Kompromisslos politisch
Ein Gespräch über Tosca mit dem Regisseur Kornél Mundruczó
Ein Gespräch über Tosca mit dem Regisseur Kornél Mundruczó
MK Malte Krasting
KM Kornél Mundruczó
MK Welche Rolle spielt Giacomo Puccinis Tosca in Ihrer Wahrnehmung?
KM Es gibt zwei Sorten von Opernbesuchern: diejenigen, die dieses Stück mögen, und diejenigen, die es ablehnen. Ich gehöre zur ersten Kategorie. Tosca begleitet mich seit meiner Kindheit, ich habe die Melodien früh ins Ohr bekommen, das Werk war für mich ein wichtiger Zugang zur Kunstform der Oper. Für manche ist Tosca vielleicht ein Endpunkt, der den Weg zum Verständnis neuerer Musik verstellt. Für mich ist das Gegenteil der Fall: Tosca sperrt die Türen weit auf. Die Oper bietet einen unmittelbaren Zugang, musikalisch ebenso wie theatralisch – ein durchgedrehtes Psychodrama auf höchster emotionaler Stufe. Ob Puccini dabei übers Ziel hinausgeschossen ist, einer sentimentalen Romantik nachgegeben hat, ist zweitrangig; man muss schon auf einem hohen Ross sitzen, um nicht von diesem Stück berührt zu werden. Puccini geht bis zum Äußersten, balanciert immer ganz nah an der Absturzkante. Er arbeitet – wie Richard Wagner, mit dessen Lohengrin wir uns hier vor zwei Jahren befasst haben – in seiner Musik sehr manipulativ. Es ist schwer, dem auszuweichen. Wagner- und Puccini-Fans gleichen Süchtigen: als sei diese Musik eine Droge, von der sie abhängig sind. Das hat vielleicht weniger mit den Handlungen und Inszenierungen zu tun, sondern seinen Grund in der Musik an sich. Beider Werke sind auch in mancher Hinsicht fragwürdig. Puccinis Sujets sind ziemlich unverblümt, Wagners Leben und Schaffen tragen manch zweifelhafte Züge. Doch beide haben fraglos Werke von unbeschreiblicher Schönheit hinterlassen.
MK Wie Lohengrin verbindet Tosca historische Ereignisse mit erfundenen Handlungen. Was ist der dramatische Kern der Oper?
KM Die Oper basiert auf dem Schauspiel La Tosca von Victorien Sardou, das aus der französischen Dramentradition hervorging. Puccini benutzt es, um seine eigenen Vorstellungen von Musikdrama umzusetzen, und reichert es mit seinen eigenen dramatischen Akzenten an, in denen sich seine Auffassung eines zeitgemäßen und zukunftsträchtigen Theaters niederschlägt. Sardous Stück ist genial, und ich bedaure, dass es nicht häufiger gegeben wird. Puccinis Oper hat dem Schauspiel das Wasser abgegraben. Das ist fast schade, denn La Tosca ist eine phänomenale Melange zwischen einem politischen Statement und einer Komödie, eine seltene Mischung, und – in ihrer Verbindung von Leichtigkeit und Düsternis, die in der Literatur anderer Sprachen oft streng voneinander geschieden auftreten – eines der besten Beispiele, wozu die französische Dramatik fähig ist. Bei Sardou kann man viel über den historischen Hintergrund der Geschichte erfahren, der im Libretto nur angedeutet wird. In seinem Text wird die Härte erkennbar, mit der die drei Sphären der Handlung aufeinanderprallen: die unterdrückerische Macht einer Minderheit, die dagegen aufbegehrende Opposition und dazwischen Tosca, die für die Machthaber singt und deren Gegner liebt. Man muss gar nicht nur in die Vergangenheit blicken, auch zu unserer Zeit finden sich unzählige Beispiele ähnlicher Verhältnisse. In Europa und weltweit stehen wir vor der Frage, wie wir mit der Kunstfreiheit umgehen wollen. In dieser Hinsicht scheint mir die Bedeutung von Tosca noch kaum erkannt, sowohl als Schauspiel wie als Oper.
MK Inwieweit spielt Ihre persönliche Erfahrung als ungarischer Künstler da hinein?
