„Come la Tosca in teatro“
Giacomo Puccinis Tosca zwischen Realismus und Artifizialität.
Essay von Uwe Schweikert
Foto: Sarah Bernhardt in "La Tosca" von Victorien Sardou. (ullstein bild - Roger-Viollet)
Giacomo Puccinis Tosca zwischen Realismus und Artifizialität.
Essay von Uwe Schweikert
Foto: Sarah Bernhardt in "La Tosca" von Victorien Sardou. (ullstein bild - Roger-Viollet)
Wie später Madama Butterfly (1904), La fanciulla del West (1910) und Il tabarro (1918) beruht auch Giacomo Puccinis Tosca (1900) auf einem Theaterstück, dem 1887 am Pariser Théâtre de la Porte Saint-Martin uraufgeführten Drama La Tosca des Erfolgsautors Victorien Sardou (1831–1908). Der damals am Beginn seiner Laufbahn stehende Komponist – die Premiere seiner zweiten Oper Edgar lag keine drei Wochen zurück – sah das der großen französischen Schauspielerin Sarah Bernhardt (1844–1923) auf den Leib geschriebene und ihr als alleiniges, exklusives Eigentum überlassene Stück am 7. Mai 1889 bei einem Gastspiel in Mailand und schrieb noch am selben Tag an Giulio Ricordi: „Ich sehe in dieser Tosca ein Werk wie für mich gemacht.“
Es war die visuelle Bühnenwirkung, das Spiel der Bernhardt, der neben Eleonora Duse berühmtesten Schauspielerin ihrer Zeit, das Puccini, der kein Französisch sprach, überwältigt haben muss.
Sardous „schäbiger kleiner Schocker“ (Joseph Kerman) greift in seiner drastischen, aus sex and crime, nämlich Erotik, Kunst, Politik und Religion gemischten Handlung, in der vier Menschen ums Leben kommen, theatrale Schauerelemente des Grand Guignol auf, die mit dem literarischen Naturalismus Émile Zolas so wenig zu tun haben wie Puccinis Musik mit dem musikalischen Verismo seiner Zeitgenossen Pietro Mascagni, Ruggero Leoncavallo oder Umberto Giordano.
Die Einbettung der frei erfundenen Story um Liebe, Eifersucht, Gewalt und Sadismus in ein historisch präzise verortetes, am 17. Juni 1800 in Rom spielendes Ereignis ist schon bei Sardou nur Folie, nicht Kern des Geschehens. Die Handelnden sind allesamt standardisierte Theaterfiguren, nur der flüchtige Cesare Angelotti hat ein reales Vorbild. Puccinis Librettisten Luigi Illica und Giuseppe Giacosa haben das Stück, das schon im Original ein Melodram ist, von fünf auf drei Akte operngerecht zusammengestrichen, die Figuren von dreiundzwanzig auf neun reduziert und dabei ihre geschichtliche Einbettung so verkürzt, dass sie jede explizit politische Bedeutung verliert. Selbst der bigotte Wüstling Scarpia, in dem der englische Politologe Anthony Arblaster in seinem Buch Viva la Libertà. Politics in Opera eine offensichtliche Vorwegnahme des Faschismus sehen wollte, ist der typische, allerdings ins Sadistische aufgeblähte Theaterschurke.
Der gerade der Tosca nachgesagte musikalische Verismo beschränkt sich auf wenige realistische Details der szenischen Atmosphäre – die religiöse Prozession mit dem Auftritt der päpstlichen Schweizergarde im Finale des ersten Akts, die aus dem Off zu hörende graziöse Gavotte im zweiten (hier zitiert Puccini Musik seines frühverstorbenen Bruders Michele, von dem auch Cavaradossis „Vittoria“ im zweiten Akte stammt) sowie den Stornello, das volkstümliche Lied des unsichtbaren Hirten im Vorspiel zum letzten Akt. Wenn Scarpia zu Beginn des zweiten Akts das Verhör Cavaradossis beginnt, erklingt durch das geöffnete Zimmerfenster aus dem unteren Stockwerk des Palazzo Farnese herauf die Stimme Toscas, die im Saal der Königin das Solo der Festkantate singt. Weil ihn der Gesang nervt, schlägt Scarpia mitten in der Kadenz das Fenster zu, und die Musik bricht abrupt ab – Puccini hat den Vorgang ganz realistisch komponiert. Den allergrößten Wert legte er freilich auf die Kirchenglocken, wie sie in der Morgendämmerung auf der Engelsburg zu hören sind. Er reiste eigens nach Rom und stieg in den frühen Morgenstunden auf die Plattform des Kastells, um das Glockengeläut zum ersten Ave Maria zu erleben.
