Über Leben in Auschwitz
über die Wirklichkeit eines unwirklichen Ortes
Text: Nikolaus Wachsmann
über die Wirklichkeit eines unwirklichen Ortes
Text: Nikolaus Wachsmann
„Lieber Leser, ich schreibe diese Worte in Augenblicken meiner größten Verzweiflung.“ So beginnt ein Text von Salmen Gradowski, verfasst im Frühjahr 1944 in Auschwitz-Birkenau und nach der Befreiung unweit der zerstörten Krematorien in einer Blechbüchse entdeckt. Gradowski war 1942 in das Konzentrations- und Vernichtungslager verschleppt worden. Seine Frau Sonja, seine Mutter und zwei Schwestern werden sofort nach der Ankunft vergast. Gradowski gehört zu der viel kleineren, zur Zwangsarbeit selektierten Gruppe, und schon bald schickt ihn die SS in das gefürchtete Sonderkommando: Häftlinge, die Hilfsarbeiten beim Massenmord an anderen Gefangenen zu verrichten haben.
Bis zu seinem eigenen Tod im Lager zeichnete Gradowski die endlose Prozession der Todgeweihten in die Gaskammern auf, von ihren Tränen beim Entkleiden bis zum Abtransport ihrer Asche in Schubkarren. Gradowski hoffte, seine Notizen würden eines Tages gefunden und kommenden Generationen helfen, sich ein Bild von „der Hölle Birkenau-Auschwitz“ zu machen. Er appellierte an die Vorstellungskraft des Finders seiner Schriften: „Du wirst dir schon vorstellen, wie die Wirklichkeit ausgesehen hat.“
Auschwitz ist nicht, wie Gradowski befürchten musste, in Vergessenheit geraten. Als zentraler Schauplatz des Massenmordes an den Jüdinnen und Juden – rund eine Million von ihnen hat die SS dort getötet – nimmt das Lager einen besonderen Platz in der kollektiven Erinnerung ein. Aber unsere Vorstellung von Auschwitz hat oft wenig gemein mit dem Auschwitz, in dem Gradowski lebte und starb. Als universelles Symbol des Bösen hat sich das Lager von den konkreten Gegebenheiten entfernt. Die gängigen Bilder schweben dabei frei über dem historischen Kontext, was Mythenbildung und falschen Vorstellungen Vorschub leistet.
So wird oft gesagt, Auschwitz sei ein anderer Planet gewesen, ein Unort, an dem nicht einmal Vogelstimmen zu hören waren. Aber das Lager war nur allzu real, genau wie die Landschaft, die es umgab. In Wirklichkeit war sie so artenreich, dass die Betriebsangehörigen der IG Farben, des deutschen Unternehmens, das viele Tausende Lagerinsassen zur mörderischen Sklavenarbeit einsetzte, Vogelexkursionen unternahmen. Und ein führender deutscher Ornithologe, der in der SS-Wachtruppe Dienst tat, listete für seine späteren wissenschaftlichen Publikationen akribisch die Bestände auf – Enten, Störche, Kuckucke.
Wie kommen wir also Gradowskis Aufruf nach, uns ein Bild von Auschwitz zu machen, das so aussieht wie die Wirklichkeit? Historiker versuchen manchmal, dem Grauen ein Gesicht zu geben, indem sie Einzelschicksale aus der Masse herauslösen. Doch das bringt uns noch nicht dicht genug an die Wirklichkeit heran. Näher kommen wir ihr, wenn wir versuchen, die „gelebte Erfahrung“ (ein Begriff des amerikanischen Ethnologen Clifford Geertz) der Gefangenen, der
Täter und der Zuschauer sichtbar zu machen und zu betrachten, wie sie das Erlebte verstanden haben.
Indem wir das Gewebe des Alltags offenlegen – die Normalität im Unnormalen –, können wir Auschwitz aus dem Bereich des Mystischen ins Konkretere überführen. Das Augenmerk liegt dann nicht mehr auf dem Lager als einem Denkmal des Leidens außerhalb der Zeit, sondern auf dem Leben und Sterben in Auschwitz, wie es sich historisch ereignet hat.
