Warten, um zusammenzuleben

Sidi Larbi Cherkaoui über die Schönheit des Wartens, queere Perspektiven und das richtige Timing in Hanjo, im Interview mit Katja Leclerc.

Lesedauer: 5 min. 


Als der japanische Autor Yukio Mishima Hanjo in den 1950ern zu einem Theaterstück umschrieb, griff er auf die Vergangenheit und die Tradition zurück, wollte es aber in die Moderne übertragen, in seine Zeit. Wie verstehen Sie die Geschichte, die uns Hanjo erzählt, im Jahr 2023?

Das alte Nō-Stück Hanjo aus dem 14. Jahrhundert nähert sich einer Liebesgeschichte, indem es sie glücklich enden lässt: Die Liebenden treffen sich schließlich doch. So, wie Mishima die Geschichte nacherzählt, betritt sie in meiner Interpretation einen Bereich queerer Kodierung. Mishima selbst war ein schwuler Mann, auch ich bin ein schwuler Mann.

Die 1950er Jahre waren eine Zeit der Intoleranz gegenüber Homosexuellen. Man musste sehr kreativ sein, um über seine queere Identität sprechen zu können. Man musste auch sehr kreativ sein, um sein persönliches Wesen ausleben zu können. Und so denke ich, dass es auch in Mishimas Hanjo ein Happy End gibt, auch wenn die beiden ursprünglichen Liebenden Hanako und Yoshio nicht mehr zusammenkommen.

Es ist ein Happy End zwischen den beiden Frauen, Hanako und  Jitsuko. Versteckt zwar, weil es für die Gesellschaft, in der das Theaterstück geschrieben wurde, so schwer zu akzeptieren war. Also mussten die Frauen an der Erzählung von „Ich warte auf einen imaginären Yoshio, der wie ein Märchenprinz kommen wird“ festhalten. Aber in der Zwischenzeit können sie das Warten tatsächlich als eine Art zusammen zu sein erleben . Das Warten auf den Tod, aber auch das Warten als eine Form, im Moment zu sein und diesen Moment gemeinsam zu genießen.


Was passiert mit dem Stoff, wenn die Musik von Toshio Hosokawa hinzukommt und Hanjo in eine Oper übertragen wird?

Die Musik ist wunderbar geschrieben, eine Art sprechende zeitgenössische Musik. Sehr weit entfernt von jeglichen Klischees von japanischer Kultur. Hosokawa vermeidet die typischen melodischen Linien, die Teil der Kultur sind, aus der er kommt. In gewisser Weise wird die Musik zu einer Form des Rhythmus, der Musik gestaltet, so wie wir normalerweise sprechen würden. Wenn wir sprechen, gibt es Zögern.
Es gibt Momente der Unterbrechung, weil wir nachdenken.

Diese Momente des Nachdenkens, diese Momente des Lesens zwischen den Zeilen, finden in der Musik statt. Sie ist also eine Übersetzung, würde ich sagen, des Denkprozesses, die nicht immer schön ist, oft sogar ziemlich verstörend und verworren. Und manchmal sehr leise und dann wieder sehr laut. 


Fügt Hosokawa der Art und Weise, wie die Geschichte verstanden werden kann, eine neue Wendung hinzu?

Die Oper unterstreicht die heteronormative Lesart der Geschichte. Wenn man die Handlung aus diesem Blickwinkel betrachtet, erscheint Hanako als eine verrückte Frau, die nicht weiß, wie ihr der Kopf steht. Und Jitsuko erscheint als eine ältere lesbische Frau, die die Jüngere geradezu missbraucht. So möchte ich die Geschichte nicht verstehen.


Glauben Sie, dass Mishima eine Art Utopie geschrieben hat, mit queerem Happy End?

