Schmerzliche Innenansichten
von Dramaturgin Yvonne Gebauer
Lesedauer: ca. 5 Minuten
Regisseur Claus Guth über nervliche Grenzzustände und Oper als Gesamtkunstwerk
Was ist das Faszinierende an der Oper Bluthaus?
Ein häufig bemühter Begriff, aber hier trifft er zu: Gesamtkunstwerk. In Bluthaus ist sehr viel von dem vorhanden, was mich am Musiktheater so fasziniert. Die Ebene der Sprache bewegt sich stark im Bereich des Rationalen. Händl Klaus hat einen extrem verdichteten Text geschrieben, der sich zum Teil an prosaischen Zitaten aus dem Setting eines Hausverkaufs an der Realität orientiert. Das sind Texte, die sich vollkommen unabhängig von der Musik entfalten, als hätten sie ein Eigenleben. Und unter dieser textlichen Ebene gibt es in der Musik orchestrale Aufbauten und Erregungszustände, die nicht synchron zum Text laufen. Da schiebt sich sozusagen etwas Irrationales hinein in dieses rationale sprachliche Gebilde. Das ist, als würde mein Gehirn sehr rational mit einer konkret-realistischen Situation beschäftigt sein, während meine Emotionen in ganz andere Richtungen rasen und toben. Zu diesen beiden Ebenen kommt im Musiktheater dann noch die visuelle Umsetzung hinzu: eben ein Gesamtkunstwerk.
Welche Herausforderungen stellten sich in der Vorbereitung der Inszenierung?
Jede:r kommt hier an sein Limit. Dieses Stück ist so schwer zu erarbeiten – für alle Beteiligten. Aber dieser schmerzliche Prozess ist notwendig, in den muss man sich hineinbegeben. Die Energie dafür, das durchzuziehen, habe ich nur, weil ich weiß, dass am Ende etwas sehr Außergewöhnliches entstehen kann. Die komplette Konstruktion des Abends werden wir im Probenprozess erst sehr spät erkennen – wenn alle Bausteine zueinander in die richtige Proportion kommen und unter das richtige Maß an Spannung gesetzt sind. Was dann daraus entsteht, wird hoffentlich Ähnlichkeit mit einem extremen Psychotrip haben.
In welchem zeithistorischen Klima ist dieses komplexe Stück entstanden?
In den Jahren um 2000 lag einiges in der Luft. Auch wenn Händl Klaus eine Illustrierung dieser Verhältnisse sehr fern lag, kommt man nicht umhin, zum Beispiel an den Fall Natascha Kampusch zu denken, die von 1998 bis 2006 von ihrem Entführer in einem Haus in Österreich eingesperrt wurde. Wenn man sich anschaut, was über ihr Schicksal nach dem Ende der Gefangenschaft geschrieben wurde, stößt man auf den Begriff der „Zweiten Viktimisierung“. Nachdem Natascha fliehen konnte und ihr Schicksal öffentlich wurde, stürzte sich die Presse regelrecht auf sie. Und dann gab es so etwas wie eine zweite Welle – das war sehr schockierend – als diese Frau dann versuchte, irgendwie wieder ein „normales“ Leben zu führen, in Talkshows auftrat und in der Öffentlichkeit präsent war. Man hatte da sehr viele Erwartungen an sie und sehr genaue Vorstellungen davon, wie sich ein Opfer zu verhalten habe. Bis heute ist sie einem unglaublichen öffentlichen Shitstorm ausgeliefert und kann kein normales Leben führen, weil sie sich aus der Perspektive der Öffentlichkeit nicht opferkonform verhält. Im Fall Joseph Fritzl im Jahr 2008, der auch in Österreich, in Amstetten, stattfand, konnte man ganz Ähnliches beobachten. Joseph Fritzls Tochter war von 1984 bis 2008 im Keller ihres Elternhauses eingeschlossen. Sieben Kinder hat sie in dieser Zeit geboren. Auch dieser Frau blieb letztlich – unter dem Druck der öffentlichen Meinung – nichts Anderes übrig als „abzutauchen“, weil eine Normalität nach einem Schicksal dieser Art anscheinend nicht mehr lebbar ist. Das alles hat sehr viel mit dem Stück Bluthaus zu tun.
Worum geht es also in Bluthaus?
Es geht um eine junge Frau, Nadja, die mit Hilfe des Maklers Axel Freund das Haus ihrer Eltern verkaufen will. Dieser Makler – er ist sehr gegen das Klischee des Immobilienhais angelegt, schon der Name „Freund“ erzählt davon – führt die verschiedenen Interessent:innen durch das Haus. Nach und nach wird deutlich, dass in diesem Haus Schreckliches passiert ist. Der Vater hat die Tochter jahrelang sexuell und emotional missbraucht und sie dadurch zerstört. Nun sind beide Eltern tot. Und Nadja allein mit der Last ihrer Vergangenheit.
Ein häufig bemühter Begriff, aber hier trifft er zu: Gesamtkunstwerk. In Bluthaus ist sehr viel von dem vorhanden, was mich am Musiktheater so fasziniert.