In Dokumenten und späteren Berichten der Zeitzeugen haben sich viele Spuren gelebter Erfahrung erhalten. So viele sogar, dass sich schärfere Konturen erst dann abzuzeichnen beginnen, wenn wir bestimmte Aspekte herausfiltern, um sie genauer unter die Lupe zu nehmen. Dazu gehört das reale Gelände der Verfolgung. Wenn wir uns näher anschauen, wie diese Räume und Orte sinnlich wahrgenommen wurden und welche Empfindungen mit ihnen verbunden waren, sehen wir das Lager in größerer Deutlichkeit, angefangen bei der Topografie von Auschwitz.
Nach dem deutschen Überfall auf Polen im Herbst 1939 begann die SS schon bald Ausschau zu halten nach geeigneten Orten für ein neues Konzentrationslager für polnische politische Gefangene. Ihre Wahl fiel auf die oberschlesische Stadt Oświęcim (von den Besatzern in Auschwitz umbenannt), für die eine gute Verkehrsanbindung und ein großes Kasernenareal am Ortsrand sprachen, das den Kern des neuen Lagers bilden würde. Allerdings lag es in einer unwirtlichen Umgebung, und in den Folgejahren beschwerten sich SS-Männer und Betriebsangehörige der IG Farben immer wieder über die schlechten Bedingungen vor Ort, über Insekten und Infektionen. In ihrem kolonialen Herrschaftsdenken lasteten sie diese dem „primitiven Osten“ an.
Was für die Besatzer lästig war, stellte für die von SS-Misshandlungen geschwächten Gefangenen eine tödliche Gefahr dar. Ausgehungert und in schlechter körperlicher Verfassung sahen sie in der Natur einen weiteren Feind. Morgens prüften sie besorgt die launischen Wetterverhältnisse, denn jede Jahreszeit hielt ihre eigenen Qualen bereit. Im Frühjahr und Herbst führten Regenfälle und starker Wind dazu, dass alle, die im Freien arbeiten mussten, bis auf die Knochen durchnässt wurden. Der dicke Schlamm, der weite Teile des Geländes überzog, heftete sich schwer an müde Füße und zerrissene Kleidung und drang in die Träume der Gefangenen vor. „Wenn es regnet“, schrieb Primo Levi später, „möchte man weinen können.“
Wenn es regnet, möchte man weinen können
War der Boden im Sommer unter der Sonne getrocknet, verwandelten sich große Teile des Lagers in eine staubige Wüste. Die Hitze lastete schwer auf den von der Sonne verbrannten Insassen, die nun noch mehr unter Fliegen und Mücken zu leiden hatten. Am schlimmsten war der unerträgliche Durst, der den Mund so austrocknete, dass das Sprechen mitunter kaum mehr möglich war. Aber auch die Kälte war unter den Häftlingen gefürchtet. Die dünnen Uniformen und primitiven Baracken boten kaum Schutz vor Frost und Schnee. Mit dem Winter nahte, das war bekannt, die Jahreszeit der Erfrierungen und Amputationen.
Obwohl sie der SS und dem Wetter auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren, ergriffen die Gefangenen jede noch so kleine Gelegenheit, um ihr Los zu verbessern. In unbeobachteten Momenten aßen sie Schnee, um den Durst zu löschen, oder wuschen sich damit. Wenn irgend möglich, versuchten sie, eine Arbeit zu ergattern, die besseren Schutz vor der Witterung bot, weil sie wussten, dass das über Leben oder Tod entscheiden konnte. Unterdessen machte sich die SS daran, die natürliche Umgebung mithilfe von Sklavenarbeit zu kultivieren. Sie ließ Beete anlegen und Bäume pflanzen, um ihre Amtsstuben zu verschönern und ihre Verbrechen zu verbergen. Zu diesen Veränderungen der natürlichen Umgebung traten umfangreiche Baumaßnahmen.
Die Gebäude, Ruinen und 13 Kilometer Umzäunung, die die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau heute ausmachen, sind die greifbaren Überreste dessen, was einmal eine Metropole des Terrors war. Neben den Häftlingsbaracken bestand sie aus Werkstätten und Magazinen, Garagen und Wäschereien, Bäckereien und einem Schlachthof. Die SS-Siedlung hatte sogar ihre eigenen Kindergärten. Viele dieser Stätten lagen innerhalb des „Interessengebietes“, einer großen, von der SS verwalteten Zone, die etwa 40 Quadratkilometer umfasste und deren finsteres Herzstück das Stammlager und seine Erweiterung in Birkenau bildeten. Hinzu kamen mehr als drei Dutzend Nebenlager, meist in der Nähe von Baustellen, Fabriken, landwirtschaftlichen Gütern und Kohlegruben.
