Mieczysław Weinberg – Drittens: Musikatmosphären
über die eindeutig-uneindeutige kompositorische Beschaffenheit der Oper
Text: Verena Mogl
über die eindeutig-uneindeutige kompositorische Beschaffenheit der Oper
Text: Verena Mogl
Mieczysław Weinberg selbst lag die Oper sehr am Herzen. Und als er 1994 – über 25 Jahre nach Fertigstellung des bis dahin noch immer unaufgeführten Werks – nach seiner wichtigsten Komposition gefragt wurde, antwortete er: „Das wichtigste Werk? – Das ist Passažirka. Alle übrigen sind auch Passažirka.“
Wie wichtig Weinberg die Oper war, zeigt sich auch darin, dass er in der Komposition bestimmte Aspekte des Librettos musikalisch besonders hervorhob. Offensichtlich vor dem Hintergrund, das Werk auf jeden Fall durch die Zensur zu bringen. So schob er in der Musik die Illustrierung der Brutalität des Naziregimes, des Leids und der Integrität der Inhaftierten sowie die Dynamik von verschiedenen Machtkonstellationen in den Vordergrund. Damit reihte sich Die Passagierin in die sowjetische Tradition der „Gedenkkompositionen“ für die „Opfer des Großen Vaterländischen Krieges“ ein, was bei den offiziellen Instanzen für Wohlwollen sorgen sollte.
Doch gerade in der Anlage und Propagierung der Komposition als „Gedenkkomposition“ wird die Bruchlinie offenbar, an der die Interpretationen der Oper auseinanderklaffen und eine Deutung des Werkes im Sinne der Ideologie problematisch wird. Zwar war es das „Nicht-Vergessen“, das in einem Paul Éluard zugeschriebenen Epigramm auf der Partitur der Oper ausdrücklich betont wurde: „Wenn das Echo ihrer Stimmen verhallt, gehen wir zugrunde“. Doch von offizieller Seite sollte nur eine verzerrte und lückenhafte Version des „Großen Vaterländischen Krieges“ erinnert werden. Keinesfalls zu thematisieren war, dass Stalin vor dem Überraschungsangriff der Wehrmacht auf die Sowjetunion im Juni 1941 mit Hitler paktiert und damit die Rahmenbedingungen für den Überfall der Nationalsozialisten auf Polen geschaffen hatte. Auch die Vergehen, derer sich ebenso das sowjetische Regime schuldig gemacht hatte, sollten durchaus vergessen werden. Weinbergs Musik indes erfüllt diesen Anspruch nur bedingt und verarbeitet subtil die Frage von Schuld, Täterschaft und Gewalt auf sehr unterschiedlichen Ebenen. Darüber hinaus blieb eine zentrale Thematik erhalten, mit der Weinberg sich maßgeblich in den Jahren vor Opus 97 beschäftigt hatte und die sich bereits vor Passažirka als problematisch erwiesen hatte – nämlich die Auseinandersetzung mit dem Verlust der Heimat, dem Verlust geliebter Menschen sowie die schwierige Situation in der „neuen“ Heimat.
Insgesamt wird die kompositorische Struktur von Opus 97 maßgeblich von einer Reihe musikalischer Motive bestimmt, die dem Libretto eine weitere Deutungsebene hinzufügen. Diese leitmotivartigen Figuren sind nicht nur mit Personen verbunden, sondern auch mit Zuständen, Situationen und bestimmten psychologischen Momenten. Es entsteht ein dichtes Netz von musikalischen Querverweisen, das die gesamte Oper überspannt.