In seinem Streben nach Authentizität korrigiert er penibel alle „historisch-topographisch-geographischen Ungenauigkeiten“ Sardous, wie er am 13. Januar 1899 an Ricordi schreibt. Das Ergebnis ist freilich gerade nicht Realität, sondern Artifizialität. Den Aktabschluss des bei Sardou lediglich angedeuteten Te Deums, in dem die Religion zum Theater wird, überwölbt er zum chorischen, von den Glocken und der Orgel verstärkten coup de théâtre, den Scarpias Stimme noch übertönt. Erst in der Turandot (1924) sollte er diese machtvolle Szene übertrumpfen. Das als letztes komponierte Vorspiel zum dritten Akt schließlich weitet er mit dem minutiös notierten Glockengeläut zu einem impressionistischen, mit Claude Debussy in Konkurrenz tretenden Klangbild von höchster Magie.
Auf Artifizialität zielt aber nicht nur das dokumentarische Substrat der Musik. Theater wird sich in Puccinis Tosca schon im Sujet selbst zum Thema – ein Schritt, der bereits in Sardous Drama eingeschrieben war. Sarah Bernhardts Ruhm zehrte davon, dass sie in all ihren Rollen einzig sich selbst spielte, sich selbst als Person wie als Künstlerin geradezu inszenierte – und zwar auf wie jenseits der Bühne. Das galt vor allem für zwei ihrer Glanzpartien, Victor Hugos Marion Delorme und Eugène Scribes Adrienne Lecouvreur – beides Schauspielerinnen –, und wurde durch die Überbietung als Opernsängerin in Sardous La Tosca noch gesteigert. Hier wird sie im Text mehrfach als „göttliche“ Künstlerin, ja ausdrücklich als „Diva“ angesprochen, von Scarpia nämlich wird, der nach der „l’amor della diva“, der „Liebe zu der Diva“ giert.
In seiner Vertonung vollzieht Puccini den letzten Schritt von der Deklamation zum Gesang. Die Zeitgenossen sprachen von Bernhardts „voix d’or“, ihrer „voix mélodieuse“, der Musikalität ihrer Sprechstimme. In ihrer Abhandlung L’Art du Théâtre. La Voix – La Geste – La Prononciation schreibt sie selbst, sie habe sich „eine ganz persönliche Technik geschaffen, um die klingende Musik der Verse, die Melodie der Worte so fühlbar zu machen wie die Musik und die Melodie des Gedankens.“ Dass Sardous La Tosca exemplarisch für den Darstellungsstil der Bernhardt stand, bezeugt auch ein Brief Giuseppe Giacosas (an Giulio Ricordi, 23. August 1896), der vehement von der Vertonung abriet, weil er den Stoff für das Musiktheater absolut ungeeignet fand: „Es ist ein Drama für einen Hauptdarsteller, geschaffen, um zum Beispiel die Bravour einer Sängerin zu zeigen. Und wohlgemerkt, Tosca wurde auch als Schauspiel nie ins übliche Repertoire aufgenommen. Dieses Stück ist nur der Virtuosität einer außergewöhnlichen Schauspielerin vorbehalten.“
Genau das aber war der Grund, warum Puccini zu diesem Sujet griff. Was er in Musik setzt, was er uns hören und sehen lässt, ist keine irgendwie geartete Realität im Sinne des Verismo, sondern die Artifizialität einer autoreferentiellen Kunst, wie sie für das Fin de siècle charakteristisch ist: nicht der Text Sardous, sondern „das von der Bernhardt erschaffene Bühnenereignis“ (Dörte Schmidt). Seine Tosca ist eine Operndiva, die im Leben – also wenn sie auf der Bühne steht – die Rolle einer Operndiva spielt, in einer paradoxen Potenzierung ihrer selbst also gleichsam „die Darstellerin der Darstellerin“ (Schmidt). Puccini realisiert, was das Schauspiel nicht verbalisieren, sondern nur andeuten kann. Das Singen muss nicht eigens dramaturgisch legitimiert werden. Erst er vermag mit seiner Musik in eine künstlerische Form zu fassen, was in Sardous La Tosca der Selbstinszenierung der Schauspielerin überlassen war – Bernhardts berühmte mimisch-gestische Darstellung der Ermordung Scarpias am Ende des vierten Schauspielaktes, wenn sich Tosca resignativ und zum Schein der sexuellen Gewalt fügt, um den zum Tode verurteilten Cavaradossi zu retten.
