dadurch wird uns ein Raum genommen, der so viel für uns als Gesellschaft bedeuten kann.
 

Warum brauchen wir ritualisierte Ereignisse?

Rituale stiften Identität. Sie lassen uns an biografische Einschnitte erinnern, die außeralltäglich sind. Einschnitte, die uns bewusst werden lassen, wer wir sind und auch, wie wir sein wollen. Sie markieren Ereignisse, geben ihnen ein Datum, einen Rahmen, zelebrieren sie in einer Feier und schaffen auch Bedeutung. Und sie finden meist in Gemeinschaft statt. Kürzlich ist bei mir in der Familie – mir ist da ein technischer Fehler unterlaufen – ein Ritual weggebrochen: Mein jüngster Sohn hat in einem Schlag enttarnt, dass es weder den Osterhasen, noch den Nikolaus, noch den Weihnachtsmann gibt. Das mag jetzt amüsant klingen, aber ich fand es schockierend zu sehen, wie da ein Glaube zusammenkracht und ein geliebtes familiäres Ritual erstmal entkernt in der Luft hängt. Solche gemeinschaftsstiftenden Traditionen sind überkulturell. Ich war längere Zeit auf Bali, fernab des Touristentrubels im Inselinneren, und bin nachhaltig beeindruckt davon, wie ritualisiert ein immer wiederkehrender Alltag dort gelebt wird. Durch diese Abfolge von den immer selben Ritualen wurde jeder Tag gefeiert – schon am Morgen wird beispielsweise das Aufgehen der Sonne mit Blumengeschenken an das Meer als täglich neues Wunder begangen. Ich finde es extrem hilfreich für die Orientierung eines Menschen, Momente feiern zu dürfen.
 

Ritualisierte Prozesse können doch aber auch etwas Gefährliches haben, weil man sich dem Ritual hingibt, stumpf nachbetet, Dinge wiederholt und seinen Kopf ausschaltet und sich allem als passives Wesen ausliefert …

Das kann sicherlich so sein. Aber das ist nicht das Problem der Idee eines Rituals, sondern der Menschen, die Rituale begehen. Wir sind aktive Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Wir müssen sozusagen selbst Chefin oder Chef der Veranstaltung werden. Eine Hochzeit beispielsweise: Sie ist ein Ritual vor Zeugen. Das hat ein Potential, in uns so viel auszulösen, in Herz und Hirn. Und im Fall von Semeles Hochzeit eröffnet sich die Möglichkeit, dass sie sich selbst in ihrem Leben vor dem Altar noch einmal als Mensch überprüft. Erst durch diese Hochzeit wird ihr bewusst, wer sie als Mensch eigentlich sein möchte. Und daraufhin trifft sie eine folgenreiche Entscheidung. Kompromisse und rumlavieren hat spätestens da ein Ende, weil jede und jeder durch eine Hochzeit eine doch eher folgenreiche Entscheidung trifft.
 

Und sie beschließt, Athamas nicht zu heiraten …

Ja. Die Hochzeit ist der richtungsändernde Auslöser. Ein Ritual ist Hilfe, weniger eine Blockade. Und es passiert nicht selten, dass Menschen sich Monate oder auch ganz kurz vor einer Hochzeit entschließen, dass sie doch nicht heiraten wollen. Semele ist diese Welt, in der sie lebt, nicht genug Semele ist eine Frau, die das Unmögliche sucht und gefangen ist in in einer Welt, in der das nicht vorgesehen ist. Mythologisch will sie unsterblich werden.
 

In welcher Welt befinden wir uns in der neuen Münchner Inszenierung, und welche Welt steht ihr entgegen?

Die Welt, in der Semele sozialisiert wurde und bis zum Beginn der Oper gelebt hat, zeichnet sich durch Ordnung, Organisation und eine perfekt scheinende Oberfläche aus. Uns allen dürfte diese Welt relativ bekannt sein. Und hier wird sie zum Altar geführt. Im Prinzip auch alles an der Grenze des guten Geschmacks, ein hochstilisiertes perfektes Event – jedes Tischtuch arrangiert, der Ablauf durchgetaktet, polierte Gläser und unendliche Versuche, die glanzvollsten Hochzeitsbilder zu kreieren, ebenfalls inklusive. Im Grunde eine Hochzeit, die uns überall begegnen könnte, auf der wir zu Gast sein könnten.
 