Das größte dieser Außenlager war Monowitz, wo die IG Farben die Häftlinge zur Sklavenarbeit zwang. Die Unterschiede zwischen all diesen Stätten waren beträchtlich. Im Stammlager fürchteten die Insassen etwa ihre Verlegung nach Birkenau mit seinem sumpfigen Gelände und seinen maroden Baracken, wo Durst, Schmutz und Krankheiten noch schlimmer zu wüten schienen als ohnehin.
Der heutige Besucher oder die heutige Besucherin der Gedenkstätte begegnet einem Ort der Stille, der wie festgefroren daliegt. Um uns vorzustellen, wie es dort früher einmal aussah, müssen wir ihn aus dieser Starre lösen. SS-Männer auf Fahrrädern, Motorrädern und in Autos fuhren ständig kreuz und quer durchs Gelände. Auch die Insassen waren in dauernder Bewegung, rannten zu den Latrinen, marschierten in Kolonnen zur Arbeit oder schleppten sich in die Krankenstuben. Tagein, tagaus trafen Züge und Lastwagen mit neuen Gefangenentransporten ein oder brachten Häftlinge von einem Ort zum anderen. Beim „Geräusch der wohlbekannten Autoräder“ wussten Gefangene wie Salmen Gradowski, die im Sonderkommando bei den Krematorien arbeiteten, dass neue Opfer auf dem Weg waren.
Pausenlos wurden Waren für die SS angeliefert, von Baumaterialien bis zum Giftgas, oder Dinge versandt: angefangen bei kriegswichtigen Gütern, die die Häftlinge hergestellt hatten, bis hin zur Habe der ermordeten Jüdinnen und Juden. Gegen Ende wurden sogar Teile der Krematorien verladen, in der Hoffnung, sie andernorts wiederverwenden zu können.
Das Lager befand sich also unablässig in Bewegung. Das galt nicht nur für Menschen und Waren, sondern auch für das Areal, das sie durchquerten. Auschwitz war eine riesige Baustelle, die sich permanent veränderte. Gebäude wurden abgerissen, erweitert oder neu errichtet. Noch im September 1944, nur wenige Monate vor der Befreiung im Januar 1945, fand die feierliche Einweihung eines großen neuen SS-Truppenlazaretts in Birkenau statt. Für das Vorhaben zeichnete sich die SS-Zentralbauleitung vor Ort verantwortlich, zuständig für so vieles, von Türgriffen bis zu Komplexen wie Birkenau mit seinen vier Krematorien. Diese führten den zur Zwangsarbeit bestimmten Häftlingen unablässig vor Augen, was vielen von ihnen bevorstand. Obwohl nur wenige Gefangene direkt auf die Krematorien blickten, konnten sie ihre Gegenwart doch keinen Moment vergessen. Sie rochen das brennende Fleisch, sahen den Nachthimmel darüber rot glühen und am Tage die dicken Rauchschwaden.
Mit den Bauvorhaben wollte die SS ihre Herrschaft zementieren. Aber unabsichtlich eröffnete sie den Häftlingen damit auch neue Handlungsspielräume. Je mehr Bauunternehmen im Lager arbeiteten, umso mehr ergab sich die Gelegenheit für Bestechungen und Tauschgeschäfte. Das über das ganze Areal verteilte Baumaterial und der Betrieb erschwerten es, die Übersicht zu behalten. Zugestellte Sichtachsen öffneten Räume für verbotenes Tun, von der Erholungspause bis zur Flucht. Auch auf anderen Feldern kamen SS-Planung und -Praxis nicht zur Deckung. Aus Sicht der nationalsozialistischen Führung bot der Zweite Weltkrieg die Chance zur Eroberung von „Lebensraum“, verbunden mit mörderischer wirtschaftlicher Ausbeutung und ethnischer Säuberung der besetzten Ostgebiete. Auschwitz war davon unmittelbar betroffen. Nach dem deutschen Einfall in die Sowjetunion beabsichtigte der Reichsführer SS Heinrich Himmler, sowjetische Kriegsgefangene für ein gewaltiges Bau- und Siedlungsprogramm einzusetzen, um „den Osten deutsch zu machen“. Im Oktober 1941 begann die SS mit der Errichtung von Birkenau als riesiges Arbeitskräftereservoir sowjetischer Zwangsarbeiter. Doch daraus wurde nichts: Es kamen weit weniger Kriegsgefangene als erwartet, und die meisten starben bald. 1942 ging die SS daher zur Massendeportation von Jüdinnen und Juden in den neuen Lagerkomplex über und funktionierte Birkenau zum Holocaust-Todeslager um.
