Wasser des Todes,
Wasser des Lebens


Text: Marina Davydova

Geboren im aserbaidschanischen Baku, studierte Marina Davydova Theaterwissenschaft in Moskau. Sie ist Festivalleiterin, Theatermacherin sowie Theaterkritikerin und -historikerin. Heute ist sie Chefredakteurin der russischen Zeitschrift teatr. In ihrem Porträt über Dmitri Tcherniakov zeichnet sie den Regisseur nicht einfach nur Satz für Satz nach, sie durchdringt ihn und seine Arbeit förmlich mit kluger Präzision. Von 2024 an wird sie das Schauspiel bei den Salzburger Festspielen leiten.

Illustration: Yvonne Gebauer


 

Der russische Regisseur Dmitri Tcherniakov arbeitet nach einem Grundsatz: Wer die klassische Oper zu neuem Leben erwecken will, muss sie zuvor auseinandernehmen.

In den ersten Wochen des neuen 21. Jahrhunderts hatte auf der Bühne des Mariinski-Theaters in Sankt Petersburg Dmitri Tcherniakovs Inszenierung der Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch Premiere, rund hundert Jahre nach der Uraufführung dort. Tcherniakovs Interpretation, die mit sämtlichen Konventionen der russischen Opernbühne brach, kam scheinbar aus dem Nichts, wie ein Komet am dunklen Morgenhimmel. Die zwei Lager aus gleichermaßen leidenschaftlichen Fans und Gegnern des Regisseurs, die sich quasi sofort nach der ersten Vorstellung bildeten, staunten unisono: Wer war dieser junge Mann, den keiner kannte und der es da wagte, sich am Allerheiligsten der russischen Kultur, am klassischen Opernrepertoire zu vergreifen?

Wenige Jahre später sollte Tcherniakov in seine Inszenie- rung des Eugen Onegin am Moskauer Bolschoi-Theater (2006) ein sarkastisches Porträt dieser Traditionalisten einbauen: In der Duellszene ließ er Lenski in derselben Pelzmütze auftreten, die 1940 schon Sergej Lemeschew, den legendären Interpreten dieser Partie, geziert hatte, und während Lenskis letzter Arie saß neben ihm plötzlich eine alte Dame auf einem Stuhl, die stumme Gesten der Begeisterung vollführte – ein Seitenhieb auf den Typus so rührender wie komischer Liebhaberinnen klassischer Inszenierungen.

Es bedurfte nicht nur eines großen Talents, sondern auch einiger Besessenheit, um aus dem weihevollen, von konservativen Zuschauern, einflussreichen Primadonnen und mächtigen Intendanten sorgsam bewachten Raum der russischen Oper einen Ort des Gesprächs über die wichtigen Fragen der Gegenwart zu machen. An Besessenheit allerdings hat es Tcherniakov nie gemangelt. Schon als Schüler stand er stunden-, oft auch nächtelang nach Karten fürs Bolschoi-Theater Schlange. Mit 16 trat er an eben diesem Theater eine Stelle als Beleuchtungsassistent an, um dem verborgenen Leben hinter den Kulissen möglichst nahe zu sein. Und er machte in jungen Jahren schon rastlos Jagd auf sämtliche Aufzeichnungen von Arbeiten der großen westlichen Opernregisseure, die er in die Finger bekommen konnte – in puncto internationale Inszenierungen ist er nicht weniger beschlagen als noch der ehrwürdigste Theaterhistoriker. Damals, kurz nach der Perestroika, hatte der Eiserne Vorhang sich eben erst ein wenig gehoben, und die Welt dahinter war von magischer Anziehungskraft.

Schon zu dieser Zeit empfand er sich als Kosmopolit. Während die meisten russischen Regisseure davon träumen, mit einem festen Ensemble an ihrem eigenen Haus zu arbeiten, geht Tcherniakov einem Engagement dieser Art bislang konsequent aus dem Weg. Am wohlsten fühlt er sich, glaubt man seinen Interviews, in Hotels und Flughäfen entfremdeten, exterritorialen Räumen. Er arbeitet häufiger im Ausland als in Russland. Er hat ganz gezielt einen Weltbürger aus sich selbst geformt, der in keiner Stadt dieser Erde verwurzelt ist und darauf manchmal fast stolz zu sein scheint. Doch trotz dieses betonten Kosmopolitismus verbinden ihn – oder genauer: seine Erinnerung – nicht nur dünne Fäden, sondern armdicke Seile mit Russlands Vergangenheit, und gerade an seiner Kitesch-Inszenierung, die die Geschichte des russischen Musiktheaters in ein Vorher und ein Nachher geteilt hat, zeigt sich das deutlich.