Ich finde nicht, dass diese Geschichte eine Utopie ist. In unserer queeren Lebenserfahrung mussten und müssen wir so oft mit Lügenkonstrukten umgehen und leben. Das Stück versucht zu erzählen, wie zwei Frauen in den fünfziger Jahren eine Geschichte erfinden müssen, um zusammenleben zu können. Das erscheint mir eine sehr plausible Interpretation von Mishimas Text, denn wenn wir eines über das Theater im Allgemeinen wissen, dann dass das, was geschrieben steht, nicht die wortwörtliche Wahrheit ist.

Man muss zwischen den Zeilen lesen. Genau das versuche ich zu tun. Ich hinterfrage jede Aussage: Was meint sie wirklich? Was denkt sie wirklich? Denn oft ist es nicht so schwarz-weiß, wie wir annehmen.

 
Auch aus einer heterosexuellen Perspektive bietet die Auflösung der Inszenierung eine interessante, positive Aussicht: Warum sollte man sich nicht für das Leben mit einem Menschen entscheiden, den man mag und der einen versteht, auch jenseits von sexueller Anziehung? Anstatt die Zerbrechlichkeit und die Ängste einer idealisierten romantischen Liebe durchzumachen.

Das ist sehr hilfreich zu hören. Im Idealfall machen wir diese Figuren für jede:n einzelne:n Zuschauer:in nachvollziehbar. Für mich sind sie auf jeder Ebene ein Spiegelbild von uns.


In der Liste der Charaktere wird Hanako als „ein verrücktes Mädchen“ beschrieben. Als ich das Libretto las, habe ich sie nie so gesehen. Welche Anhaltspunkte gibt es, um diese Verrücktheit zu verstehen?

Für mich ist Hanakos „Verrücktheit“ ein Missverständnis.
Sie ist nicht verrückt. Als Geisha wurde von ihr erwartet, zu schauspielern und zwischen Kunden zu wechseln, auch sexuell mit vielen Partnern in Verbindung zu stehen. Für den Wunsch, privat zu sein, die Dinge stärker bei sich zu behalten und normal zu sein, was auch immer „normal“ bedeuten mag, dafür würde eine Geisha als „verrückt“ angesehen. Ich denke also, wenn man sagt, dass sie verrückt wurde, wollte sie einfach ein normales Leben führen.
 

Das war für die Madame, für die sie arbeitete, inakzeptabel. Aber es war etwas, was die Künstlerin Jitsuko bereit war anzubieten. Jitsuko wusste die Schönheit von Hanakos Wesen zu schätzen, das wie eine Blume ist, die sich selbst verschließt, dabei aber immer noch sehr lebendig ist. Die ältere Frau nimmt die Jüngere unter ihre Fittiche, liebt sie im weitesten Sinne, aber teilt diese schönen Momente nicht mit anderen. Sie malt Hanako, zeigt diese Bilder aber nicht in Ausstellungen. Sie schafft sich ein Privatleben mit ihr. 


Hanako sitzt schon seit drei Jahren täglich am Bahnhof. Die Oper beginnt und endet mit ihrem Warten. Was steckt hinter dem Symbol des Wartens? 

Man könnte das ganz einfach verstehen: Hanako wartet auf die Rückkehr ihres Ex. Das ist ein anerkanntes Verhalten:
Ich bin eine Frau, die auf einen Mann wartet. Aber man könnte es auch anders verstehen: Hanako vollzieht das Warten öffentlich als eine gesellschaftlich akzeptierte Form dafür, ihr Leben im Verborgenen mit einer Frau zu leben.

Wir als queere Menschen brauchen oft eine solche Ausrede, um zusammen sein zu dürfen, vor allem bevor gleichgeschlechtliche Ehen legalisiert wurden. Und das ist erst seit kurzem möglich – das Stück wurde vor dieser Zeit geschrieben. Dieser Zustand des Wartens ist auch eine wunderbare Sache. 


Die Fragen stellte Katja Leclerc

JA, MAI

Das Festival für frühes und zeitgenössisches Musiktheater