Lager wie Auschwitz werden manchmal als Orte gesehen, in denen der totale Herrschaftsanspruch des NS-Systems perfekte Gestalt annahm. Diese Vorstellung entspricht sicher dem, was die Täter im Sinne hatten. Aber zwischen ihren monumentalen Entwürfen und der gebauten Realität tat sich oft eine Kluft auf. Ständig wechselnde Prioritäten, Materialknappheit, widrige Wetterbedingungen und, allem voran, das massenhafte Sterben im Heer ihrer Zwangsarbeiter machten der SS immer wieder einen Strich durch die Rechnung. Statt großer Visionen wurden oft schnelle Behelfslösungen umgesetzt, mit dem Ergebnis, dass, wie der Kunsthistoriker Paul Jaskot in einer Arbeit zum Aufbau von Auschwitz feststellt, rational organisierte, gründlich geplante und umgesetzte Bauvorhaben eher die Ausnahme waren. Die Vorstellung von Auschwitz als einer zielgerichteten, reibungslos effizienten totalitären Maschinerie ist offensichtlich unzutreffend.
Beweglichkeit und Wandel sind auch kennzeichnend für die sichtbaren und unsichtbaren Grenzen, die Auschwitz in verschiedene Sektoren unterteilten. Die meisten dieser sozialen Räume waren Schöpfungen der SS, um die Gefangenen nach Gesundheit, Alter, Herkunft und ähnlichen Kriterien zu trennen. Im Frühsommer 1944, als das Sterben in Birkenau seinen Höhepunkt erreichte, bestand das Lager aus rund einem Dutzend umzäunter Lagerabschnitte: Zwangsarbeiter waren von Kranken, Neuankömmlinge von Veteranen, Männer von Frauen abgesondert (mit Ausnahme von zwei Lagerabschnitten für Familien, einem so genannten „Zigeunerlager“ und einem für aus dem Ghetto Theresienstadt deportierte Juden).
Beweglichkeit und Wandel sind auch kennzeichnend für die sichtbaren und unsichtbaren Grenzen
Rigide Abläufe gaben vor, wann die Häftlinge sich wo aufzuhalten hatten. Nur einigen wenigen Privilegierten unter ihnen war es gestattet, andere Lagerabschnitte zu betreten. Doch zu keinem Zeitpunkt übte die SS absolute Kontrolle aus, denn Gefangene entwickelten, um einen Begriff des Historikers Tim Cole zu verwenden, „räumliche Überlebensstrategien“. Nicht alle Insassen versetzte das Leid und die ständige Angst in einen Zustand der totalen Hilflosigkeit. Ungeachtet der strikten Verbote fanden sie Möglichkeiten, um miteinander zu sprechen, zu beten, zu kochen und sich gelegentlich sogar zu betrinken: So mixten Häftlinge des Leichenträgerkommandos manchmal, unbemerkt von der SS, im Sezierraum des Stammlager-Krematoriums Cocktails, die nach Benzin und Formaldehyd stanken.
Bei aller Machtfülle hatte die Lager-SS ihre Augen nicht überall. Tatsächlich vermieden viele SS-Angehörige aus Angst vor Häftlingsangriffen oder Ansteckung, den Gefangenen zu nahe zu kommen. Die Stacheldrahtzäune dienten auch dem Zweck, einen sicheren Abstand zwischen Häftlingen und SS zu schaffen. Es war kein Zufall, dass die Baracken der SS-Blockführer in Birkenau außerhalb der vom Stacheldraht umzäunten Bereiche standen. Neben den Grenzen zwischen SS und Häftlingen existierten auch solche, die das SS-Personal nach Rang, Geschlecht und Funktion unterteilten. Zutritt zu den am Rand des Areals in Birkenau untergebrachten Gaskammern und Krematorien wurde normalerweise nur einem kleinen Kreis von SS-Vernichtungsspezialisten gewährt. Diese Männer hielten sich etwas darauf zugute, härter und belastbarer als ihre Kameraden zu sein – ein extrem maskulines Arbeitsumfeld, von dem weibliches Wachpersonal ausgeschlossen war.