KM Die politische Dimension des Dramas ruft in mir viele Erinnerungen wach. Die Freiheit und Unabhängigkeit der Kunst in Ungarn ist zu einer Illusion geworden, und alle, die dort auf diesem Gebiet tätig sind, müssen sich dazu positionieren. Meine Antwort darauf ist, dass ich – glücklicherweise – viel im Ausland arbeiten kann, und wenn ich etwas in Ungarn mache, dann sorge ich dafür, dass wir ohne ungarische Fördermittel auskommen. Seit etwa fünf Jahren haben wir für unsere Projekte keinerlei staatliche Gelder mehr erhalten. Wir beantragen auch gar keine Förderung mehr, denn selbst durch den Versuch droht man schon sein eigenes Denken zu vergiften: Wenn man Erfolg haben will, muss man den dahinterstehenden Mechanismus berücksichtigen. Auf dem Papier mag alles freiheitlich und EU-konform aussehen, aber die Entscheidungen werden von Personen getroffen, die nach anderen Maßstäben urteilen. Natürlich gibt es viele Länder, in denen die Lage noch ganz anders ist, wie etwa in Russland, wo der Staat noch viel mehr in die Kunst eingreift.
MK Auf welche Weise wollen Sie den Konflikt der Oper erzählen?
KM Wir haben nach einer Konstellation gesucht, zu der auch heute das Publikum eine direkte Verbindung spüren könnte, um damit die genannte problematische Beziehung auszudrücken. Wir fanden einen großen Provokateur, der zugleich Philosoph, Dichter und Filmemacher war, der ein schwieriges Verhältnis zu seiner eigenen Zeit und seinen Zeitgenossen hatte, zur Gesellschaft um ihn herum wie zu den politischen Autoritäten, und der zufälligerweise auch noch Italiener war: Pier Paolo Pasolini. Er ist unsere Inspiration für Cavaradossi – eine Figur, der sich zu nähern gar nicht so einfach ist. Indem Puccini und seine Librettisten Sardous Text für die Oper so radikal verknappt haben, bleibt weitgehend im Dunkeln, woher er stammt, was ihn bewegt, an welchen Aktionen er beteiligt ist, worin seine künstlerische Größe liegt und warum er solch eine magische Ausstrahlung auf andere hat. Konkret zum Beispiel: Woher kennt er Angelotti? Auf diese Fragen wollte ich Antworten finden.
Scarpia hingegen ist eine vergleichsweise unkomplizierte Erscheinung, Typen wie ihn gibt es heute auch – Menschen der Sphäre der Macht, in gewisser Weise Bürokraten höherer Ebene, die ihren Einfluss zur Erfüllung ihrer eigenen dunklen Gelüste einsetzen. Solche Funktionäre fallen einem schnell ein. Man kennt auch viele Toscas: Künstler, die vom Staat gefeiert und vom Staat bezahlt werden, die unglücklich dabei sind und daran vielleicht sogar zugrunde gehen. Unzählige solcher Biografien hat das 20. Jahrhundert hervorgebracht, besonders in der Zeit der Diktaturen, einschließlich des Kommunismus, wie ich ihn als Kind noch erlebt habe. Allerdings entsteht unweigerlich in diktatorisch regierten Ländern eine avantgardistische Kunstszene, die revolutionär denkt; unter dem Druck der Macht agieren die Künstler nur umso mutiger, provokanter, manchmal geradezu selbstmörderisch – denn das ist dann die Aufgabe der Kunst. Diesen Impuls wollte ich Cavaradossi mitgeben und klarmachen, dass Toscas Herz und Toscas Existenz darin verwoben sind.
MK Beide – Tosca und Cavaradossi – stellen ihre Kunst in den Dienst der staatlichen und kirchlichen Macht.
KM Sie sind zwar Menschen von kritischem Geist, leben aber von Geld, das sie vom Staat bekommen. Wenn aber der Staat glaubt, er könne, da er zahlt, auch kontrollieren, was damit gemacht wird, erliegt er einem Irrtum. Zum ersten gehört das Geld nicht dem Staat, sondern dem Volk, es kommt von den Steuerzahlern, und zum zweiten braucht das Volk eine Kunst, die kritisch ist. Diesen Widerspruch wollen wir in unserer Interpretation nutzbar machen. Filmemachen ist ganz sicher eine sehr teure Kunstform, gar nicht zu vergleichen mit Gedichteschreiben oder selbst Malen. Pasolini erhielt öffentliche Fördergelder; der italienische Staat hat seine Filme mitfinanziert. Und was macht er mit diesem Geld? Er dreht Mamma Roma, er dreht das Matthäus-Evangelium, Medea, Teorema – eine große Provokation für die Kirche –, und er dreht Salò, auf Deutsch unter dem Titel Die 120 Tage von Sodom erschienen, eine der düstersten Visionen in der Nachfolge des Marquis de Sade. De Sade hat auf eine fast philosophische Art die wahre Natur der Macht beschrieben. Das schien mir ein guter Ausgangspunkt, um Züge dieses tiefreligiösen, christlich-puren und zugleich visionär linken Filmemachers mit denen des republikanischen Malers Cavaradossi zu verbinden.
