"Onegin" aus der Sicht von Reid Anderson
Er erlebte Ende der 1960er Jahre John Cranko noch als Tänzer und pflegte dessen Erbe rund 20 Jahre lang als Intendant des Stuttgarter Balletts: Reid Anderson. Bis heute studiert er weltweit die großen Handlungsballette Crankos ein und vermittelt Technik und Geist dieses großen Geschichtenerzählers. Im Januar 2024 erarbeitet er mit dem Bayerischen Staatsballett sein vielleicht bekanntestes Werk, Onegin. Im Gespräch erzählt er vom Menschen John Cranko, einer schicksalshaften Weihnachtsfeier und einem Choreographen als "Life-Changer".
Annette Baumann (AB): Sie haben selbst noch mit John Cranko gearbeitet, in den 1960-er Jahren hat es Sie als Kanadier überraschend nach Stuttgart verschlagen. Wie kam es dazu?
Reid Anderson (RA): Das habe ich alles einer Weihnachtsfeier in London zu verdanken. Ich habe meine Ausbildung an der Royal Ballet School in London gemacht, bin aber nicht ins Royal Ballet aufgenommen worden. Im Jahr drauf kam ich zurück, um über die Weihnachtszeit mit dem Opernballett zu arbeiten – wobei ich natürlich viel lieber in einer richtigen Ballettcompagnie getanzt hätte. Ich wurde dann auf die Weihnachtsfeier der Schule eingeladen. Erst wollte ich nicht hingehen, ließ mich aber überreden. Auf der Feier habe ich die Bekanntschaft von Barbara Fewster gemacht, der Grande Dame der Royal Ballet School damals. Ich hatte sie als eine Art Mutprobe zum Tanzen aufgefordert. Sie erzählte mir von John Cranko und dass er für seine Stuttgarter Compagnie gerade Männer suchen würde. Cranko kannte ich, ich hatte seinen Romeo gesehen. Aber ich hatte keine Ahnung, wo Stuttgart lag. Ich habe meine Eltern dann tatsächlich um Geld für den Flug gebeten und bin im Januar zum Vortanzen geflogen. Und wurde genommen.
AB: Was war Cranko denn für ein Mensch? Wie erinnern Sie ihn?
RA: Ich kann Ihnen von meiner ersten Begegnung mit ihm erzählen: Ich bin am 4. Januar 1969 im Stuttgarter Theater angekommen und stand etwas verloren am Bühneneingang herum. Ich konnte ja auch kein Wort Deutsch. Da kam zufällig Crankos Assistentin Anne Woolliams vorbei. Sie sagte einfach: „Komm, ich nehme dich mit in die Kantine. Das Vortanzen ist erst morgen.“ Wir sind in die Kantine gegangen und ich wurde allen vorgestellt: „Das ist Dieter Graefe, der heute übrigens mein Mann ist, das ist Ann. Und das ist John.“ Ich dachte erst, das kann nicht John Cranko sein. Stell dir vor, ich wäre zum Royal Ballet reingelaufen und mir wäre Sir Frederick Asthon als Fred vorgestellt worden. Unvorstellbar! John war wie ein ganz normaler Mensch. Hat sich normal mit mir unterhalten, er mochte Kanada. Er hatte kein Büro, sondern saß immer in der Kantine, rauchend. Und er hat dauernd Kreuzworträtsel gelöst, wenn er nicht geprobt hat. Er war ein sehr zugänglicher, offener Mensch.
Am nächsten Tag habe ich vorgetanzt und wurde gleich gefragt, ob ich so schnell wie möglich anfangen könnte, wenn es nötig wäre. Tatsächlich habe ich eine Woche später ein Telegramm erhalten: „Kannst du kommen? Stopp. Wir gehen auf Tour nach Amerika. Stopp. Brauchen dich sofort. Stopp.“ Einen Monat später war ich in Stuttgart.
AB: Aktuell studieren Sie den Onegin mit dem Münchner Ensemble ein. Sie haben das Werk selbst getanzt, kennen es in- und auswendig. Was bedeutet Ihnen Onegin?
