Juni 2010. Zofia Posmysz öffnete die Tür zu ihrer Wohnung in der ulica Leona Schillera, keine 800 Meter vom Marktplatz in der Altstadt entfernt. Auch der polnische Theaterregisseur Leon Schiller, nach dem diese Warschauer Straße benannt ist, war von den deutschen Besatzern in das Konzentrationslager Auschwitz verschleppt worden. Und um Auschwitz sollte es bei unserem Besuch ja gehen.
Die Dame war eine elegante, grazile Erscheinung. Sie begrüßte uns auf Deutsch und bat uns, Platz zu nehmen: rundum antikes Mobiliar, an den Wänden Gemälde, darunter ein Portrait des Paters Maximilian Kolbe, der in Auschwitz ermordet worden war, eines von Papst Johannes Paul II. Auf einem Beistelltischchen Getränke, Gebäck sowie Platz für das Aufnahmegerät. Daran hatte sie gedacht, schließlich war sie Journalistin durch und durch. Wochen vor dem Interview hatte sie en detail wissen wollen, worum es gehen sollte. Über ihr Leben und Überleben von 1942–1945 im KZ Auschwitz-Birkenau hatte sie schon hunderte Male als Zeitzeugin in Schulen und in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte Oświęcim/Auschwitz berichtet. Aber das war Neuland: Sie sollte über den sowjetischen Komponisten Mieczysław Weinberg sprechen, einen polnischen Juden, der der Shoah durch Flucht in die Sowjetunion entkommen war. In Polen war er in Vergessenheit geraten; in Deutschland völlig unbekannt. Vor allem sollte sich Posmysz an den langen Weg erinnern, den ihr Manuskript Pasażerka nehmen musste, das sie 1959 zunächst für ein Hörspiel verfasst hatte, dann zu einem Roman ausbaute, ehe es die Vorlage für einen Film und schließlich zum Stoff für Weinbergs Oper Die Passagierin wurde. Für 1968 war die Aufführung geplant, doch die sowjetische Zensur machte Weinberg – und mittelbar Posmysz – einen Strich durch die Rechnung. Nun, 42 Jahre später, im Sommer 2010, 14 Jahre nach Weinbergs Tod, sollte die Oper im österreichischen Bregenz uraufgeführt werden.
Da wollte Zofia Posmysz nichts dem Zufall überlassen. Erinnerung kann trügen, Erinnerung kann lügen. Sie wollte recherchieren, ihre Aufzeichnungen studieren, Fakten überprüfen. Das journalistische Handwerk eben. Sie war perfekt vorbereitet, hatte Unterlagen parat und berichtete, nun auf Polnisch, eloquent und präzise das, was Sie auf den nächsten Seiten lesen können. Als Posmysz auf den russischen Musikwissenschaftler Alexander W. Medwedew zu sprechen kam, der für Weinberg das Libretto verfasst hatte, gab sie deren damalig geführte Dialoge auf Russisch wieder. Sie war eine Frau des Wortes, mehrsprachig, gebildet, klug und bis ins höchste Alter intellektuell präsent.
Ihre Präsenz in der polnischen Öffentlichkeit und der kollektiven Erinnerung an die Verbrechen der Deutschen in Polen zwischen 1939 und 1945 sowie an den Zivilisationsbruch Auschwitz war begrenzt. Man schmälert ihre Verdienste als Autorin und Zeitzeugin nicht, wenn man sagt, dass ihre Veröffentlichungen über das Konzentrationslager, in dem der Mensch den Menschen erniedrigt und zu Material macht, nicht die literarische Bedeutung des Werks eines Tadeusz Borowski haben, nicht die empirische und analytische Wucht entfalten wie Wiesław Kielars Anus Mundi und sie als Person natürlich nicht eine ähnlich internationale Strahlkraft besaß wie der Auschwitz-Überlebende, Widerstandskämpfer und Politiker Władysław Bartoszewski.
Nach Bregenz, im Alter von 87, veränderte sich ihr Leben. Als eine der letzten Angehörigen der Erlebnisgeneration, die authentisch Zeugnis über die in der Geschichte der Menschheit einzigartige Mordmaschine Auschwitz ablegen konnte, war Zofia Posmysz nun eine gefragte Gesprächspartnerin. Wo immer Die Passagierin aufgeführt wurde, gab sie Auskunft, natürlich in der Opera Narodowa in Warschau, in Wien und Karlsruhe, Frankfurt und Wuppertal, Braunschweig und Dresden, in London, New York und Houston. 2017 war sie in Moskau, wo Weinberg endlich aus dem Schatten seines Freundes und Förderers Dmitri D. Schostakowitsch heraustrat. Heute gilt Weinberg weltweit als einer der produktivsten und besten Komponisten des 20. Jahrhunderts.
Die Einstellung des Spielbetriebs während der Corona-Pandemie ließ auch Zofia Posmysz als Zeitzeugin verstummen. Am 8. August 2022 verstarb sie kurz vor Vollendung ihres 99. Lebensjahres in einem Hospitz in Oświęcim. Dort ist sie auch begraben. Damit gilt sogar nach ihrem Tode, was sie in einem Interview mal sagte: „Manchmal denke ich, dass ich das Lager nie verlassen habe.“