Aus etwas Zweidimensionalem wird ein lebendiges Kunstwerk
Ustina Dubitsky im Gespräch mit Nicolas Léwy über musikalische Aspekte der Opern Lucrezia und Der Mond
Fotografie von Niko Tsviliov
Ustina Dubitsky im Gespräch mit Nicolas Léwy über musikalische Aspekte der Opern Lucrezia und Der Mond
Fotografie von Niko Tsviliov
UD Ustina Dubitsky
NL Nicolas Léwy
NL Diese Neuproduktion verbindet zwei Werke, Ottorino Respighis Lucrezia und Carl Orffs Der Mond. Passen die beiden Werke gut zusammen?
UD Auf den ersten Blick scheinen die Werke weder musikalisch noch inhaltlich Gemeinsamkeiten zu haben. Wenn man aber genauer hinsieht, gibt es auf vielen Ebenen Ähnlichkeiten. Beide Opern handeln von Raub. In Lucrezia raubt Tarquinio durch die Vergewaltigung Lucrezias Körper, ihre Würde, er nimmt sie sich, weil er kann und will; sie begeht daraufhin Suizid. In Der Mond stehlen vier Burschen den titelgebenden Himmelskörper, ganz ohne Skrupel, ebenfalls, weil sie es können und wollen. Es gibt noch eine weitere Gemeinsamkeit, und zwar die Partien La Voce und Der Erzähler: Beide Opern haben eine Figur, die das Geschehen kommentiert. Das schafft eine Brücke zwischen den zwei Werken. Rein musikalisch betrachtet überwiegen allerdings die Kontraste, zumindest in der Behandlung des Orchesters, in der Klanglichkeit, in der Emotion. Respighi zeichnet musikalisch die verschiedenen Charaktere der Oper nach, er benutzt Leitmotive, die sehr lautmalerisch das Geschehen begleiten. Es gibt große emotionale Höhepunkte und man kann auch ohne Italienischkenntnisse der Handlung leicht folgen, wenn man den Inhalt kennt, weil die Musik die Handlung so sehr verdeutlicht. Orffs Kompositionsstil ist im Vergleich zu Respighis gewissermaßen distanzierter. Es sind musikalisch gleichsam gemalte Bilder, die eine bestimmte Atmosphäre erschaffen, über welche dann die Handlung erzählt wird. Der Mond ist unglaublich reich an Klangfarben und sehr kontrastreich, aber ich fühle mich mit keinem der vielen Charaktere emotional verbunden. Vielmehr empfinde ich mich als Beobachterin durch das gesamte Stück hindurch. Das meine ich mit „distanziert“.
NL Sowohl Lucrezia wie Der Mond werden in Fassungen gespielt, die für ein kleineres Orchester eingerichtet wurden. Welche Konsequenzen hat das?
UD Im Vergleich zu den Originalpartituren geht natürlich eine klangliche, dynamische Komponente verloren, gerade, was die Streicher betrifft. Mit einer kleineren Streicherbesetzung wird der große Gruppenklang im Tutti etwas reduziert, was bei kraftvollen Stellen, z. B. in den emotionalen Höhepunkten von Lucrezia, aber auch bei den leisen Passagen in Der Mond, in denen die Streicher eine Klangfläche bilden, bemerkbar sein wird. Unsere Fassung wurde auch um einige Blasinstrumente reduziert,
z. B. um die Tuba, die gerade bei Der Mond im Original ein wichtiges Solo hat – in unserer Version spielt das die Posaune. Diese dunkle, etwas dumpfe Klangfarbe der Tuba, von Orff sehr exponiert gesetzt, ist natürlich nicht leicht zu ersetzen. Gleichzeitig schafft eine kleinere Besetzung eine Intimität und größere Nähe zum Publikum. Wir hören einzelne Instrumente deutlicher heraus und sind direkter am Geschehen. Die große Kunst ist es, die Sängerinnen und Sänger mit ausreichend Klang zu unterstützen, damit sie sich vom Orchester getragen fühlen.
NL Zunächst zu Lucrezia. Der Komponist Respighi ist hierzulande für seine Orchesterwerke, besonders die Tondichtungen Fontane di Roma, Pini di Roma und Feste romane bekannt. Seine Opern hingegen werden sogar in Italien selten gespielt. Wie empfinden Sie die Musik der Oper Lucrezia?