Am wichtigsten war die Grenze, die den Lagerkomplex von der Außenwelt trennte. Die Lagerabschnitte für Häftlinge waren von Stacheldraht, Zäunen und Wachtürmen umgeben: Auschwitz, so begrüßte Obersturmführer Karl Fritzsch 1940 die mit dem ersten Massentransport nach Auschwitz eintreffenden polnischen politischen Gefangenen, sei „ein deutsches Konzentrationslager, aus dem es keinen anderen Ausgang gibt als durch den Schornstein des Krematoriums“.
Aber die meisten Insassen hielten sich nur nachts in ihren Blöcken auf. Tagsüber verrichteten sie oft Sklavenarbeit außerhalb des Schutzhaftlagers, eskortiert von bewaffneten Wachposten. Andere Posten bezogen Kontrollpunkte, die weite Bewachungsringe um Teile des „Interessengebietes“ bildeten. Diese Besatzung der so genannten großen Postenketten wurde nach Ende des Arbeitstages, wenn die Häftlinge in ihre Blöcke zurückgekehrt waren, wieder abgezogen. Auf diese Weise erweiterten und verengten sich die Lagergrenzen von Auschwitz täglich.
Aus Sicht der SS diente die Abschirmung des Lagers von der Außenwelt der Kontrolle über die Gefangenen, den Warenverkehr und den Informationsfluss. Aber die Arbeitseinsätze außerhalb des Lagers machten diese Grenze durchlässiger und boten Gelegenheiten für heimliche Kontakte zwischen den Häftlingen und der Bevölkerung. Polnische Zivilist:innen aus dem umgebenden Gebiet ließen den Gefangenen Nahrungsmittel und Medikamente zukommen und erfuhren manches, was im Lager vor sich ging.
Nachrichten über die Verbrechen der SS drangen auch auf anderem Wege aus dem Sperrgebiet nach außen – etwa über Ehefrauen der SS-Männer, Angestellte bei IG Farben, Arbeiter bei der Reichsbahn oder deutsche Polizisten. In der Stadt Auschwitz kursierten nicht nur Gerüchte, sondern auch handfeste Beweise. Denn kein Zaun konnte die übel riechenden Rauchschwaden aufhalten, die bei starkem Wind aus Birkenau bis hin zum Bahnhof und darüber hinaus zogen. Eine deutsche Lehrerin, die von Berlin nach Auschwitz gezogen war, fand bei der Rückkehr aus dem städtischen Gymnasium ihren Schreibtisch zu Hause mit weiß-grauen Flocken übersät, die wie Zigarrenasche aussahen. Ihre Wirtin erklärte, es handele sich um „Menschenasche“ aus dem Konzentrationslager. „Sie verbrennen dort wieder welche im Krematorium.“
Kein Zaun konnte die übel riechenden Rauchschwaden aufhalten, die bei starkem Wind aus Birkenau bis hin zum Bahnhof und darüber hinaus zogen
Die materiellen Spuren des Massenmordes – Gestank, Rauch, verbrannte´Überreste aus den Öfen – werfen ein Schlaglicht auf die enorme Rolle der Sinneswahrnehmung für die Gefangenen in Auschwitz. Ihr Tagesrhythmus wurde mit Gongschlägen, Sirenengeheul und Pfeifen vorgegeben. Während das Zeitgefühl der Häftlinge allmählich an Konturen verlor, weil die Tage ineinander verschwammen, war jeder einzelne Tag scharf von SS-Geräuschen unterteilt. In Ermangelung von Uhren mussten sich die Insassen für die Zeitmessung im Lager an der Geräuschkulisse der SS orientieren, die ihren Bewegungen, beginnend mit dem Wecken und dem Morgenappell, den Takt vorgab. Wer ein Signal verpasste, befand sich in größter Gefahr.