Bernhardt hat ihre Ausgestaltung der Szene, die durch eine Fotoserie Nadars dokumentiert ist, in ihrem Buch L’Art du Théâtre selbst beschrieben: „Verzehrt von Schmerz und von Fieber geschüttelt streckt Tosca die Hand aus, um ein Glas zu nehmen und ihre brennenden Lippen zu benetzen. Auf dem Tisch liegt ein Messer. Durch ihren Kopf fährt der Gedanke: den Folterer zu töten. Dabei geht ihr Blick zu ihm, kehrt zum Messer zurück. Und ihr Gedanke, durch Blicke und Geste befreit, lässt die Schreie entstehen: ‚Stirb! Stirb! Elender!‘ Würde die Künstlerin das Messer gleich ergreifen, wenn sie es sieht und den Schuft mit demselben Wutschrei töten, ohne den Schrei des Blickes und der Geste vorangehen zu lassen, wäre die Handlung weniger mitreißend.“
Puccini hat den gesamten Vorgang, „den Schrei des Blicks und der Geste“, wie ihn Sardous Regieanweisungen nur deskriptiv formulieren konnten, vor allem aber die letzte religiöse Ehre, die Tosca dem Toten erweist, auskomponiert und so aus der wortlosen Pantomime eine erschreckende Szene geformt, die in ihrer Unheimlichkeit, ja Ungeheuerlichkeit zugleich großes Theater ist. Allerdings scheint Bernhardts mimisches Spiel nicht, wie zu erwarten wäre, von einer entsprechenden Bühnenmusik begleitet gewesen zu sein. Jedenfalls enthält die erst jüngst wiederentdeckte Partitur von Louis Pister (1846–1929) keine Musik dazu. Puccinis Musik folgt dem von Bernhardt in ihrem Buch beschriebenen Gedankengang zunächst nicht rezitativisch kleingliedrig, sondern unterlegt dem Bühnenvorgang zwei einander kontrastierende, rein instrumentale Passagen. Zunächst, während Scarpia den Passierschein ausfüllt und die zum Weinglas greifende Tosca das Messer erblickt, ein schmerzvoll klagendes, von den Streichern vorgetragenes, hier erstmals erklingendes Motiv (Andante sostenuto, cis-Moll, Pianissimo), das sich über 14 Takte fortspinnt. Sein resignativer Ton lässt uns tief in die Seele der Protagonistin schauen. Wenn Scarpia sich mit den Worten „finalmente mia!“ („endlich ist sie mein!“) ihr wieder zuwendet, wird es übergangslos von einem gleichsam herausgeschleuderten Nonenaufstieg abgelöst, der seine sexuelle Gier umstandslos zum Ausdruck bringt. Nach dem Mord und dem Todeskampf Scarpias erhebt sich Toscas Resignationsmotiv zu tragischer Größe und schließt mit ihren schon bei Sardou stehenden, zwar exakt notierten, aber mehr tonlos gesprochenen als wirklich gesungenen Worten: „E avanti a lui tremava tutta Roma!“ („Und vor dem zitterte ganz Rom!“)
Die Librettisten hatten diesen Satz zwar gestrichen, aber Puccini nahm ihn wieder auf. Die letzten Takte der Musik beschwören Scarpia – erst mit dem kraftlos erinnerten Liebesgier-Motiv. Danach, während Tosca als fromme Christin dem Toten die letzte Ehre erweist, verklingen jene den Gewaltmenschen symbolisierenden absteigenden drei Bass-Akkorde, die eine übermäßige Quarte, den Tritonus, den „Teufel in der Musik“ umspannen – jetzt allerdings nicht mehr im brutalen Fortissimo wie am Beginn der Oper, sondern in fahlem, ausgezehrtem dreifachen Pianissimo nach Moll gewendet, während aus der Ferne bereits die Militärtrommeln die Hinrichtung Cavaradossis ankündigen. Auch hier transzendiert der scheinbare Realismus zu höchster Artifizialität.
