Mieczysław Weinberg – Viertens: Nicht-Aufführungsgeschichte

über das absurde Theater der Kulturpolitik

Text: Verena Mogl

Es ist bekannt, dass die erste öffentliche (konzertante) Aufführung der Passagierin erst zehn Jahre nach Mieczysław Weinbergs Tod am 25. Dezember 2006 erfolgte.

Doch diesem ersten Erklingen des Werkes geht eine Reihe von Aufführungen voran, deren Zweck allein darin lag, das Werk überhaupt an die Öffentlichkeit zu bringen. Man muss dazu wissen, dass in der Sowjetunion alle Kompositionen vor ihrer Veröffentlichung einen Prozess durchlaufen mussten, im Zuge dessen ein Gremium des Komponistenverbands über das Wohl und Wehe, über Aufführung, Veröffentlichung oder Verwerfung eines Werks entschied. Dieses Gremium setzte sich zusammen aus Expert:innen – teils prominenten Musiker:innen –, die ihre Fachkenntnis einbringen konnten, sowie aus Parteimitgliedern, die auf die richtige politische Ausrichtung achteten. Umfangreichere Kompositionen – zu denen eine Oper zweifelsohne zählt – wurden bereits im Laufe ihrer Entstehung ausgiebig im Komponistenverband diskutiert – und je nach Stimmung oder genannten Kritikpunkten mussten Überarbeitungen vorgenommen werden. Die Protokolle dieser Gremiensitzungen, in denen weder frei gesprochen werden konnte, noch die angehörten Werke wirklich nach ihrem künstlerisch-ästhetischen Anspruch bewertet wurden, lesen sich fast grotesk – Dmitri D. Schostakowitsch widmete diesen Sitzungen seine Satire-Komposition Antiformalistischer Rajok. Nach bisherigem Kenntnisstand wurde die Passagierin mindestens zwei Mal im Komponistenverband zur Anhörung aufgeführt.

Doch diese Aufführung erfolgte nicht etwa durch ein großes Orchester, einen Chor und Solist:innen. Nein, stattdessen war es der Komponist selbst, der, alleine am Klavier, die gesamte Oper spielte – und sang. Von diesem schier unvorstellbaren Kraftakt Weinbergs, den er mehrmals durchführte, ist eine Aufnahme vorhanden. Und es ist sowohl seinen Fähigkeiten als Pianist wie auch der Kraft der Partitur zu verdanken, dass die Anhörungen auch unter diesen Umständen offensichtlich positiv verlief. Weinbergs Leistung wurde denn auch im Gremium gewürdigt, veranlasste jedoch eine Teilnehmerin zu der Bemerkung, eine „echte“ Aufführung der Oper sei sehr wünschenswert, da Weinberg zwar ein hervorragender Komponist, aber kein Sänger sei.

Nach einer Anhörung am 1. November 1968 waren sich die Anwesenden einig, dass es sich bei Opus 97 um ein hervorragendes und bedeutendes Werk handele. Dmitri D. Schostakowitsch war voll des Lobes für die Passažirka und sagte, es handle sich um „eine erstaunlich ausgezeichnete Partitur.“ Er selbst befinde sich „in einem Zustand großer Erregung“ und hoffe, dass die Oper „in allernächster Zeit“ auf der Bühne zu hören sein werde. Auch der Komponist Georgi W. Swiridow zeigte sich von dem Werk begeistert und betonte, dass sich Weinberg „aufgrund seines Schicksals das Recht auf eine solche Komposition erworben“ habe. Denn die Oper verhandle große menschliche und moralische Fragen, über die nicht jeder schreiben könne.