UD Ich frage mich wirklich, warum diese Komposition so selten gespielt wird. Für die Handlung hat Respighi einen Schlüsselmoment der römischen Geschichte gewählt, der schon viele Künstler:innen vor ihm beschäftigt hat. Wie bereits erwähnt, unterstützt er lautmalerisch die Handlung und verwendet Leitmotive, die unserem Ohr als Orientierung helfen. Die Musik ist sehr abwechslungsreich, expressiv, liebevoll und gewalttätig; sie kommentiert das Geschehen und führt uns auch emotional.
NL In Lucrezia gibt es neben den im Geschehen eingebundenen Figuren eine Partie, die das Geschehen beschreibt, ergänzt und kommentiert, die sogenannte Stimme, italienisch La Voce. Können Sie uns deren Funktion und musikalische Gestaltung erklären?
UD La Voce ist eine ganz besondere Partie, sie ist wie ein Chamäleon: Einerseits kommentiert sie, was wir – das Publikum – auf der Bühne sehen, anderseits beschreibt sie, wie früher in der Mauerschau (Teichoskopie), was wir nicht sehen können, z. B. die auf Pferden weggaloppierenden Männer. Sie ist aber mehr als nur eine Erzählerin. An einer Stelle sehen wir Tarquinio im Gespräch mit Lucrezia, die beiden sind aber nicht zu hören, sondern La Voce spricht die tiefsten Gedanken Tarquinios aus, wie schön und begehrenswert Lucrezia sei und wie sehr es ihm nach einem Kuss verlange. La Voce wechselt in diesem Moment von der beschreibenden Erzählweise ins Ich und macht uns Zuhörende so alle zu Tarquinio. Wir alle werden zum Raubtier, sind mit ihm verbunden. Das Bewegende an der Sache ist, dass La Voce von einem Mezzosopran, also einer Frau, gesungen wird. Das ist für mich vielleicht die interessanteste Stelle der Oper – dieser Kniff, La Voce so zu verwenden, ist unglaublich stark. Ich hatte allein schon beim Lesen Herzrasen, weil das, was sie sagt, ganz klar und eindringlich geschrieben ist, diese Situation aber gleichzeitig sehr unangenehm und schwer auszuhalten ist. Und natürlich verstärkt die Musik diese Empfindungen.
NL Die Komponisten Orff und Respighi waren zur Zeit des Nationalsozialismus bzw. des Faschismus aktiv, ließen sich aber beide nicht mit der damaligen politischen Elite ein, sondern stuften sich selbst als „unpolitisch“ ein. Was ist Ihre Meinung dazu?
UD Immer wenn es darum geht, ob man Musik von Menschen aufführen sollte, die möglicherweise als moralisch problematisch wahrgenommen werden, landen wir bei der Grundsatzfrage, ob sich ein Werk von seinem Schöpfer oder seiner Schöpferin trennen lassen kann oder nicht. In unserem Fall finde ich es beruhigend, dass diese Inszenierung der beiden Werke in einem für mich „richtigen“ Sinne hochpolitisch ist.
NL Nun zu Der Mond. Orff nennt sein Werk, das auf einem Märchen der Brüder Grimm basiert, nicht eine „Oper“, sondern „Ein kleines Welttheater“. Warum? Ist diese Bezeichnung passend?
UD Ich empfinde diesen Begriff insofern als passend, als das Sujet ein Märchen ist und es daher keine Rolle spielt, wo und wann es stattfindet. Die Personen sind alle stilisiert. Das fängt schon damit an, dass die Partien keine Namen haben, sondern nur „Erzähler“, „Vier Burschen“, „Ein Bauer“ etc. heißen. „Ein kleines Welttheater“ symbolisiert also auch diese Allgemeingültigkeit der Geschichte. Die Musik passt dazu sehr gut, sie unterstützt die Stilisierung der Charaktere. Sie ist farbig, energetisch und atmosphärisch. Es gibt viele kleine Abschnitte, jeder für sich in sich geschlossen; wie die Bilder in einem Märchenbuch wird mit jeder neuen Szene ein neues Bild gezeigt.
NL Auch in Der Mond gibt es mit dem Erzähler eine kommentierende Figur, wie La Voce in Lucrezia. Können Sie wiederum die Funktion und die musikalische Gestaltung erklären?