Die Gestalten der Tosca, so schreibt 1922, also noch zu Lebzeiten des Komponisten, der Berliner Musikkritiker Adolf Weißmann in seiner Puccini-Monographie, „sind bestenfalls Rollen, keine Menschen, sie sind nur Masken“ – Selbstdarsteller eines Künstlerdramas, wie man ergänzen darf. „Vissi d’arte, vissi d’amore“, „ich lebte für die Kunst, ich lebte für die Liebe“ singt Tosca in ihrer Arie im zweiten Akt, in der sie vergeblich an Scarpias Mitleid appelliert. Auch dies Bekenntnis ist Ausdruck der Illusion, die sie beherrscht. Bühne und Leben, Schein und Sein vermischen sich für sie bis zur Ununterscheidbarkeit, und zwar weit radikaler als bei vergleichbaren aus dem Theatermilieu stammenden Figuren wie den Titelpartien von Amilcare Ponchiellis La Gioconda (1876) und Marion Delorme (1885), Ruggero Leoncavallos Zazà (1897) oder Francesco Cileas Adriana Lecouvreur (1902).
Vom ersten Augenblick an, wenn sie den in der Kirche malenden Cavaradossi – auch er ein Künstler! – besucht, um ihm mitzuteilen, dass sie ihn abends nach der Vorstellung am Bühneneingang erwarte, ist Tosca ganz Diva, ganz Star.
In ihren zwischen Liebe und Eifersucht haltlos schwankenden Affekten „macht“ sie nicht nur „Theater“, sie spielt vielmehr die Rolle einer Primadonna und setzt ihr „Arsenal an eingeübten Opernposen und falschen Gesten“ (Attila Csampai) in einer ihr durchaus bewussten Selbsttheatralisierung auch ein. Und Mario Cavaradossi, der „signor tenore“, wie Puccini und Ricordi ihn zu titulieren pflegten, spielt mit. Um sie in dieser für ihn schwierigen Situation schnell wieder loszuwerden – der unterbrochene Dialog mit dem versteckten Angelotti brennt ihm auf den Nägeln –, simuliert auch er Gefühle und spielt ihr seine Liebe gleichsam vor. Die Szene zwischen den beiden im ersten Akt wird auf diese Weise geradezu zu einem Liebesduett in Anführungszeichen, einem Spiel mit der Liebe. Bezeichnend für die Weltfremdheit der beiden, die nur um der Kunst willen leben, ist ein Detail aus ihrem Duett im dritten Akt. Im Augenblick der höchsten Dramatik und Spannung, unmittelbar vor der Scheinhinrichtung, denkt Cavaradossi an nichts anderes als an Poesie und deklamiert „mit zartester Bewegung“ (so die Regiebemerkung) den Beginn eines Sonetts, dessen kunstvolle Form er mit zwei regelgerechten Strophen – vierzeiligen Versen – beginnt, auf die ihm Tosca ebenso formvollendet mit zwei dreizeiligen Versen antwortet: eine artistische Glanzleistung, zu der Giuseppe Giacosa wohl durch Fentons Sonett aus Arrigo Boitos Libretto zu Giuseppe Verdis Falstaff inspiriert wurde. Ganz bei sich selbst ist er nur ein einziges Mal, angesichts seiner bevorstehenden Hinrichtung zu Beginn des dritten Aktes, also den Tod vor Augen – in der von den weltschmerzlichen Tönen einer Klarinette angestimmten Liebesklage („E lucevan le stelle“), der in ihrer Erfindung wie Wirkung überwältigendsten Melodie der gesamten Oper. Tosca dagegen greift in „Vissi d’arte“, wie es zu ihrer Selbsttheatralisierung passt, zu musikalischen Gesten und Phrasen, die wir bereits kennen.