Auch weitere Redner:innen stimmten in das Lob ein, doch wurde angemerkt, dass es einflussreiche Menschen gebe, die das Thema der Oper schlichtweg nicht interessiere. Unglücklicherweise hätten diese Menschen jedoch das Sagen in den Theaterhäusern. Man kam deshalb überein, dass eine szenische Aufführung wohl zunächst schwierig sein würde. Doch da alle Anwesenden für eine baldige Aufführung plädierten, bot Dmitri B. Kabalewski seine Unterstützung an und machte den Vorschlag, das Werk zunächst konzertant aufzuführen. Auch eine Radioproduktion wurde in Erwägung gezogen. Nach der begeisterten Reaktion des Auditoriums setzte sich Schostakowitsch – allen Widrigkeiten zum Trotz – unmittelbar für die baldige szenische Umsetzung der Oper ein. Doch auch wenn man im Moskauer Bolschoi-Theater zunächst versicherte, die Oper in den nächsten Tagen anzuhören, um über eine Aufführung zu entscheiden, passierte daraufhin – nichts. Im Folgenden zeigten sich wohl weitere vier Operntheater, davon zwei im baltischen Raum, an einer Aufführung interessiert. Doch auch hier passierte – nichts. Es gibt Hinweise, die nahelegen, dass sich 1973 schließlich das Prager Nationaltheater der Oper annahm. Doch auch hier kam keine Aufführung zustande, angeblich, weil in einem Anruf aus Moskau die Oper als „abstrakter Humanismus“ abgekanzelt wurde und der Rat erfolgte, mit der Aufführung „nicht zu eilen“.

Warum genau keine Aufführung stattfand und wieso dazu erst das Ende der Sowjetunion kommen musste, ist bisher nicht geklärt. Anders als manchmal angegeben, wurde die Oper nie offiziell verboten. Plausibel scheint vielmehr, dass sich schlichtweg an dem brisanten Stoff in der auch ideologisch instabilen politischen Situation niemand die Finger verbrennen wollte. Und wenngleich die Oper 1969 selbst vom Vorsitzenden des Komponistenverbands Tichon N. Chrennikow gelobt worden war, so gab es in den verschiedenen, auch zensorisch durchsetzten Instanzen sicherlich Menschen, die sich an der Thematik und Verarbeitung des Themas störten.

Für Weinberg war es bitter, dass er das Werk, das ihm am meisten am Herz lag, nie zu hören bekam. Kurz vor seinem Tod erwähnte er dies vor Alexander W. Medwedew. Und Medwedew versprach ihm, im Falle einer Aufführung „doppelt“ zu hören: einmal für sich und einmal für Weinberg. Dieses Versprechen konnte er einlösen, als er fast zehn Jahre später der konzertanten Uraufführung in Moskau beiwohnte. Die szenische Uraufführung in Bregenz erlebte leider auch Medwedew nicht mehr. Doch dass sich die Nicht Aufführungsgeschichte mit dieser Uraufführung in eine fulminante Aufführungsgeschichte verwandeln würde, hätten sich wohl weder Medwedew, noch Weinberg je zu erhoffen gewagt.

Falls Sie auf Begrifflichkeiten gestoßen sind, die Sie gerne noch einmal nachschlagen möchten, haben wir ein Glossar rund um die Themen der Neuproduktion Die Passagierin erstellt.

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© Yvonne Schmedemann

Verena Mogl

Verena Mogl, 1976 im niederbayerischen Vilsbiburg geboren, studierte an der Universität Hamburg Historische und Systematische Musikwissenschaft sowie Neuere deutsche Literatur. Nach ihrem Abschluss war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem Forschungsprojekt zu der Sängerin und Komponistin Pauline Viardot an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Dort war sie von 2018 bis 2021 auch Projektleiterin und künstlerische Leiterin der „akademie kontemporär“. Seit 2018 lehrt sie im Fachbereich Musikwissenschaft, ihre Forschungsschwerpunkte sind russische und sowjetische Musik sowie der Themenbereich Musik und Symbolismus. 2014 verfasste sie ihre Dissertation zu Mieczysław Weinberg, die unter dem Titel „Juden, die ins Lied sich retten“ – Der Komponist Mieczysław Weinberg (1919–1996) in der Sowjetunion veröffentlicht wurde.

Mieczysław Weinberg – Vier Episoden

über den Komponisten, sein Schaffen und die Oper

Die Passagierin

Oper in zwei Akten (Komposition 1968, konzertante Uraufführung 2006)