Welten bauen

Ein Gespräch mit Regisseurin Tamara Trunova vor Probenbeginn

Tamara Trunova, im Rahmen der Opernstudio-Produktion arbeiten Sie erstmalig an der Bayerischen Staatsoper in München. In der Ukraine sind Sie vorrangig als Theaterregisseurin aktiv, haben dort in den vergangenen Jahren aber auch Oper inszeniert. Wie waren hier Ihre Erfahrungen?

Meine erste Oper war 2016 Pergolesis La serva padrona an der Nationaloper in Kiew, ein wichtiger Moment in meinem Leben als Regisseurin. Zum einen wurde ich endgültig mit der Opernvirus infiziert, zum anderen war ich ohne musikalische Ausbildung gezwungen, die Oper buchstäblich auswendig zu lernen und mich vollkommen von dieser Musik durchdringen zu lassen. 2018 folgte Purcells Dido and Aeneas, 2019 Händels Acis and Galatea. Diese drei Produktionen haben sich zu einer unschätzbaren beruflichen Herausforderung und Erfahrung entwickelt und ich war mir sicher, auch in Zukunft definitiv im Bereich der Oper arbeiten zu wollen. Dann geschah Covid. Dann kam die russische Invasion der Ukraine. Im Zuge der Einladung von Serge Dorny, an der Bayerischen Staatoper nun zwei Einakter zu inszenieren, hat mein Traum wieder eine reale Chance bekommen.

Was fasziniert Sie so sehr an der Oper?

Die Arbeit mit der Oper ist immer eine Herausforderung. In meinen Augen ist sie die komplexeste und anspruchsvollste Kunstform überhaupt. Sie ist weit von der Realität entfernt. In ihr sterben Verwundete nicht, sondern beginnen zu singen. Die Oper umgeht das Gehirn und arbeitet direkt mit dem Herzen oder sogar der Seele, wenn es sie denn gibt ... Mich fasziniert es, einen kreativen Prozess in die Wege zu leiten, in dem alle Komponenten zu unaufdringlichen, bewussten Akteuren werden, die unabdingbar sind und sich gegenseitig ergänzen.

Sie sind nicht nur als Regisseurin, sondern auch als Dramatikerin aktiv. Gibt es etwas, das Sie als Schwerpunkt Ihrer künstlerischen Arbeit beschreiben würden?
Zweifelsohne steht heute der Krieg zwischen Russland und der Ukraine im Mittelpunkt meines regieführenden und menschlichen Ausdrucks. Es beschäftigen mich beispielsweise die Transformationen der menschlichen Natur unter neuen, unmenschlichen Lebensbedingungen, die Erkenntnis, dass Krieg viel früher beginnt als sein eigentlicher Beginn, und dass die Vorbedingungen für einen Krieg in fast jeder Geschichte enthalten sind. Ich verstehe meine Regiearbeit als einen Dialog, der über die Mauern der Theater hinausgeht, aber direkt das prägt, worüber ich in den Theatern spreche.

Wie drückt sich das konkret in Projekten aus?

In diesen zehn Jahren des Krieges – seit der Annexion der Krim 2014 – habe ich viel über ihn geschrieben und ihn in meinen Inszenierungen thematisiert. Daneben stand die Auseinandersetzung mit Themen wie der Verwandlung von Erinnerung, dem Verlust von Heimat, der Veränderung der Vorstellung davon, was Heimat eigentlich ist, der Unmöglichkeit, zum alten Ich zurückzukehren, häusliche Gewalt oder die Frage danach, wieviel Grausamkeiten Kinder zugemutet werden können, im Zentrum meiner Arbeit.

Wie haben Sie als ukrainische Künstlerin die Zeit seit dem russischen Überfall erlebt?

Nach der vollständigen Invasion habe ich ein Jahr mit meiner Tochter außerhalb der Ukraine verbracht. Ich war aus der Ferne in die Angelegenheiten meines Heimattheaters in Kiew, das Left Bank Theatre, eingebunden und konnte im Ausland vier Projekte realisieren.

In München inszenieren Sie nun einen Doppelabend, der neben Orffs Der Mond Ottorino Respighi Lucrezia umfasst. Wie gehen Sie damit um?