Gegenüber diesen beiden weltflüchtigen Träumern scheint Scarpia das Realitätsprinzip zu verkörpern und ist doch gleichermaßen eine Theaterfigur – der störende Dritte, der in der Dreiecksdramaturgie des italienischen melodramma die Liebe zwischen Sopran und Tenor stört. Wie alle Verführer in der Oper seit Mozarts Don Giovanni ist er ein Libertin und Wüstling. Wo der sprichwörtliche Frauenheld auf Charme, List und allenfalls Verstellung vertraut, setzt Scarpia allerdings Gewalt ein. Er ist eine von Puccini in seiner musikalischen Gestaltung psychologisch meisterhaft erfasste Figur, als Politiker wie Liebhaber Sadist. Lust und Hass sind in seiner perversen Fantasie untrennbar eins. Er braucht den Hass, denn „er will von seinem Liebesobjekt verabscheut werden“ (Attila Csampai). Als Figur beherrscht er die Bühne, beherrscht mit seinem Leitmotiv, den gleich zu Beginn im martialischen Fortissimo herausgehämmerten Akkorden, aber auch die Musik. Insgesamt 27 Mal, wie ein findiger Musikologe nachgezählt hat, greift Puccini zu diesem psychologisch sprechenden Erinnerungsmotiv – zuletzt noch nach seinem Tod in der Einleitung zum dritten Akt.
Scarpia ist gleichsam der Regisseur des Geschehens. Im ersten Akt lockt er Tosca auf die Fährte der Eifersucht und inszeniert im abschließenden Te Deum die teuflische Trinität aus politischer Unterdrückung, religiöser Repression und sexueller Gier, der sie in die Falle geht. Dabei ist ihm, er spricht es selber aus, das politische Ziel „das weniger kostbare“, die Religion nur ein Vorwand („Tosca, du lässt mich Gott vergessen“), um die Frau – nicht die Künstlerin! – zu besitzen. Im „unerträglichen Theater“ (Adolf Weißmann) des zweiten Opernaktes übertrifft Scarpia die professionelle Bühnendarstellerin im Schauspielern, ja übertrumpft sie geradezu in der abgefeimten Inszenierung der vorgeblich simulierten Exekution Cavaradossis – eine Hinrichtung zum Schein, die er einzig für Tosca in Szene setzt, die ihm auch hier in die Falle geht.
Bei Sardou ist der Vorgang zweigeteilt. Zunächst sehen wir den gefangenen Cavaradossi in der Kapelle der Engelsburg, wohin ihm Tosca die Nachricht seiner Befreiung und ihrer gemeinsamen Flucht bringt. Dann wird er abgeführt, die Exekution geschieht hinter der Bühne. Das Schlussbild zeigt die Terrasse der Engelsburg, wo Tosca nach dem Abzug des Erschießungskommandos schockhaft gewahr wird, dass Cavaradossi wirklich tot ist. Sie selbst teilt Spoletta die Ermordung Scarpias mit und stürzt sich über die Brüstung in den Abgrund.
Puccinis Librettisten ziehen beide Bilder zusammen und geben dem Schlussakt damit eine stringentere, aber zugleich auch theatralischere Gestalt und Bedeutung. Im Zentrum steht hier das Duett zwischen Tosca und Cavaradossi sowie die Erschießung, zu deren Augenzeugin Tosca wird – nach dem Te Deum im ersten und der Ermordung Scarpias im zweiten Akt der dritte, zu einem gleichermaßen finsteren wie wirkungsvollen coup de théâtre gesteigerte Höhepunkt der Oper.