 

 

(1) Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch: Der Nebel schwindet; die verwandelte Stadt Groß-Kitesch wird sichtbar; am Westtor die Himmelfahrts-Kathedrale und der Fürstenpalast; hohe Glockentürme; helles blau-weißes Licht. ©Iwan Bilibin (Paris 1929).
(2) Nikolai Rimski-Korsakow: Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch and De Nederlandse Opera. Regie: Dmitri Tcherniakov. Szene mit Svetlana Ignatovich (Fevronja) und Maxim Aksenov (Prince Vsevolod). © Monika Rittershaus

Nikolai Rimski-Korsakows auf einer volkstümlichen Legende beruhendes Werk lässt dem Regisseur wenig Chancen, nicht in süßlichen Kitsch zu verfallen: Wie soll man auf der Bühne denn umgehen mit all den Löwen, Einhörnern und Paradiesvögeln auf Turmspitzen, die das Libretto der Oper bevölkern? Doch Tcherniakov hatte für die religiöse Parabel eine in ihrer Schlichtheit frappierende Lösung gefunden: Er ließ die Märchenszenerie einfach weg, und mit ihr auch das folkloristische Zubehör, all die Sarafane, Kaftane und geschmückten Hauben, die vermeintlich zu Rimski-Korsakow gehören. Seine Inszenierung handelte trotzdem von Russland, und mehr noch: Sie verlieh der überzeitlichen Ebene der Oper eine historische Dimension und der nationalen Geschichte metaphysische Tiefe. Jedes einzelne Element hatte eine fantastische Metamorphose durchlaufen, und doch wirkte alles vertraut – das rote Barett der Heldin, ihre an Gummibändern befestigten Fäustlinge (ein Standardaccessoire jeder russischen Schulzeit), der mitten im Wald an einem Baum aufgehängte mannshohe Wasserspender (wer die Sowjetunion noch erlebt hat, dürfte das kleinere Original kennen), der Kinderschlitten, auf dem Fewronija ins Jenseits gezogen wird und der das Publikum nicht ins imperiale Sankt Petersburg zurückversetzte, wo die Oper entstanden war, sondern in das geschundene, von der Wehrmacht belagerte Leningrad. Sowohl die Waldtiere, die im ersten Akt auf den Ruf ihrer Wohltäterin herbeieilen, als auch die Paradiesvögel Sirin und Alkonost, die Fewronija im vierten Akt in die verzauberte Stadt geleiten, hatten bei Tcherniakov Menschengestalt – und all diese Wesen stammten offensichtlich nicht aus einer altrussischen Legende, sondern aus der ureigenen Kindheit der Zuschauer und ihrer Eltern.

Paradoxerweise agierte der junge Regisseur, der gegen die Operntradition ankämpfte, hier also wie ein Archivar der Vergangenheit. An dieser Stelle sollte ich wohl erwähnen, dass zu Dmitri Tcherniakovs charakteristischen Eigenschaften ein phänomenales Gedächtnis und ein sehr eigenes Verhältnis zur Zeit gehören. Ich erinnere mich an eine Unterhaltung mit einem anderen bekannten Regisseur, dem Litauer Oskaras Koršunavas, in der Tcherniakov von Vilnius während der Sowjetzeit sprach – und an Oskaras’ Gesicht, als ihm klar wurde, dass sein russischer Kollege seine Heimatstadt genauer in Erinnerung hatte als er selbst, dass er die exakten Adressen all der längst verschwundenen Cafés von damals noch wusste und Details ihrer Einrichtung beschreiben konnte. In Tcherniakovs Gedächtnis lagern Tausende solcher Artefakte, und nicht selten finden sie ihren Weg in seine Inszenierungen.

Eine besondere Beziehung unterhält er im Übrigen nicht nur zur Zeit, sondern auch zum Raum – nicht umsonst hat er, bevor er an die Russische Akademie für Theaterkunst in Moskau ging, für kurze Zeit Architektur studiert. Die Bühnenbilder seiner Inszenierungen entwirft er grundsätzlich selbst. Manchmal rekonstruiert er dafür Details realer Gebäude, die ihm in Erinnerung geblieben sind, manchmal auch das Gebäude als ganzes – so zum Beispiel für seine erste Arbeit im Ausland, den Boris Godunow an der Berliner Staatsoper (2005), dessen Handlung sich vor dem Hintergrund des in den 1920er Jahren erbauten Moskauer Telegrafenamts abspielte.