MK „Katholisch-marxistisch“ hat man Pasolini genannt …
KM Genau! Und seine Filme provozieren noch immer, auch wenn die Kirche inzwischen an Einfluss verloren hat. Aber die Armen, Zurückgelassenen, Erniedrigten, für die sich einst die Idee des Christentums formiert hat, die gibt es weiterhin. Pasolinis Anliegen ist daher unverändert aktuell.
Dazu kommt, wie eine Fügung des Schicksals, Pasolinis völlig unvorhersehbare Liebe zu Maria Callas. Sie kamen aus zwei komplett verschiedenen Welten und fanden einander gegen jede Wahrscheinlichkeit – genau wie Cavaradossi und Tosca. Callas und Pasolini lernen sich kennen, verbringen viel Zeit miteinander, arbeiten zusammen, sie spielt die Medea in seinem Film, sie werden fast zu einem Paar. Das Leben der Callas ist, wie das Toscas, von einer großen Traurigkeit, von tragischer Einsamkeit geprägt. Dafür fand die Sängerin in dem Regisseur einen Tröster. Er fing sie für eine Weile in seiner aktiven, übersprudelnden, umtriebigen Lebensweise auf und hatte doch selbst mit vielen Dämonen zu kämpfen, bis hin zu seinem schockierenden Ende. Ich glaube beinahe, dass die Callas von Puccinis Oper inspiriert war und meinte, in Pasolini endlich ihren Cavaradossi zu finden. Er sollte sie befreien von den Scarpias ihrer Welt, die sie bezahlten und benutzten und sich nur mit ihr schmückten. Wer weiß! Ihr Leben hat so viele verblüffende Ähnlichkeiten mit der Opernfigur. Diese Parallele wollen wir entdecken und ihren Platz im politischen Liebesdreieck zwischen Scarpia, Cavaradossi und Tosca skizzieren. Wobei das natürlich nur ein Ausgangspunkt ist, die Aufführung soll kein Biopic sein. Aber die italienische Analogie fühlte sich stimmig an, und die 1970er Jahre sind eine treffende Periode: Das Italien jener Zeit war sehr konservativ, die Ehescheidung blieb bis 1970 verboten und wurde auch dann nur gegen den Willen des Vatikans erlaubt. Die politische Atmosphäre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ähnelte der im späten 19. Jahrhundert. Damals – also zur Zeit der Entstehung der Oper – gab es anarchistische Gruppierungen, die möglicherweise sogar die Uraufführung von Tosca durch eine Bombendrohung vereiteln wollten. Später wandelten sich die Erben der Partisanen, die gegen Mussolini gekämpft hatten, zu den Brigate Rosse, die von 1970 an die italienische Gesellschaft in den Griff nahmen. Es wird spekuliert, ob Pasolini Verbindungen zu den Roten Brigaden hatte, sein Tod ist jedenfalls noch immer ungeklärt.
MK Die Aufführung beginnt damit, dass eine Szene aus Salò auf der Bühne gedreht wird. Inwieweit hat der Film die Inszenierung beeinflusst?
KM Salò, Pasolinis letzter Film aus dem Jahr 1975, provoziert auch heute noch und ist immer noch schwer anzuschauen, obwohl er schon fünfzig Jahre alt ist. Es ist seine sehr persönliche Sicht auf die düstere Zukunft – einer der stärksten Filme über den Zweiten Weltkrieg und den Faschismus beziehungsweise den Nationalsozialismus. Kein anderer Film kommt dem Problem so nahe und erklärt so suggestiv, wie von Grund auf sadistisch diese Ideologie war. Die historisch reale Republik von Salò wird zu einem imaginären Erfolg der Nazis. Statt das Klischee des dummen Nazis als personifizierten Teufels zu bedienen, zeigt Pasolini in einem perversen Machtspiel, wie die Repräsentanten des Faschismus (mit ihren vier Vertretern aus Aristokratie, Justiz, Politik und Klerus) die Freiheit von anderen besetzen und vereinnahmen. Der Rückgriff auf die Schriften des Marquis de Sade war provokativ, aber schlüssig. Pasolini schildert Nazis nicht als schreiende SA-Männer, sondern als verfeinerte, perverse Ästheten. Man könnte meinen, dass Puccini bei der Konzeption des Te Deums am Ende des ersten Aktes an eine solche Gestalt gedacht hat.