Zu Beginn meiner Arbeit empfand ich diese beiden Opern als völlig unverbunden und weit voneinander entfernt. Später, als ich mich eingehender mit der Handlung, den historischen Umständen und dem Entstehungskontext der Opern beschäftigte, entdeckte ich eine offensichtliche thematische Verbindung: das Thema des Defizits, des Mangels an etwas, des unbefriedigten Bedürfnisses, das sich bei den Menschen abhängig von ihrer Erziehung, ihren kulturellem Umfeld und erworbenen Traumata unterschiedlich herausbildet. Es kann sich um ein positives Bedürfnis handeln, das darin besteht, das öffentliche Gut im Sinne des Wohlergehens aller zu vermehren und zu bereichern. Oder es kann ein negatives Bedürfnis sein – das Bedürfnis, jemandem etwas wegzunehmen. Diese Idee wurde zur semantischen Kuppel über den beiden Opern. In Lucrezia beraubt der Mensch den Menschen, und in Der Mond beraubt die Menschen eine ganze Welt. Natürlich interpretiere ich das auch auf Grundlage der Umstände, unter denen ich jetzt lebe, in Bezug auf all die Verbrechen, die ungestraft bleiben, in Bezug darauf, wenn das Leben von Millionen von Menschen zum Spielball politischer Machenschaften wird.

Hilft Lucrezia die Welt von heute zu verstehen?

Ich verstehe Lucrezia, aber die Welt verstehe ich nicht. Hätte Lucrezia weitergelebt, hätte sie ihre eigene Identität verloren und wäre zu einem Objekt, einem Instrument, einem Verbrechen der Sünde geworden, zur Legitimation der Straflosigkeit und der Tyrannei. Lucrezias Selbstmord ist der Beweis für ihre Unschuld. Denn heute, wie auch vor 100 Jahren, werden Frauen häufig – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nach wie vor von der Gesellschaft als selbst schuldig an der Gewalt, die ihnen angetan wird, angesehen. Der Selbstmord von Lucrezia ist das Gericht, das sie selbst initiiert – ihr Den Haag ... Die Tat einer Frau, die andere dazu ermutigt, für sich selber einzustehen. Das Verbrechen als Wendepunkt, der schließlich zur Gründung eines neuen politischen Systems führt. Es handelt sich nicht um die Tat eines Opfers, sondern um die Geburt einer Heldin, die mit ihrer Entscheidung eine qualitativ neue Seite der Geschichte aufschlägt und zeigt, inwieweit das politische Handeln einer Frau die Welt der Männer beeinflussen kann.

Sie werden die Produktion mit dem Opernstudio entwickeln. Was ist für Sie in der Arbeit mit Nachwuchs zentral?

Ich liebe es, mit neuen Teams zu arbeiten. Ich komme vom Schauspiel und freue mich daher sehr auf die Arbeit mit jungen Sänger:innen. Ich möchte mich von ihren Gedanken zu meinen konzeptionellen Überlegungen inspirieren lassen und beobachten, wie unterschiedlich sie in ihren Bewegungen sind, wie ihre Körper reagieren. Ich hoffe sie auch darin unterstützen zu können, ihr schauspielerisches Handwerkszeug zu erweitern, und freue mich darauf, gemeinsam mit ihnen diese beiden Opern zu durchdringen.

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Tamara Trunova

Tamara Trunova studierte Regie in Kiew. Seit 2011 arbeitet sie dort am Left Bank Theater, seit 2019 als Leitende Regisseurin. In den Jahren 2016 und 2018 war sie Mitglied der Jury des Edinburgh Fringe International Festivals. Mit mehr als 30 Produktionen in der Ukraine und im Ausland ist sie eine der bedeutendsten Vertreterinnen der neuen Generation ukrainischer Theaterregisseur:innen und ist auch als Dramatikerin aktiv. Sie wurde mit zahlreichen Theaterpreisen ausgezeichnet. Ihre Inszenierung Bad Roads war in Polen, Lettland, Litauen, der Schweiz und Tschechien auf zahlreichen Festivals zu sehen, in München bei Radikal jung. Im März 2023 hat ihre Produktion Ha*l*t Premiere am Deutschen Theater in Berlin. In der Spielzeit 2023/24 ist sie mit Lucrezia / Der Mond erstmalig an der Bayerischen Staatsoper als Regisseurin engagiert. 

Lucrezia/Der Mond

Un atto in tre momenti (1937)/ Ein kleines Welttheater (1939)