Ein weißer Raum für diese Hochzeitsinszenierung der gesellschaftlichen Perfektion extra vom Brautpaar und der Familie für Unsummen angemietet …

Für manche ja auch heute traumhaft. Ein beinahe hyperrealistischer Raum. Michael Levine, unser Bühnenbildner, hat dafür alles so passend scharf konzeptioniert und gearbeitet – als könnte man die Figuren und Gäste der Hochzeit wie mit Stecknadeln in diesen Raum hineinpinnen. Die Psychologie der Figuren ist schon in der Räumlichkeit angelegt.
 

Es ist die zweite Arbeit mit Michael Levine, richtig?

Stimmt, aber es fühlt sich nach viel mehr gemeinsamer Vergangenheit an. Ich erinnere mich an die ersten Aufenthalte zu dieser Produktion in London, wo Michael lebt, wo wir gemeinsam über den Stoff nachgedacht haben. Mit Michael zu arbeiten ist wie mit dem Konzept und allen Figuren zum Psychoanalytiker zu gehen. Es hilft wahnsinnig im Erarbeiten der Stoffe, weil er alles auf den Kern hinterfragt. Und ausgehend von dieser Essenz aller Figuren entwickelt er dann das Bühnenbild und deshalb ist die Bühne ein Protagonist, der das alles in sich trägt.
 

Auch dieser weiße, glasklare Raum hat eine antagonistische Welt – eine Antithese …

Vielleicht ist diese Gegenwelt der Raum des kollektiv Unterbewussten. Die Federn, pechschwarz, beinahe monströs, setzen dem Klinischen etwas sehr Organisches entgegen. Sie befallen diese ordentliche, bis ins kleinste Detail strukturierte Welt und sorgen für Irritation. Es wirkt bedrohlich, aber auch unfassbar faszinierend. Es hat etwas von Wahnsinn und zugleich von Chancen. 

 

Semele ist in der Lage, dieses Entwicklungspotential wahrzunehmen?

Je organisierter Gesellschaften sind, desto höher ist der Druck auf Individuen, die in dieser geordneten Welt nicht sein wollen oder können. Tatsächlich nimmt Semele am Traualtar Dinge war, gleich zu Beginn der Oper, die einen magnetischen Reiz auf sie ausüben: Die Welt des Jupiter – Freiheit, das Andere und die Anarchie von Emotionen. Semele spürt, was ihr alles fehlt, sie will hinter die Fassade blicken, die gesellschaftlichen Lügen enttarnen und sich dem Leben ohne dieses internalisierte, einengende Regelwerk hingeben. Sie will die Wand einreißen und tut das auch buchstäblich. Um dann auf eine Entdeckungstour zu gehen, die in ihrem Fall aber nur eine Richtung kennen wird: weg von dem, wo sie eigentlich lebt.
 

Warum erkennen nicht mehr handelnde Figuren diese andere Welt? Viele sehen sie ja nicht einmal …

Nicht alle fühlen sich aufgrund ihrer Persönlichkeitsstruktur dem Anderen und dem Fremden hingezogen. Für mich ist Semele vergleichbar mit einer Künstlerin – die einmal den Blick von außen auf ihr Leben geworfen hat und in diesem Herauszoomen erkannt hat, was hinter der vermeintlichen Realität noch schlummern kann. Ihr Suchen ist beinahe ein künstlerischer Prozess. Und die einzige Figur, die dieses Potential noch in sich trägt, ist Athamas. Leider erkennt er das erst nach dem Ausstieg Semeles aus dieser geordneten Welt. Er entwickelt erst dann eine Wachsamkeit darüber, in welchem Rahmen er eigentlich handelt und was in dieser Welt vor sich geht. Erst dann beginnt er zu hinterfragen, wie er indirekt auf Semele eingewirkt hat – wie er durch seine Zuschreibung, was er in ihr als Individuum gesehen und anschließend in sie hineinprojiziert hat, auch ein Teil der Einengung und somit des Problems war.
 

Semele als Künstlerin hat den Antrieb zu spüren, was ihr an ihrer Welt nicht genügt. Was reizt Sie als Regisseur an künstlerischem Arbeiten?

Meine eigene künstlerische Arbeit ist immer von einem gewissen Forscherdrang angetrieben. Ich bin fasziniert von dem, was ich nicht verstehe, was ein Geheimnis in sich birgt. Das zieht mich an. Und es geht mir dann nicht darum, alles vollkommen zu verstehen, vielmehr in Berührung mit etwas zu kommen, das ich noch nicht kenne. Da begebe ich mich gern auf unsicheres Terrain. Natürlich immer in sicherer Umgebung – Kunst funktioniert für mich nie ohne Limitierung. Aber es ist ein dosiertes Ausloten. Grenzen setzen und diese sprengen. Und durch diesen Prozess erfährt man mehr über sich selbst und die Welt, in der man lebt.
 