MK Cavaradossi alias Pasolini dreht einen Film über eine Figur wie Scarpia, der dann als reale Person die Dreharbeiten unterbricht …
KM Sehr wahr. Die Figur des Filmregisseurs ist auch in anderer Hinsicht ein wichtiges Moment. Sie kann helfen, Toscas übersteigerte Eifersucht zu begründen. In der Oper wirkt dieser Charakterzug, den sie von der ersten Sekunde an zeigt, fast pathologisch und ist schwer nachzuvollziehen – kaum denkbar, dass Cavaradossi ihr schon einmal zu einem solchen Verdacht Anlass gegeben hätte. Sardou liefert uns einige Spuren, Toscas Kindheit und Jugend im Nonnenkloster beispielsweise, aber das wird im Libretto gar nicht erwähnt. So haben wir nach einer anderen Motivation für ihre Eifersucht gesucht: in den diametralen Sphären, in denen sich die Kunst beider entfaltet, in ihrer gegensätzlichen Sicht auf Gesellschaft und Politik. Er lebt in einer anderen Welt als sie, und das macht ihr Angst. Auch die Zirkel der Callas haben sich nicht mit denen von Pasolini überschnitten. Er will seine ideologischen Überzeugungen durch Nacktheit, Körperlichkeit und Gewalt ausdrücken. Toscas Eifersucht wird nicht so sehr von anderen Frauen ausgelöst, sondern von ihrer unterbewussten Angst vor seiner Art der Kunst. Sie erkennt, dass er als Künstler freier handelt als sie, und das ist ihr unheimlich. Dass er mit seiner künstlerischen Avantgarde mit jungen Menschen in großer Intimität zusammenarbeitet, folgt zwar nicht einem privaten Verlangen oder Begehren; dennoch kann wohl jeder nachempfinden, dass man als liebendes Gegenüber von solch einem Umgang irritiert sein könnte. Das macht Tosca vielleicht emotional verständlicher. Attraktiv für die Bühne waren natürlich auch die Umstände eines Drehtags am Filmset, bei dem es unablässig chaotisch zugeht, mit unzähligen beteiligten Menschen und Kulissen und Requisiten. Dabei kommen auch die kirchlichen Assoziationen wie das Triptychon oder die Madonna vor: Pasolini war, wie die Callas, gläubig, und er hat in seinen Filmen ständig auf christliche Motive angespielt.
MK Von Anfang an schleichen sich auch Abstraktionen in das scheinbar realistische Setting.
KM Im Rahmen der Salò-Villa, deren Saal sich eng an den Filmschauplatz und das echte Gebäude orientiert, sollte die Sphäre Scarpias, insbesondere die Folterkammer, zeitloser sein und damit näher an unsere Gegenwart rücken. In das Filmset dringt damit ein störendes, unbehagliches Moment. Nachdem Scarpias Zimmer ins Spiel gekommen ist, erscheint bald ein hypermoderner Glasraum für die Folterszene, in der die Gewalt eine Art Kunst hervorruft. Während die Macht versucht, die Freiheit der Menschen einzuschränken, erschafft sie auf dieser Leinwand eine neue Freiheit. Gewalt ist die Kunst der Macht.
MK Wie viel davon steckt schon in Puccinis Musik?
KM Puccini hat seinen nachfolgenden Interpreten eine harte Nuss zu knacken gegeben. Es ist immer ein Balanceakt, nah an der Vorlage zu bleiben und sich von ihr zu lösen. Puccinis Musik macht es besonders knifflig, von den szenischen Anweisungen des Textes abzuweichen, weil alles so genau auch in die Partitur eingeflossen ist. Die vielen kleinen Motive wie der Fächer und das Messer, das kann man nicht verändern – eine modernistische Adaption würde ins Leere laufen. Das verleitet oft zu einem konservativen Zugang, der leicht in klischeebehafteter Optik mündet. Ich schätze aber diese faktischen Gegebenheiten und habe große Freude daran, mit ihnen zu spielen, mit der spezifischen Kleidung, den Hilfsmitteln, dem Verhalten, all dem, was Text und Musik uns so deutlich erzählen und was wir nur etwas näher an unsere Lebenswirklichkeit rücken. Ich hoffe, dass auf diese Weise deutlich wird, wovon ich überzeugt bin: Tosca ist vielleicht Puccinis modernste Oper, weil sie so kompromisslos politisch ist.