RA: Mein erstes Ballett in Stuttgart war Romeo und Julia. Direkt danach wurde Onegin gespielt. Ich kannte das Stück nicht und dachte erst: Was ist One Gin für ein Ballett? Wenn es eine Serie wäre, hieße der zweite Teil dann Two Gins? Ich hatte Puschkin nie gelesen. In Kanada war Shakespeare Schullektüre. Jedenfalls sah ich meinen Namen auf der Besetzungsliste. Aber ich konnte mich in der Gruppe nirgends finden. Also bin ich zu John in die Kantine und habe ihn gefragt. Er sagte nur „Du musst weiter oben gucken.“ Und da sah ich, dass ich als 19-jähriger Newcomer als Gremin besetzt war! Der Pas de deux zwischen Tatjana und Gremin ist einer der schönsten und auch schwierigsten, den Cranko erschaffen hat. Er ist Ausdruck puren, liebevollen Respekts zwischen zwei Menschen!
Mein Aha-Erlebnis war damals, dass ich alles, wirklich die ganze Story, verstanden habe – ohne sie zu kennen. Ich konnte nicht glauben, dass es etwas so Schönes gibt, dass man es versteht, ohne zu wissen worum es eigentlich geht. Das macht Cranko aus.
AB: Ist damit das „Ballettwunder“ gemeint, von dem im Zusammenhang mit Stuttgart gesprochen wurde und wird? Was war das Besondere an Crankos Balletten zu dieser Zeit?
RA: Zu dieser Zeit war Ballett eine ziemlich künstliche Angelegenheit, man denke an Dornröschen oder Schwanensee. Und dann sehen Sie im Gegensatz dazu den zweiten Akt von Onegin. Die Tänzer laufen auf der Bühne. Sie laufen wie normale Menschen. Sie weinen wie normale Menschen. Sie reagieren aufeinander. Was bei Cranko zählt, ist die Reaktion, nicht die Aktion. Die Art und Weise, in der Lenski den Handschuh wirft, Onegin zum Duell auffordert. Ich hatte so etwas zuvor noch nie gesehen, ich war buchstäblich fertig. Die Zuschauer waren elektrifiziert.
Ich denke, das ist das Geschenk, das John der Welt gemacht hat: Es geht ums reale Erleben, um Wahrhaftigkeit.
John sagte immer: Es gibt viele, die die Schritte ausführen können. Aber nur wenige können wirklich tanzen. Es geht nicht darum, wer wann und mit wem. Es geht um das Warum. Das ist eine ganz andere Art, auf diese Kunstform zu schauen, als es bis dahin üblich war. Die Tänzerinnen und Tänzer haben sich auf ganz natürliche, realistische Art auf der Bühne bewegt. Das war nicht mehr künstlich, es war echt. Das versuche ich jetzt auch in München zu vermitteln. Die Tänzer müssen Menschen sein auf der Bühne, müssen aufeinander reagieren, müssen darstellen.
AB: Das führt mich zu einer weiteren Frage. In den letzten Jahren gab es immer wieder Choreographen, die sagten „Die Technik heute ist unglaublich, die Tänzer sind unglaublich. Aber es fehlt das Künstlerische.“ Sehen Sie das auch so?
RA: Ich würde sagen, an der Aussage ist schon etwas Wahres dran. Man braucht in einer Compagnie auf jeden Fall eine Persönlichkeit, einen Direktor oder einen Choreographen, die wissen, wie man das künstlerische Potenzial aus den Tänzern herausholt. Ich denke, ein bisschen liegt das auch an den ganzen Wettbewerben, an denen vor allem die jungen Tänzer aus den USA teilnehmen, aber auch viele aus Europa. Die denken dann, je höher ich springe, je mehr ich drehe, desto besser. Aber das ist genau, was John sagte:
Es geht nicht darum, die Schritte auszuführen. Es geht darum, wie du sie ausführst.
Wie du den Bewegungen eine Bedeutung gibst, wenn sie etwas bedeuten sollen. Das funktioniert bei modernen Handlungsballetten wie denen von Christopher Wheeldon. Das geht aber auch bei einem Schwanensee, wenn du das möchtest.
Compagnien wie das Bayerische Staatsballett können das. Das Ensemble ist sehr gut trainiert, sehr professionell, auf einem Level mit Paris, London oder dem American Ballet Theatre. Wirklich gute Compagnien wissen mit all diesen Anforderungen umzugehen. Aber dann gibt es natürlich auch junge Tänzerinnen und Tänzer, die kommen von einer fantastischen Schule, tanzen fantastisch, aber sie wurden nie mit dem konfrontiert, was diese Kunstform im Innersten ausmacht.
AB: Denken Sie, dass heute und in der Zukunft noch einmal ein Ballettwunder geschaffen werden kann?