UD Der Erzähler steht zwischen Publikum und Bühne. Er schaltet seine Lampe an und liest aus dem Märchenbuch vor. Er wird von einem Tenor gesungen, und eine Besonderheit ist, dass er fast immer nur sehr leise singen darf, jedoch in den höchsten Tönen. Das schafft eine Intimität, aber auch eine besondere Klangfarbe, und ist zudem äußerst anspruchsvoll für den Sänger. Vielleicht können wir uns vorstellen, dass ein Vater liebevoll seinem Kind eine Gute-Nacht-Geschichte vorliest. Er führt uns während der gesamten Oper durch die Handlung und die Zeit. Aber anders als La Voce verlässt er diese Rolle nie, er bleibt stets ein neutraler Erzähler. Er kommentiert nicht, er beschreibt nur. Hier und da erlaubt er sich allerdings eine kleine Wertung der Protagonisten auf der Bühne, z. B. bezeichnet er den Mond, nachdem die Burschen ihn vom Baum geholt haben, als den „Geraubten“.
NL Können Sie auch für Der Mond ein Beispiel geben, welche musikalische Passage für Sie besonders interessant ist?
UD Wegen der ganz eigenen Klanglichkeit und Atmosphäre finde ich alle Erzählerpassagen spannend. Es gibt auch eine sehr versöhnliche Stelle kurz vor Schluss, nachdem der Mond von Petrus am Himmel aufgehängt worden ist. Im Original verwendet Orff für diese volksliedartige Melodie die Zither, in unserer Fassung wird das die Celesta übernehmen. Diese Stelle berührt mich sehr.
NL Welches Werk, Lucrezia oder Der Mond, sagt Ihnen mehr zu und warum?
UD Ich bin sehr dankbar, dass ich diese zwei Werke dirigieren darf, denn für mich sind beide außergewöhnlich. Musikalisch erscheinen sie mir überhaupt nicht vergleichbar. Für mich als Dirigentin haben sie sehr unterschiedliche Schwierigkeiten, und für das Orchester werden sie beide insofern herausfordernd sein, als es wirklich anders ist, in einem kleineren Ensemble ursprünglich groß angelegte Werke zu spielen.
NL Im Leading Team dieser Produktion sind fünf Frauen. Spielt das für Sie eine Rolle?
UD Bevor Sie mir diese Frage gestellt haben, ist mir dies gar nicht aufgefallen … und genau das ist mir wichtig. Dass das Geschlecht keine Rolle (mehr) spielt, dass wir einfach als Menschen und Künstler:innen wahrgenommen werden. Dafür kämpfe ich. Ich möchte meiner Tochter ein Vorbild sein, oder vielmehr ihrer Generation eine Grundlage dafür schaffen, dass es nicht mehr auffällt, welches Geschlecht sie hat, egal, welchen Beruf sie ergreift. Deshalb spreche ich auch sehr offen über Ungerechtigkeiten, die mir und Kolleginnen – hauptsächlich in der Ausbildung – widerfahren sind. Ich nehme auch Gelegenheiten zum Unterrichten (etwa kürzlich an der Hochschule für Musik Würzburg die Leitung des Workshops „Frauen am Pult“) gerne an, weil ich etwas an der bisherigen „Norm“ verändern möchte.
NL Noch eine letzte Frage: Als Kind waren Sie Mitglied im Kinderchor der Bayerischen Staatsoper und jetzt, nach einer Laufbahn mehrheitlich anderswo, haben Sie an der Bayerischen Staatsoper erstmals die Musikalische Leitung inne. Wie ist das für Sie?
UD Ich freue mich unglaublich über diese Möglichkeit, an dem Haus eine Oper leiten zu dürfen, mit dem ich so viele wunderschöne Kindheitserinnerungen verbinde. Ich habe diese Zeit im Kinderchor geliebt. Allein schon, wenn ich hier hinter der Bühne bin, riecht es wie damals, nach einer Mischung aus Holz, Schminke, Beleuchtung – ich bin dann sofort in der Vergangenheit und erinnere mich an konkrete Momente. Ich glaube auch, dass mich die damaligen Bühnenerfahrungen nachhaltig geprägt haben. Das Universum Oper erfüllt mich persönlich sehr. Ich bin fasziniert von der Idee, dass aus etwas Zweidimensionalem – nämlich einer Partitur – innerhalb kürzester Zeit ein lebendiges Kunstwerk entsteht, das noch dazu alle Künste miteinander vereint. Und natürlich bin ich auch ein bisschen aufgeregt – eine Opernproduktion ist immer spannend! Es ist ein großes Privileg, mit diesen großartigen Menschen auf und hinter der Bühne sowie im Orchestergraben arbeiten zu können.