Einen starken Einfluss hatten die Sinneseindrücke auch auf das Erleben der Häftlinge, denn sie setzten Erinnerungen frei. Der seltene Duft von frisch gebackenem Brot weckte Gefühle aus dem Leben in Freiheit, ebenso das ungewohnte Sitzen auf einem richtigen Stuhl. Der Anblick eines in der Ferne brennenden Feuers konnte die Häftlinge zurückversetzen an den heimischen Kamin, gemurmelte Gebete in die Synagogen oder Kirchen ihrer Kindheit. Primo Levi, der Chemie studiert hatte, wurde beim Betreten eines Laboratoriums der IG Farben von dem Geruch wie von einem Schlag getroffen: „Für einen Augenblick durchzuckt mich die Erinnerung an den halbdunklen Universitätssaal, an mein viertes Studienjahr, an die milde Maienluft in Italien.“
Obwohl die Sinne so bestimmend für das Erleben der Gefangenen waren, nehmen Auschwitz-Studien hierauf selten Bezug. Schon in den 1970er Jahre schrieb der amerikanische Literaturwissenschaftler Terrence Des Pres in einer richtungsweisenden Arbeit über die Todeslager, dass wir „gerne vergessen, wie die Lagerhäftlinge aussahen und rochen“. Nur wenige Historiker:innen sind seiner Anregung gefolgt, sich genauer mit diesen Aspekten des Alltagslebens im Lager zu befassen – vielleicht aus der Befürchtung heraus, sie könnten damit die Würde der Opfer verletzen. Doch die körperliche Realität der SS-Misshandlungen auszublenden, trägt nur dazu bei, die Lager keimfrei zu machen, die Opfer zu verklären und so das Geschehen noch weiter zu entwirklichen.
Doch die körperliche Realität der SS-Misshandlungen auszublenden, trägt nur dazu bei, [...] das Geschehen noch weiter zu entwirklichen
Sich Auschwitz vorstellen heißt, sich eine tägliche Dauerattacke auf die Sinne vorzustellen. Des Pres beschreibt in seiner Arbeit den „Fäkalangriff“ der Lager, wo Gefangene und Gelände in Urin und Kot versanken. Ein Überlebender erinnert sich an „jenen charakteristischen Gestank, der in der Anfangszeit des Lagers Birkenau im Umkreis von mindestens einem Kilometer zu riechen war“. Des Pres irrt, wenn er hierin eine bewusste Strategie der SS zur Entwürdigung der Gefangenen sieht. Die unter ihnen grassierende Diarrhö war tatsächlich eine Folge von Hungerrationen und systematischer Überbelegung. Aber die olfaktorischen Aspekte eines Ortes wie Auschwitz untersucht er zu Recht. Schließlich waren die Exkremente überall, und der Durchfall – der manchen Häftling zwang, sich mehr als zwanzig Mal am Tag zu entleeren – erniedrigte seine Opfer und führte zu lebensbedrohlicher Entkräftung.
Der Geruch gab nicht nur Aufschluss über die Position jedes oder jeder Einzelnen in der Häftlingshierarchie, sondern verstärkte sie auch weiter. Einige wenige Privilegierte hatten Zugang zu sauberem Wasser, Medikamenten, frischer Kleidung, manchmal sogar zu Parfüm, das sie aus den Magazinen „organisierten“, in denen die Habe der ermordeten Jüdinnen und Juden aufbewahrt wurde. Am untersten Ende der Skala standen die Insassen mit dem übelsten Körpergeruch. Sie wurden gemieden und liefen permanent Gefahr, ins Gas geschickt zu werden.
Der Geruchssinn ist natürlich von kulturellen und sozialen Mustern geprägt: Was eine Gruppe als angenehm empfindet, kann bei einer anderen Ekel erregen. Denken wir an die Latrinen in Auschwitz: Des Pres verbindet ihren Gestank mit Tod und Erniedrigung. Aber für die Häftlinge selbst waren andere Aspekte manchmal wichtiger. Bei all dem Leid, das sich an den Latrinen zutrug, verhieß der Geruch für manche von ihnen ein Gefühl von Sicherheit. Die Kapos der „Scheißkommandos“, die die Entleerung der Gruben überwachten, schoben dort ihrer Meinung nach eine ruhige Kugel, und andere Gefangene fanden hier manchmal Zuflucht vor Regen oder den wachsamen Augen der SS. Primo Levi nennt die Latrine „eine Oase des Friedens“. Auschwitz konnte individuelle Empfindlichkeiten verändern.