RA: Ja, ich denke schon. John Neumeier hat ein solches Ballettwunder geschaffen. Oder Balanchine seinerzeit, er hat auch einen Stil kreiert, der unverwechselbar ist. Ich denke ein neues Ballettwunder ist möglich, aber es braucht jemanden mit einer Vision und es muss etwas ganz Neues sein. Man versucht dem Publikum ja nicht nur das zu zeigen, was es sehen will, sondern man möchte es auch bilden. Als Choreograph muss man es schaffen, sich von Vorbildern zu lösen und seine eigene Stimme zu finden. Natürlich wird man von anderen Stilen, von dem, was man kennt, geprägt. Manches färbt auf einen ab. Jiri Kilian, William Forsythe, Uwe Scholz waren solche Leute.
Also, ich denke schon, dass ein neues Ballettwunder auch heute möglich ist.
AB: Kommen wir zurück zu John Cranko. Was ist das besondere an seinem Stil? Sie hatten ja bereits die Pas de deux angesprochen.
RA: Die Pas de deux, vor allem die Hebungen, sind in der Tat besonders. Sie sind sehr kompliziert, finden oft über dem Kopf des Partners statt. John hatte immer nur eine grobe Struktur in seinem Kopf, wenn er ins Studio kam. Er kannte die Musik in- und auswendig, er hörte sie jede Nacht meist zwischen zwei und sechs Uhr morgens. Der Rest kam einfach aus ihm heraus. Das war wie Magie. Mit den Tänzerinnen und Tänzern gemeinsam hat er dann stundenlang rumprobiert, bis es geklappt hat. Dadurch, dass er selbst noch nicht genau wusste, wie die Bewegungen funktionieren sollen, waren letztlich alle Teil des Prozesses. Wir haben gemeinsam herausgefunden, wie man von A nach B kommt. Dabei sind besondere und einzigartige Bewegungsabläufe entstanden.
Heute kommen die Tänzer oft gut vorbereitet ins Studio. Es gibt ja alles auf Video, findet sich im Netz. Aber etwas gesehen zu haben und etwas selber auszuführen zu können, das sind zwei ganz verschiedene Dinge. Da muss man viel erklären: Wo und wie genau musst du die Partnerin halten, wie drehst du sie etc. Das hat etwas sehr Mechanisches.
AB: Haben Sie persönlich eine Lieblingsstelle oder einen Lieblingsmoment in diesem Ballett?
RA: Das ist der letzte Akt, der letzte Pas de deux von Tatjana und Onegin. Du kannst dich darin verlieren. Nicht vollständig, dafür ist diese Stelle technisch zu anspruchsvoll. Wenn man völlig loslässt, wird es gefährlich. Der Pas de deux startet ruhig, aber dann wird es kontinuierlich immer anspruchsvoller. Technisch und emotional. Technisch würde ich sagen, ist das der schwerste Pas de deux überhaupt in diesem Stück. Der härteste. Du bist fertig. Auch mit den Emotionen. Wenn du den richtig ausgeführt hast, bist du am Ende buchstäblich am Ende.
AB: Welche Auswirkung hat eine solche Erfahrung auf einen Tänzer? Ändert man sich dadurch auch als Mensch?
RA: Diesen Pas de deux zu tanzen, Cranko zu tanzen, ist lebensverändernd.
Cranko ist ein "Life-Changer".
Diese Erfahrung verändert dein Leben für immer.
AB: Was meinen Sie, wird Cranko in 50 Jahren immer noch getanzt werden?
RA: Ich denke ja. Ich bin mir nicht sicher, denn 50 Jahre sind eine lange Zeit. Aber andererseits spielen wir seine Werke bereits seit 50 Jahren. Wir haben erst 2023 Jahr an seinen 50. Todestag erinnert. Natürlich kommt es mir immer noch wie gestern vor, ich kann nicht glauben, dass wir nun schon seit 50 Jahren seine Werke lebendig halten. Bis heute ist John Cranko einer der meist gespielten Choreographen von Handlungsballetten. Und wir geben seine Werke immer noch von Generation zu Generation weiter. Erst war es Glen Tetley, dann Marcia Haydée, anschließend ich. Jetzt kümmert sich Tamas Detrich um Crankos Erbe. Wenn ich so zurückblicke, finde ich es fast beängstigend, wie sich mein Leben entwickelt hat. Ich konnte immer das tun, was ich tun wollte. Ich habe das nie als Arbeit empfunden. Ich würde sagen, ich hatte verdammt viel Glück.
Herr Anderson, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
Das Interview führte Annette Baumann.