Schein und Sein, Theater und Realität fallen in eins. Das Theater wird zur Wirklichkeit und bleibt doch Spiel. „Simulation“, Schein ist schon in Scarpias Wortwahl einer „uccisione simulata“ das Stichwort. Tosca will und kann, was Scarpia angeordnet und Spoletta in seiner wahren Absicht richtig verstanden hat und so auch ausführen lässt, nur als „una commedia“, wie sie sagt, sehen. An Scarpias Worten hegt sie keinen Zweifel. Die Erschießung ist für sie nichts anderes als inszeniertes Theater. „Con scenica scienza“, mit ihrer „Bühnenerfahrung“ versucht sie Cavaradossi zu instruieren, richtig zu fallen – „come la Tosca in teatro“, „wie die Tosca auf der Bühne“. Als die Salve fällt, wirft sie ihm mit bewunderndem Ausruf eine Kusshand zu: „Ecco un’artista!“, „Das ist ein Künstler!“ Ihre Illusion ist tragische Ironie und wird binnen weniger Sekunden zur unumstößlichen, bitteren Wahrheit.
Auf wie tönernem Boden die beiden schon in ihrem langen, der Exekution vorausgehenden Duett stehen, hat Puccini komponiert. Seine von Giulio Ricordi vehement kritisierte „fragmentarische Form“ war beabsichtigt und ist der extremen Situation geschuldet, die, wie Puccini seinem Verleger in einem ausführlichen Brief begründet, kein einheitliches und ruhiges Liebesduett dulden würde. Puccinis Vertonung drückt mit fast brutalem Nachdruck sogar seine Skepsis gegenüber dem hymnenartigen Schluss der abschließenden Verse mit ihrer triumphalen Hoffnung aus. Toscas und Cavaradossis Stimmen vereinen sich im enthusiastischen Unisono, während das Orchester zu ihrer Freiheitsgewissheit schweigt: „Der Hymnus hängt gleichsam in der Luft, er entbehrt jeglicher Grundlage, er ist Illusion“ (Hans-Joachim Wagner). Die scheinbare Scheinhinrichtung ist die letzte Illusion, der sie, das Leben verfehlend, verfällt – in den Worten des Musiktheaterwissenschaftlers Emanuele Senici: „Tosca stirbt, ohne die Welt verstanden zu haben, in der sie sich bewegt – ja, sie stirbt, weil sie unfähig war, sie zu verstehen“.
Theatrale Artifizialität und szenischer Realismus widersprechen sich nicht. Im Gegenteil, auch in Puccinis Tosca bedingen sie einander, verwischen sich und werden eins – wie es Verdis vielzitierter Ausspruch der „erfundenen Wahrheit“, der „erfundenen Wirklichkeit“ von Kunst andeutet (beides schwingt in dem Wort „il vero“ mit).
Das Theatrale ist, auf seine Weise, sehr wohl real. Das bezeugt aufs überraschendste der Regisseur Scarpia.
Als Tosca angesichts der brutalen Folterung Cavaradossis vom Schmerz überwältigt wird, kommentiert er „hingerissen“: „Auf der Bühne war Tosca nie tragischer!“ Erst auf dem Theater, erst im Spielen wird das „wirkliche“ Leben gelebt.
Uwe Schweikert studierte Germanistik, Musikwissenschaft und Geschichte in Göttingen und München und wurde 1969 mit einer Arbeit über Jean Pauls Spätwerk promoviert. Nach langjähriger Tätigkeit als Verlagslektor ist er freiberuflich als Autor und Kritiker tätig. Er hat u. a. das Gesamtwerk von Hans Henny Jahnn herausgegeben und zahlreiche Bücher über die Oper veröffentlicht, darunter „Das Wahre erfinden“ – Verdis Musiktheater (Königshausen & Neumann) und die Essaysammlung Erfahrungsraum Oper. Porträts und Perspektiven (Metzler/Bärenreiter). Gemeinsam mit Anselm Gerhard ist er Herausgeber des Verdi-Handbuchs (2., vollständig überarbeitete Auflage 2013), außerdem ist er Mitherausgeber des Schubert-Liedlexikons (Bärenreiter). Seit 1991 ist er Jurymitglied im Preis der deutschen Schallplattenkritik. Jüngst erschien von ihm das Buch Bald sind wir aber Gesang. Essays zu Oper, Musik und Literatur (Metzler).