Nicht immer wird ein internationales Publikum in der Lage sein, diese Anspielungen zu entschlüsseln. Welcher nichtrussische Zuschauer erkennt in der Behausung, in die sich die Karmelitinnen (in Francis Poulencs Dialogues des Carmélites, Bayerische Staatsoper 2010) vor der riesigen, unbegreiflichen Welt zurückgezogen haben, die Paraphrase einer russischen Datscha? Wer entdeckt die Parallele zwischen dem Sektierertum dieser Karmelitinnen oder dem religiösen Eifer der Helden von Modest Mussorgskys Chowanschtschina (2007, auch dies eine Arbeit Tcherniakovs an der Bayerischen Staatsoper) und dem Geist der sowjetischen Dissidenz?

 

 

(1) DIALOGUES DES CARMÉLITES:
Ensemble der Bayerischen Staatsoper, Chor der Bayerischen Staatsoper. Inszenierung und Bühne: Dmitri Tcherniakov. ©Wilfried Hösl
(2) Chowanschtschina
(Bayerische Staatsoper, 2007) ©Wilfried Hösl

Der Gegensatz von Individuum und Kollektiv stellt für Tcherniakov nicht zufällig ein zentrales Thema dar, auch dies hängt mit dem Erbe der sowjetischen Dissidenten zusammen. Zwar ist nicht jeder Einzelgänger ein Dissident, aber jeder Dis- sident ist zwangsläufig ein Einzelgänger. Die Masse ist bei Tcherniakov immer eindimensional, und sie ist immer das Böse, selbst wenn sie aus Angehörigen der unterdrückten Klassen besteht. Dagegen sind die ausgeprägte Individualität, Unangepasstheit und psychische Komplexität, die so viele und so verschiedene seiner Helden auszeichnen – von Rimski-Korsakows Schneeflöckchen bis zu Alexander Borodins Fürst Igor, von Don Giovanni bis zu Tatjana in Eugen Onegin, grundsätzlich und zweifelsfrei positive Eigenschaften. Diese Helden passen ebenso gut in ein romantisches Weltbild wie in das für die sowjetischen Intellektuellen zentrale Paradigma von Held versus Masse. Gleichzeitig sind sie in jeder Hinsicht moderne Menschen, mit all ihren Frustrationen, Illusionen, Ängsten und Hoffnungen. Sie alle – Macbeth, Wozzeck, Parsifal – bewegen sich im Feld der zeitgenössischen Kultur.

Was Dmitri Tcherniakov mit der Oper tut, lässt sich im Grunde auf ein sehr einfaches und zugleich komplexes Grundmuster zurückführen: Praktisch alle seine Arbeiten treten den Beweis an, dass, wer die klassische Oper zu neuem Leben erwecken will, sie zuvor töten muss. Erst wenn man sie – nach einem alten russischen Märchenmotiv – mit dem Wasser des Todes besprengt hat, kann das Wasser des Lebens folgen. Um den Glauben an die Textgrundlage wiederherzustellen, muss man ihr erst misstrauen, darf die darin beschriebenen Emotionen und Ereignisse nicht ernst nehmen. Der Regisseur muss die Zuschauer mit dem Zeigefinger darauf stoßen, dass sie ein Simulacrum, ein Fake vor sich haben, um am Ende auch diese eigene Geste wieder infrage zu stellen.

Hierher rührt Tcherniakovs fast schon manische Vorliebe für Rollenspiele und Rahmenhandlungen, der er sowohl in Wozzeck als auch in Schneeflöckchen, im Märchen vom Zaren Saltan und in seiner meisterhaften Deutung von Carmen nachgegangen ist. In dieser Inszenierung, die 2017 in Aix-en-Provence Premiere hatte, bringt eine Frau ihren Mann in eine Klinik, in der Hoffnung, dass die dort angebotene immersive Therapie – auf Basis der klassischen Carmen-Geschichte – ihn aus seiner Apathie wecken und seine Depressionen heilen wird. Der Patient, José, taucht Schritt um Schritt tiefer in das abgegriffene Opernsujet ein und beginnt in diesem Stück im Stück das zu fühlen, was seine Mitspieler nur simulieren – echte Leidenschaft, wahre Liebe. Im Zentrum der Oper steht hier nicht Carmen, sondern eben José. Und der Wert, um den sich alles dreht, ist nicht ein Freiheitsdrang, der auch Freiheit von seelischen Bindungen voraussetzt, sondern die Fähigkeit zu starken Gefühlen.

