„Komponist*innen sind zu allen Zeiten an die Grenzen des Möglichen gegangen.“
Text von Daniel Ender
Fotografie von David Avazzadeh
Lesedauer: ca. 4 Minuten
Josquin Desprez, Carlo Gesualdo, Wolfgang Amadé Mozart, Ludwig van Beethoven, Franz Schubert, Alexander Skrjabin – die Liste jener Vertreter der „großen“ europäischen Musiktradition, auf die Haas kompositorisch reagiert hat, ist beträchtlich, aber keineswegs beliebig. Demut und Bescheidenheit sprechen aus ihm, wenn die Rede auf die „alten Meister“ kommt, die er stets in einem Atemzug mit jenen der jüngeren Zeit nennt: „Zufällig bin ich innerhalb meines Lebens auf verschiedene Musik gestoßen, am intensivsten war wohl die Auseinandersetzung mit der europäischen bzw. US-amerikanischen Musik von Josquin bis Cage.“ Seine Reaktion auf die Musik eines Mozart oder Schubert sei immer die „größte Bewunderung der Schönheit ihrer Schöpfungen und der technischen Fähigkeiten dieser Komponisten“ gewesen: „Manchmal frage ich mich, warum ich es überhaupt wage, angesichts dieser Meisterwerke überhaupt noch einen Bleistift in die Hand zu nehmen.“
Höchst verschieden gestalten sich die Formen von Haas’ schöpferischen Reaktionen auf derartige „Meisterwerke“ – ebenso verschieden sind die Nähe und Ferne der jeweils entwickelten musikalischen Sprache in Bezug auf die Ausgangspunkte. So verbirgt sich hinter dem Titel Opus 68 für großes Orchester eine „Bearbeitung“ – auch dieses Wort ist eigentlich zu bescheiden, vielmehr handelt es sich um eine sehr hellhörige und persönlich gefärbte, mit modernen Mitteln arbeitende, analytisch durchdrungene Instrumentierung – von Skrjabins 9. Klaviersonate. Ganz ähnlich und doch ganz anders ist Torso für großes Orchester eine auf den großen Klangapparat umgelegte Projektion von Schuberts nicht zu Ende geschriebener Sonate C-Dur für Klavier D 840 („Reliquie“) – der „Versuch, das Utopische dieses Schubert-Fragments mit den Mitteln des großen Orchesters des 20. Jahrhunderts zu verdeutlichen. Im ersten Satz seines Sonatenfragments D 840 setzt Schubert unter anderem den Dominantseptakkord konsequent als Konsonanz ein – und schafft damit eine Klangwelt, die Debussy vorausnimmt. Das gelingt. Stark. Im dritten Satz wiederholt er das Menuett-Thema einen Halbton höher – und weiß dann nicht mehr weiter, wenn er (formbedingt) zu diesem Thema zurückkehren muss. As-Dur oder A-Dur? Er bricht ab. Im vierten Satz versucht er eine Sonatenform mit dem Hauptthema als Rondo und dem Seitenthema als Variationsform – das geht in der Exposition sehr gut. Aber die Durchführung erweist sich als undurchführbar. Er bricht ab. – Heute könnte jede*r bessere*r Musiktheoriestudent*in dieses Werk ,vollenden‘ – wäre dabei aber wohl blind für jene Grenzen, die für Schubert unüberwindbar waren.“
Nicht als unüberwindbar, sondern vielmehr als „unantastbar“ sieht Haas ein anderes, viel bekannteres musikhistorisches Fragment – vielleicht das bekannteste überhaupt – an: Mozarts Requiem. Im Gegensatz zu Schuberts Fragment der Sonate C-Dur ist dieses – mit Ausnahme des Lacrimosa – im Grundgerüst durchgängig festgehalten (Haas: „Mozart hat die wesentlichen musikalischen Stimmen durchgängig skizziert, quasi ein Skelett des Werkes hergestellt“). In seinen Sieben Klangräume zu den unvollendeten Fragmenten des Requiems von W. A. Mozart setzt er daher seine eigene Musiksprache neben die Musik von Mozart.
In einem anderen Fall – seinem 3. Streichquartett „In iij. Noct.“ – integriert Haas auch einmal ein Zitat, nämlich von Gesualdo. Und in seinem Sextett tria ex uno entwirft er drei Perspektiven auf einen Satz aus Josquins Messe L’homme armé: zunächst nahe am Original, dann als „kommentierende Instrumentation“ und schließlich als „frei assoziierende Neukomposition“. Ein neueres Beispiel macht deutlich, wie sehr Haas in seiner Auseinandersetzung mit der Musikgeschichte immer auch die damalige und aktuelle außermusikalische Situation reflektiert. Die konzertante symphonische Dichtung für Violine, Kontraforte und Orchester Was mir Beethoven erzählt, deren Titel sich auch als Anklang an programmatische Formulierungen Gustav Mahlers für seine 3. Symphonie verstehen lässt, setzt sich mit Beethovens Hörleiden auseinander, eröffnet jedoch auch – wie oft bei Haas – einen politischen Blickwinkel.
Die ständige Erweiterung der technischen und zugleich Ausdrucks-Möglichkeiten ist ein musikhistorischer Aspekt, der für den Komponisten Georg Friedrich Haas eine zentrale Rolle spielt: „Zu allen Zeiten sind Komponist*innen an die Grenzen des damals Möglichen gegangen. Josquin beispielsweise nutzte die Möglichkeiten der Mensuralnotation, um mit einer einzigen Zeile einen dreistimmigen Satz zu komponieren, wo jede der Stimmen in einem anderen Tempo und in einem anderen Schlüssel singt. Das Ergebnis dieser ,Konstruktion‘ ist eine wunderschöne, ergreifende Musik. Die Melodie, mit der er diesen Zauber schafft, würde auch als Chanson beeindrucken. Aus der musikhistorischen Distanz heraus ist es leicht, das Innovative zu erkennen. Gesualdos Harmonien weisen weit in die Zukunft – er wurde aber von seinen Zeitgenossen als eher konservativ eingestuft, weil er immer noch der alten Polyphonie verbunden war. Brahms gilt als Traditionalist – seine Motivtechnik nahm aber die Zwölftonmusik voraus, ohne Brahms wäre Schönberg ein anderer geworden. Mendelssohn wird heute noch weitgehend unterschätzt – trotz seiner Modernität als Klangfarbenkomponist.“