Im 18. Jahrhundert, auf das Le Parc immer wieder referenziert, wandelte sich das Modeverständnis stark. Besonders Marie-Antoinette, Ehefrau Ludwigs XVI., trug im Laufe ihres Lebens zunehmend weniger einengende Schnitte und leichtere Stoffe und setzte damit ein Vorbild für die Damen der Gesellschaft. Auch das von Jean-Jacques Rousseau propagierte Ideal der Natürlichkeit – weg von der aufgesetzten Künstlichkeit des Adels – und die damit einhergehende neue Rolle des Bürgertums beeinflussten die Mode maßgeblich.

Kostümbildner und Modedesigner Hervé Pierre hat sich intensiv mit diesen historischen Entwicklungen der Mode beschäftigt. Insbesondere macht er die Verbindungslinien zwischen dem Kostümbild und den anderen Elementen der Aufführung für das Publikum sichtbar: In der Choreographie Angelin Preljocajs sind immer wieder Zitate der aus dem 17. und 18. Jahrhundert stammenden Tanztechnik zu finden. Das Bühnenbild Thierry Leprousts ist von der akkuraten, geradlinigen französischen Gartenkunst der damaligen Zeit inspiriert und musikalisch erklingen unter anderem Klavierkonzerte Wolfgang Amadeus Mozarts.

Jeder der drei Akte des Balletts zeichnet sich durch eine ganz eigene Qualität der Stoffe und Schnitte aus. So wie die Emotionen im Verlauf der drei Akte ungeschminkter werden, werden auch die Stoffe leichter. Im ersten Akt tragen sowohl die Herren als auch die Damen samtige Kniebundhose, Rüschenhemd mit hohem Kragen und Puffärmeln, Weste und knielange Mäntel, sogenannte Justaucorps. Diese formelle, mehrlagige Kleidung prägt die Körperhaltung dennoch zu Beginn viel stärker als beispielsweise später die Kostüme im dritten Akt, die gerade für das Hauptpaar nur noch aus leichten, locker geschnittenen, einlagigen weißen Stoffen bestehen.

Kostümbildner Hervé Pierre

Angelin Preljocajs Choreographie lässt die sinnliche Annäherung, die sich im Laufe der drei Akte zwischen dem Hauptpaar entfaltet, immer stärker ins Zentrum rücken. Hervé Pierre kommentiert dieses Spiel mit Sinn für Details und großer Kenntnis der Modegeschichte. So tragen die acht Tänzerinnen zu Beginn des zweiten Aktes effektvolle, raumgreifende Watteau-Kleider, benannt nach dem französischen Rokoko-Maler Jean-Antoine Watteau. Diese zeichnen sich durch die besondere Gestaltung der Rückenfalten des Kleids aus.

Während der Vorstellung bleiben den Tänzerinnen nur wenige Minuten, um das Kostüm zu wechseln und in diese voluminösen Kleider zu schlüpfen. Für diese raschen Umzüge steht jeder Tänzerin eine Ankleiderin zur Seite, die nicht nur beim An- und Ausziehen des Kleides behilflich ist, sondern auch auf den korrekten Sitz achtet.

Gefertigt wurden diese eindrucksvollen Kleider seit Juni 2023 in der hauseigenen Schneiderei der Bayerischen Staatsoper. Zwischen 10 und 15 Metern Stoff wurden pro Oberkleid verarbeitet. Verwendet wurden dafür französische Baumwollstoffe, die teils mit originalen Mustern aus dem 18. Jahrhundert bedruckt sind. Wer ganz genau hinschaut, wird nicht nur harmlose Blumenmuster, sondern auch lustvolle Jagdszenen in diesen Mustern entdecken; ein Kommentar Hervé Pierres auf das Ambivalente des Wechselspiels zwischen dem Verführen und dem Verführt-Werden.

Im dritten Akt, dem Moment, in dem sich die beiden Liebenden zueinander bekennen, fällt das „Korsett“ der „Kleidung als Hülle“ schließlich. Die Tänzerin tritt ihrem Partner in einem einfachen, lockeren Hemd entgegen; auch er trägt nur noch ein lockeres Hemd und eine leichte Baumwoll-Kniebundhose. Die samtigen Hosen, Herrenröcke und pompösen Kostüme der ersten beiden Akte haben einem gelösteren, aber zugleich auch verwundbareren Zustand Platz gemacht.

Madison Young und Julian MacKay

Über Hervé Pierre:

Nach seinem Abitur in Kunstgeschichte und Zeichnen (1984) studierte Hervé Pierre Bildende Kunst an der Universität Sorbonne (Paris). In den 1980er Jahren besuchte er die Écoles de la Chambre Syndicale de la Couture und schloss als Jahrgangsbester in den Fächern Zeichnen und Kreation ab. Im Juli 1988 begann er seine berufliche Karriere bei Pierre Balmain im Haute Couture Studio an der Seite von Erik Mortensen. Im Juli 1991 signierte er seine erste Haute-Couture-Kollektion bei Pierre Balmain und entwarf im Januar und Juli 1992 zwei weitere Kollektionen. Mit der Herstellung der Kostüme für das Ballett Parade von Angelin Preljocaj (1993) befasste er sich zum ersten Mal mit der Welt des Tanzes. Ebenfalls schuf er die Kostüme für Le Parc an der Pariser Oper (1994) und für La Stravaganza für das New York City Ballet (1997). Im Jahr 1999 entwarf er die Kostüme für das Ballett Verdiana von Patrice Bart an der Staatsoper Berlin. Seit 1997 lebt Hervé Pierre in den USA, wo er unter anderem für Oscar de la Renta, Véra Wang, Bill Blass, Lars Nilsson und Carolina Herrera arbeitet. Für die Erstaufführung von Le Parc in München kam Hervé Pierre zum ersten Mal ans Bayerische Staatsballett.

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