„Ich will das Virus der Humanität verbreiten.“
von Daniel Ender
Fotografie von Sybren Vanoverberghe
Lesedauer: ca. 3 Minuten
„Fürst, was Sie sind, sind Sie durch Zufall und Geburt, was ich bin, bin ich durch mich; Fürsten hat es und wird es noch Tausende geben; Beethoven gibt’s nur einen.“ Was dem Fürsten Karl Lichnowsky mit diesen Worten an den Kopf geschleudert wurde, hatte 1806 enorme Sprengkraft und wäre heute so nicht mehr vorstellbar. Ein Moment solchen künstlerischen Selbstbewusstseins, das Beethoven erst etablierte, ist heute für Komponierende selbstverständlich – und ein solches, einschließlich eines hohen gesellschaftlichen und politischen Ethos, zeichnet auch Haas aus. Sein an anderer Stelle erwähntes Stück Was mir Beethoven erzählt sieht er auch als Chiffre für aktuelle Bedrohungen: „Beethovens Werk hat seine Krankheit überlebt. Und die Humanität wird auch die Krankheiten der Gegenwart überleben“, schreibt Haas in seinem Werkkommentar: „Letztlich geht es mir nicht um Dunkelheit und Verzweiflung, sondern um Hoffnung und Licht.“ Das Gehörleiden Beethovens, dessen Tinnitus, sieht er entsprechend „als Symbol für das, was gerade in Welt geschieht: Das grausige Erstarken des Faschismus in Europa, die wachsende Unmenschlichkeit, die Hilflosigkeit angesichts der Veränderungen, angesichts der Umschichtung der Einkommen von unten nach oben, die gezielte Verdummung der Massen, die Verhöhnung der Vernunft, das Abtöten von Solidarität …“
Haas hat also durchaus brennende Themen der Zeit auf dem Radar und reagiert im kompositorischen Prozess auf sie. Auf die Frage, ob und wie konkrete außermusikalische Bezüge unmittelbar wahrnehmbar werden können, antwortet er: „Jede Musik ist politisch. Denn sie lebt infolge bestimmter gesellschaftlicher Gegebenheiten. Meine Musik ist menschlich. Das schließt das Politische mit ein. Klare Botschaften kann und will ich nicht predigen. Aber ich will das Virus der Humanität verbreiten.“ Es gibt zwei Stücke von Haas, die am konkretesten an bestimmten Anlässen anknüpfen: zum einen in vain für Ensemble, das – für neue Musik sehr ungewöhnlich – eine Reprise enthält. Dieses Formmittel ist als Chiffre dafür intendiert, „dass das, was man für überwunden glaubte, tatsächlich wieder auftauchen kann.“ Haas dazu: „in vain ist aus meinem Schock über die FPÖ-Beteiligung in der österreichischen Bundesregierung im Jahr 2000 entstanden. Jedes Mal, wenn über dieses Werk gesprochen wird, wird auch über den Abscheu gegen die ,Nachfolger der Vorgänger der Nazis‘ gesprochen. Auch hier.“ Zum anderen hat er sich mit I can‘t breathe für Trompete solo mit der „Black Lives Matter“-Bewegung solidarisch gezeigt. Was können solche Stücke womöglich ausdrücken und bewirken? Haas: „Als Musik: Nichts Konkretes. Nur Betroffenheit. Mitgefühl. Angst. Und jedes Mal, wenn über mein Werk I can‘t breathe gesprochen wird, wird an den von der Polizei umgebrachten Eric Garner erinnert. Auch hier.“
Erst vor wenigen Jahren hat der Komponist öffentlich gemacht, was ihn sein ganzes Leben wie ein düsterer Schatten begleitet hatte: sein Aufwachsen in einer nationalsozialistischen Familie und seine eigene ideologische Prägung als junger Mensch. Sein Großvater Fritz Haas war ein bekannter Architekt, der eine Reihe von Kraftwerksbauten verantwortet, und im Dritten Reich Rektor der Technischen Universität in Wien. Georg Friedrich Haas wählte diese Hochschule, um sich erstmals öffentlich zu seinem familiären Hintergrund und seinen eigenen früheren Gedanken zu bekennen. In seiner Festrede zum 50-jährigen Jubiläum des Steirischen Herbsts formulierte er es so: „Wenn ich komponiere, stehen die Toten hinter mir, und ich fühle, dass sie auch jetzt, wo ich hier spreche, hinter mir stehen: Die jüdische Familie, die versucht hatte, in Wien zu überleben, in dem sie tagsüber durch die Straßen zog und nachts irgendwo anläutete und um Übernachtung bettelte. Mein Großvater bat sie in die Küche und rief die Gestapo an. Die Zwangsarbeiter – KZ-Insassen und Kriegsgefangene –, die auf den Baustellen meines Großvaters unter Arbeitsbedingungen schuften mussten, in dem tödliche Unfälle bewusst einkalkuliert waren. Die Einwohner jenes französischen Dorfes, dessen Namen ich nicht kenne, in das mein Vater eine Fliegerabwehrrakete gejagt hatte. Und die vielen, von denen ich nichts weiß. Ich fühle mich nicht schuldig. Aber ich fühle Scham und Trauer. Und besonders schäme ich mich für das, was ich selbst gedacht – und geredet – habe. Als Kind, als Jugendlicher, als Student. Ich habe viel zu lange gebraucht, bis ich bereit war, Wahrheit zu sehen.“