Die Liebe zum Psychologischen in Ihren Inszenierungen ergibt ein fabelhaftes Match mit Semele von Georg Friedrich Händel – dabei ist es eigentlich noch nicht einmal eine Oper, sondern ein Oratorium. Ist das typisch für Händel?

Semele ist als Oratorium veröffentlicht worden und es wird heute auch in den Werkkatalogen noch so geführt. Aber es ist eine Oper. Händel selbst hat es ja untertitelt mit „opera after the manner of an oratorium“, was eher den Versuch darstellte, im damaligen England eine englischsprachige Oper zu etablieren und in das Gewand des viel beliebteren Genres, des englischsprachigen Oratoriums, zu hüllen. Es war ein Kniff, die Be dürfnisse des Publikums ernst zu nehmen und dennoch für die englischsprachige Oper einzutreten, an der sich schon mehrere Komponisten davor die Zähne ausgebissen hatten. Ich bin sicher, dass Semele immer für eine szenische Aufführung gedacht war. Die Figuren sind dramaturgisch und kompositorisch mit emotionaler Tiefe angelegt, mit Brüchen und gegensätzlichen Gefühlen, was zu einem sehr tragenden und spannungsgeladenen dreistündigen Handlungsbogen führt. Ich denke oft an meine Zusammenarbeit mit dem Dirigenten Nikolaus Harnoncourt, der mir die Ohren für Musik dieser Zeit und der darauffolgenden geöffnet hat. Wir hatten damals einen Extremfall: Lucio Silla von Wolfgang Amadeus Mozart. Gefühlt dauert da jede Arie knapp zehn Minuten und funktioniert immer nach dem Kompositionsprinzip „Da capo“, also A B A’. Zehn Minuten mit manchmal nur einer Sängerin oder einem Sänger auf der Bühne über einen ganzen Abend hinweg spannend und abwechslungsreich zu erarbeiten, ist alles andere als einfach gewesen. Und mit Da-capo-Arien wirklich zu arbeiten, dafür hat mich Harnoncourt sensibilisiert. 
 

Eigentlich ist das, was Sie in Ihrem Konzept verfolgen, zwei sich entgegenstehende und scheinbar unvereinbare Welten und eine Hauptfigur, die zwischen beiden hin- und hergerissen ist, somit auch im rein Formalkompositorischen im A B A’ abgebildet? 

Da-capo-Arien sind immer die musikalische Behandlung von These und Antithese. Sänger und Sängerinnen behaupten im A-Teil etwas, treten dann im B-Teil kurz aus der gesungenen Handlung heraus, um dann im A’-Teil ihrer Arien das komplette Gegenteil zu behaupten – der Text wiederholt sich bei A und A’ zwar, aber durch die musikalische Improvisation bei A’ und die dann künstlerisch individuelle Interpretation entwickelt sich das in etwas ganz Neues. Dieser Widerspruch, diese zwei Blickwinkel der emotionalen und intellektuellen Figurenzustände in nur einer Arie, schafft eine enorme Dichte, wo man anfangs nur Repetition vermutet. 
 

Es hat beinahe etwas Maschinelles, dann aber doch emotional unterfüttert – die Mischung aus Regelhaftem und Freiheit, auch sehr nah an der Handlung von Semele …

So endet auch der Abend. Das Brutale ist, dass die Gesellschaft, in der Semele aufgewachsen und sozialisiert wurde, ihren Ausbruch zur Kenntnis genommen haben muss. Nur bleibt es dabei. Eine Figur zu beobachten, die sich entscheidet, mehr zu wollen, und auf eine Reise und daran zu Grunde geht, da müsste sofort Mitleid entstehen. So sollten wir als Gesellschaft eigentlich funktionieren. Aber mitnichten! Am Ende wird Ino, Semeles Schwester, flugs mit Athamas vermählt. Und das System, in dem diese Ehe stattfindet, ignoriert, ja unterdrückt beinahe die Geschichte und die Zerstörung von Semele, und macht so weiter, als wäre nichts gewesen. Dabei ist etwas Existentielles passiert: Ein Individuum war nicht einverstanden mit einem glatten, organisierten und festzementierten Plan von Gemeinschaft und  individuellem Glück – und das Einzige, was Semele als Ausweg geblieben ist, war der Ausstieg. Die freie Entfaltung ist in einer hermetisch abgeschlossenen Welt nicht vorgesehen. Zur Not fällt dem Erhalt eines Gesellschaftssystems hier ein Mensch zum Opfer. 

Semele

Komponist Georg Friedrich Händel. Libretto nach William Congreve.
Oper nach Art eines Oratoriums (1743)