Nicht so bei den Tätern. Es ist häufig so, dass dominante soziale Gruppen „abstoßende Gerüche“ den „anderen“ zuschreiben: den Armen, Prostituierten, ethnischen Minderheiten. Der Gestank von Auschwitz verstärkte bei SS-Angehörigen und ihren Komplizen die Vorstellung, dass es sich bei den Häftlingen um gefährliche, schmutzige und kranke Untermenschen handelte. Als Primo Levi es einmal wagte, eine Zivilarbeiterin im Labor der IG Farben anzusprechen, beschwerte diese sich bei ihrem Vorgesetzten über die Unverschämtheit dieses „Stinkjuden“.
Einigen Insassen ging es besser: Die zur Büroarbeit ausgewählten Gefangenen durften sich oft häufiger waschen und erhielten bessere Häftlingskleidung, um dem SS-Personal den schlimmsten Gestank zu ersparen und es vor ansteckenden Krankheiten zu schützen. Doch nicht alle Angehörigen der Lager-SS fühlten sich dadurch schon sicher. Den Unterscharführer Bernhard Kristan von der Politischen Abteilung in Auschwitz etwa entsetzte der Gedanke, die Klinke zum Zimmer der jüdischen Schreiberinnen mit der Hand herunterzudrücken, dazu nahm er den Ellbogen.
Das bringt uns zu der komplexen Vielfalt an Gefühlen im Lager, auch ein weitgehend unbeschriebenes Blatt in der Beschäftigung mit gelebten Erfahrungen im Holocaust. Eine Annäherung an eine systematische historische Emotionsforschung ermöglicht Barbara Rosenweins Konzept der „emotionalen Gemeinschaften“ – sozialer Gruppen, die Vorstellungen von geforderten und missbilligten Gefühlen teilen, sowie davon, welche Formen des Gefühlsausdrucks zulässig sind.
Die Lager-SS bildete solch eine emotionale Gemeinschaft. Eine ihrer Regeln lautete, dass Mitgefühl für Gefangene weder empfunden noch gezeigt werden durfte. Gefühlsaufwallungen angesichts etwa eines weinenden Kindes mochten im Privatkreis tolerabel sein. Öffentlich bekundete Betroffenheit oder Bestürzung hingegen war tabu. Rudolf Höß, Kommandant von Auschwitz, beschreibt in seinen Aufzeichnungen, dass er beim Töten jedes Mitgefühl zu unterdrücken verstand. Er hielt es für das Ideal eines „politischen Soldaten“, kaltblütig Befehle auszuführen, ohne aber an den Schmerzen der Opfer Gefallen zu finden. Höß pflegte ein pervertiertes Verständnis von Pflicht und Anstand wie Himmler. Dieser wollte seine Männer ein „Ruhmesblatt“ der Geschichte schreiben sehen, wie er die Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden nannte, und wünschte, dass sie hart, aber nicht grausam seien. Unter den Männern in der Lager-SS gab es viele, die diesen grotesken Unterschied nicht machten und sich Gewaltexzessen hingaben. In der Hoffnung auf Beförderung setzten einige ihren Hass in Szene, etwa auf dem Appellplatz, bald schon als Ort besonderer Grausamkeit gefürchtet.
Die SS-Gewalt vermittelte den Häftlingen auch klare Normen für ihre Gefühlsäußerungen. Sie lernten schnell, dass man besser nicht auffiel, wenn man nicht zur Zielscheibe von Gewalt werden wollte. Jede erkennbare Gefühlsregung brachte diese Gefahr mit sich, denn bereits ein Laut, eine Geste – das kleinste Anzeichen von Angst oder Empörung – konnte die Aufmerksamkeit der SS auf einen lenken. Daher versuchten die Gefangenen, ihre Gefühle bei jeder Begegnung mit der Lager-SS zu verbergen.