- Claus Guth
Bluthaus wird umrahmt von Teilen von Claudio Monteverdis Ballo delle ingrate und dem Lamento della ninfa. Wie kam es zu dieser Verbindung?
Serge Dorny hatte die Idee, im Festival Ja, Mai die als Trilogie entstandenen Opern von Haas mit Madrigalen von Monteverdi zu koppeln. Es gibt in der Komposition von Haas durchaus eine Verwandtschaft zu Monteverdi, das wird man merken, wenn die Kompositionen ineinander übergehen. Ich habe mich entschieden, kurze Stücke von Monteverdi vor und nach Bluthaus erklingen zu lassen und dadurch eine Art Klammer zu schaffen. Nachdem Bluthaus schon zweimal inszeniert wurde, bei den Schwetzinger Festspielen und bei den Wiener Festwochen, empfinde ich diese Erweiterung als eine Chance, einen Schritt mit der Interpretation weiterzugehen.
Wie sieht deine Interpretation aus?
Ich habe mir da eine kleine Schleife in der Erzählung erlaubt – und versucht, mich in die Perspektive des Opfers Nadja zu begeben und mir den Zustand vorzustellen, in dem diese Frau ist. Es ist kaum vorstellbar, wie sie diese Situation überhaupt bewältigen kann. Und doch beobachten wir sie dabei. Sie versucht permanent, im Smalltalk zu einer Leichtigkeit zu finden und ihrer Okkupation durch die Eltern zu entkommen. Sie führt die Interessent:innen durch das Haus, und in jeder Türklinke, in jedem Detail des Hauses steckt ihre Schmerzensgeschichte. Alles, was da ist, ist mit Missbrauch und schlimmsten Dingen verbunden. Und da soll sie jetzt – sozusagen beschwingt – Menschen hindurchführen, die das kaufen sollen. Eine völlig aberwitzige Situation, die sie nervlich an eine Grenze bringt.
Überschreitet sie die Grenze?
Ganz am Schluss des Stückes ist Nadja mit Axel Freund allein. Zwischen ihnen gibt es eine Anziehung, eine Erotik. Das bahnt sich schon am Beginn des Stückes an. Sobald die Interessent:innen gegangen sind, kommt es zu einer ziemlich extrem komponierten, fast orgiastischen Szene zwischen den beiden. Da geschieht etwas Seltsames: Auf dem Höhepunkt ist der Vater wieder präsent – stimmlich und visuell – und dringt in die Intimität zwischen den beiden ein. Hier wird deutlich, dass für Nadja die Berührung eines Mannes nicht mehr zu trennen ist von der Berührung durch den Vater.
Wie kann jemand wie Nadja überhaupt noch mit Berührung umgehen?
Ausgehend von dieser Frage habe ich die Handlung zugespitzt, weitergeführt und eröffne die Möglichkeit, dass Nadja selbst es war, die ihre Eltern umgebracht hat. Während das Libretto nahelegt, dass die Mutter erst den Vater tötete und dann sich selbst, untersuche ich in meiner Inszenierung die Möglichkeit, dass dieser Mord von Nadja begangen wurde. Als Gegenwehr? Als Triggerhandlung? Als Folge ihres Traumas, außerhalb ihrer bewussten Wahrnehmung? Sie wird hier vom Opfer zur Täterin. Aus dieser Perspektive ergibt sich erst die Bedeutung der Madrigale von Monteverdi und auch das Bühnenbild.
Was zeigt das Bühnenbild?
Unser erster Raum zeigt eine Verhörsituation. Man fragt sich, was da passiert ist und warum? Wie kam sie zu dieser Tat? Das interessiert mich sehr: eine scheinbar motivlose Tat. Die Frage ist, wie man in die Psyche eines solchen Täters, einer solchen Täterin hineinkommen kann? Von diesem Punkt im Verhörraum aus beginnt die Rückblende, die das gesamte Geschehen des Tages, an dem die Tat geschah, noch einmal ablaufen lässt. In Nadjas Erinnerung gehören die Stimmen der Eltern genauso zu diesem Haus wie die Fetzen all der Dialoge, die an diesem Tag in diesem Haus gesprochen wurden.
Also kein Architektenhaus, wie es im Libretto von Bluthaus beschrieben wird?
Das wird in den Videos zu sehen sein. Aber es sind grundsätzlich die Innenansichten, die psychotischen Schübe, die mich an dem Stück interessieren, nicht der realistisch-naturalistische Gehalt. Auf diese Spur werde ich mich begeben. Das bedeutet auch, dass es immer wieder choreografierte Szenen geben wird, die den Realismus verfremden und mehr der Perspektive der Erinnerung von Nadja entsprechen. Es sind die Dynamiken in diesem Haus, die mich interessieren. Gegen Ende, wenn die Bluttat durch die diabolischen Nachbarn Schwarzer den Kaufinteressent:innen enthüllt wird, wird sehr deutlich, dass das Opfer von ihnen angefeindet und dadurch erneut zum Opfer wird.