In Tcherniakovs Lesart ist José zugleich ein Opfer, weil die Welt, die man ihm vorgaukelt, ihn mit voller Absicht in den emotionalen Zusammenbruch treibt, und ein Sieger, weil er als einziger in dieser Welt aufhört, ein fremdes Spiel zu spielen. Er dringt zu dem vor, was Søren Kierkegaard „wahre Existenz“ nannte. Bei Tcherniakov hat dieser Impuls fast immer mit der Welt der Gefühle zu tun – mit der Liebessehnsucht und dem Abschiedsschmerz, dank derer der Mensch etwas über sich selbst erfährt. Und sobald man als Zuschauer innerhalb dieses Szenarios an die absolute Echtheit der Empfindungen des Helden zu glauben beginnt, erwacht auch die zu Tode inszenierte, zu einem Objekt der Massenkultur degradierte – oder, wie in Russland, zum Kultobjekt stilisierte – Carmen zu neuem Leben.

Alban Berg: Lulu. Premiere am 25. Mai 2015 im Nationaltheater. Musikalische Leitung: Kirill Petrenko. Inszenierung: Dmitri Tcherniakov

Alban Berg: Lulu (Bayerische Staatsoper 2015) Inszenierung: Dmitri Tcherniakov

Authentizität erreicht Tcherniakov paradoxerweise gerade durch betonte Theatralisierung, durch ein scheinbar ironisches Verhältnis zum Text. Manchmal potenziert er diesen Kunstgriff sogar noch, so etwa im zweiten Teil von Hector Berlioz’ Trojanern an der Opéra de Paris: Aus dem von Dido regierten Karthago ist hier ein Rehazentrum für Überlebende militärischer Konflikte geworden. Die Königin ist nur eine Patientin unter anderen – offenbar aber eine der schwierigsten: Sie ist aus einem Kriegsgebiet geflohen, ihr Mann wurde von einem Tyrannen ermordet. Sie braucht jemanden, der sie aus ihrer Teilnahmslosigkeit herausholt, sie ins Leben zurückführt und ihr hilft, die traumatische Erfahrung zu überwinden.Alle wichtigen Bewohner Karthagos treten bei Tcherniakov als Therapeuten beziehungsweise Animateure auf, die immer wieder andere Insassen der Anstalt in ihre Übungen einbeziehen. Doch da trifft ein neuer Trupp Flüchtlinge ein, die von Aeneas angeführten Trojaner. Aeneas erblickt die „Königin“ – und erkennt im selben Moment seine verstorbene Frau in ihr. Die Psychotherapie für Flüchtlinge verwandelt sich vor unseren Augen in eine echte Liebesgeschichte zwischen zwei einsamen, traumatisierten Menschen.

Doch das Entscheidende kommt erst noch: Im Angesicht des Todes wird die von Aeneas verlassene Dido zur Regisseurin des Stücks, an dem man sie so oft aufgefordert hat mitzuwirken. Sie teilt unter ihren Mitpatienten Schilder mit den Namen der zu verkörpernden Figuren aus, sie selbst errichtet sich ihren „Scheiterhaufen“. Die Animateure sehen staunend zu, wie die „schwierige Patientin“ ihr Psychotraining in die eigenen Hände nimmt, und sie spielen Didos Spiel bereitwillig mit. Der therapeutische Triumph – das immersive Theater hat seine Wirkung getan, das Trauma ist überwunden – scheint unmittelbar bevorzustehen, da stürzt Dido plötzlich leblos zu Boden. Wir werden gleichsam Zeugen ihres letzten Schritts: vom Theater ins Leben.

Eben darin liegt das geheime Ziel des Regisseurs. Die Kunst, ein Stück äußerlich zu modernisieren, beherrscht im Musiktheater heute jeder zweite. Tcherniakov aber modernisiert nicht nur die Zeitumstände, sondern auch die Motive, aus denen die Figuren handeln, ihre Psychologie. Er stellt Takt für Takt, Ton für Ton das ganze Werk auf den Prüfstand unserer heutigen Weltwahrnehmung. Nicht selten greift er dafür tief in die inneren Spannungsverhältnisse der Textvorlage ein, er lässt Repliken, manchmal auch ganze Arien anders adressieren, als das Libretto es vorsieht, gibt den Figuren einen anderen sozialen Hintergrund, einen anderen Familienstand, und verändert die Chronologie der Ereignisse.

Dmitri Tcherniakov tötet die klassische Oper, um sie vor unseren Augen wiederauferstehen zu lassen, um uns zu zeigen, wie aus all dem Theaterpathos, aus den dicken Schichten der Tradition urplötzlich ein existenzieller Ernst hervorbricht. Wo dieser Durchbruch gelingt, wird die Handlung einer Oper, wird die Oper überhaupt mit dem Wasser des Lebens besprengt.

Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja. Ein Text aus Max Joseph (Ausgabe 2 "Jener entwerfende Geist") anlässlich der damaligen Neuproduktion DER FREISCHÜTZ aus der Spielzeit 2020-21 (Streaming-Premiere 13. Februar 2021).

 

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