Jede erkennbare Gefühlsregung brachte diese Gefahr mit sich, die Aufmerksamkeit der SS auf einen zu lenken
Diese Gefühlsbeschränkungen durchzogen alle Lagerabläufe und Räume. Eine in der Schreibstube eingesetzte jüdische Gefangene stieß 1942 beim Ausfüllen von Formularen für Todesfälle auf den Namen ihres Bruders, „schluchzte, bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und stöhnte leise“. Als Stimmen von SS-Leuten aus dem Nachbarzimmer drangen, hörte sie sofort auf zu weinen, wie sich eine Freundin erinnert. „Allein ihre roten Augen und das Zittern, das ihren Körper durchfuhr, zeugten, wie sehr sie litt.“
Andere Häftlinge konnten überhaupt nicht weinen. Salmen Gradowski schrieb im Frühjahr 1944, er habe nicht einmal „einen Seufzer, eine Träne“ für seine ermordete Familie. „In dem höllischen Leben, in dem ich mich jetzt schon bald sechzehn Monate befinde, hatte ich noch nie auch nur einen Tag, einen Tag, an dem ich mich in meine eigene Welt hätte zurückziehen und dort mein großes Unglück wirklich hätte sehen, fühlen, spüren, können.“
Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass in Auschwitz für Gefühle kein Platz mehr blieb. Aber aus Gradowskis Aufzeichnungen sprechen sehr viele Gefühle, darunter sein brennender Wunsch nach Rache.´Die Opfer wurden unter der SS Herrschaft nicht zu „gespenstischen Marionetten mit menschlichem Antlitz“, wie Hannah Arendt einmal schrieb. Im Gegenteil, die Zeugnisse der Häftlinge verweisen auf die Komplexität des emotionalen Erlebens in Auschwitz, man empfand Scham und Neid, Freundschaft und Liebe.
Im Angesicht seines nahezu sicheren Todes verlangt Salmen Gradowski von uns das Unmögliche: uns das ganze Grauen von Auschwitz vorzustellen. In seiner Totalität liegt Auschwitz jenseits des uns Vorstellbaren. Aber wir müssen es trotzdem versuchen. Sonst bleibt eine Lücke, die weiterhin mit Mythen aufgefüllt wird. Um es mit Tony Judt zu sagen: „Weil die Erinnerung an den Holocaust, wie er wirklich war, nicht möglich ist, läuft er Gefahr, so in Erinnerung zu bleiben, wie er nicht war.“
Eine Möglichkeit, die „Erfahrung des Lagers“, wie Primo Levi es nannte, besser zu verstehen, liegt darin, die räumlichen, sinnlichen und emotionalen Dimensionen genauer zu betrachten. Nehmen wir die Pritsche, im Leben der Häftlinge von großer Bedeutung, von der Geschichtsschreibung aber wenig beachtet. Wer abends zurück in den Block kam, dem war es gelungen, einen weiteren Tag am Leben zu bleiben. Aber mit Ruhe konnte man kaum rechnen. Auf engstem Raum zusammengepfercht, fürchteten viele Gefangene die Nacht. Der Körper schmerzte, aufgescheuert von Holzspänen und fauligem Stroh, einer Brutstätte für Flöhe. Streitereien und der Gestank der Kübel hielten die Häftlinge wach, vor allem in der Sommerhitze. Wer in den Schlaf gefunden hatte, schreckte vom Stöhnen der Kranken oder den Schreien der Albtraumgeplagten auf. All die mit den Pritschen verknüpften körperlichen und seelischen Empfindungen erinnern uns daran, dass die Höllenqual von Auschwitz unablässig, unaufhörlich fortdauerte.
In der Enge der Pritsche konnte aber auch menschliche Nähe entstehen. Manchmal vergaßen Gefangene dort im Gespräch mit Freunden oder im gemeinsamen Gebet für Augenblicke das Grauen des Lagers. Und manchmal machten kurze selige Träume selbst an diesem unerträglichen Ort das Leid für kurze Zeit vergessen – wenn das Erwachen danach auch umso entsetzlicher war. Im Halbschlaf, schreibt Salmen Gradowski, mochte ein Häftling immer noch die Gesichter seiner Lieben sehen, ihr Lachen hören, ihre warme Berührung spüren. Bis er mit Entsetzen merkte, wo er war und dass von seiner Familie schon lange keiner mehr lebte. „Ach, warum nur hat der Gong ihn aufgeweckt? Wie glücklich er doch wäre, könnte er für immer in den süßen Traum versinken und nie wieder aufwachen. Ach, das wäre ein wahrlich glücklicher Tod!“
Falls Sie auf Begrifflichkeiten gestoßen sind, die Sie gerne noch einmal nachschlagen möchten, haben wir ein Glossar rund um die Themen der Neuproduktion Die Passagierin erstellt.