So weist Weinberg etwa den Partien von Lisa und Walter stark schematischen Charakter zu. Sie werden bestimmt von starren musikalischen Formeln, die (teilweise in leicht abgewandelter Form) immer wiederkehren. Dabei wirkt Walters Gesang eher deklamierend und durchaus hölzern, während Lisas Gesang über weite Strecken deutlich rezitativischen Charakter besitzt. Bezeichnend ist auch der Umstand, dass weder Lisa noch Walter eine größere Arie oder ein inniges Duett zugestanden wird. Diejenigen Abschnitte, in denen von einem Duett der Figuren gesprochen werden kann (im 1. und 7. Bild), hinterlassen einen eher schalen Eindruck. Die Klangwelt der Täter:innen wird dadurch zu einer fast plakativen musikalischen Interpretation der „Banalität des Bösen“.
Dieser trockenen, formelhaften Tonsprache Lisas und Walters stehen die Partien von Marta und Tadeusz gegenüber, die weitaus lyrischer und individueller gestaltet sind. Zudem treten einzelne Motive in Verbindung mit den übrigen Gefangenen auf, wodurch die Musik die Gefangenen als Kollektiv zusammenfasst. Gleichzeitig werden die Figuren der Marta und des Tadeusz mit völlig anderen Klangfarben verbunden als etwa Lisa, Walter oder generell die Sphäre der Täter:innen. Eine weiche, intime Klanglichkeit prägt die Partien von Marta und Tadeusz, und generell räumt ihnen Weinberg – wie auch den übrigen Gefangenen – mehr Raum für lyrische Momente ein.
Darüber hinaus ist auch Opus 97 von musikalischen Zitaten und motivischen Referenzen durchsetzt. Dabei verwendet der Komponist in der Passagierin eine Reihe sehr offenkundiger Selbst- und Fremd-Zitate. So wird neben dem Volkslied Oh, Du lieber Augustin (2. Bild) und Kurt Weills Surabaya Johnny (7. Bild) auch auf Franz Schuberts Marche Militaire op. 51, D733 Nr. 1 (7. Bild) und die Chaconne von Johann Sebastian Bach aus der Partita No. 2 in d-Moll BWV 1004 (8. Bild) verwiesen. Zudem arbeitete Weinberg auch eine Allusion an das berühmte „Schicksalsmotiv“ aus Ludwig van Beethovens 5. Symphonie op. 67 in die Oper ein. Und er verwies auf das Motiv an Stellen im Handlungsverlauf, an denen sich die Gewalt der Aufseher:innen über die Inhaftierten entlädt. Das „Schicksalsmotiv“ wird dadurch gleichsam in ein „Gewaltmotiv“ verwandelt. Im Gegensatz hierzu steht der Einsatz der Chaconne, die im 8. Bild dem „Gewaltmotiv“ nachfolgt.
Die Musik Bachs wird dabei als Sinnbild für den moralischen Widerstand und die Unvereinnahmbarkeit des Geistes hervorgehoben. Eine musikalische Wendung, die im politischen Kontext der Entstehungszeit des Werks durchaus problematisch war.
In diesem Zusammenhang muss auch das Lied der Russin Katja im 6. Bild Erwähnung finden. Katja singt das russische Volkslied Dolinuška-dolina. Es tritt schon allein deshalb aus dem Gesamtzusammenhang der Oper hervor, da es völlig unbegleitet gesungen wird. Die Klänge bleiben leer und klagend, voller Schmerz. Einen Platz für Sentimentalitäten gibt es nicht. Dies wird auch dadurch verstärkt, dass Katja nicht zu Ende singt. Denn nach einigen Versen bricht sie ab und sagt: „Weiter weiß ich nicht. Hab’s vergessen, vergessen...“. So wird zwar ausgerechnet der Russin Katja zugestanden, ein Volkslied auf die Schönheit der Heimat zu singen, wodurch einerseits die Forderung nach nationalem Kolorit gleichsam doppelt erfüllt wird, indem nicht nur ein authentisches Volkslied eingesetzt wird, sondern dieses auch von der Figur der Russin gesungen wird. Doch wird dies kontrastiert von der Art, wie Weinberg das Lied vertont. Es wirkt im Gesamtgefüge der Oper verloren und wie aus der Zeit gefallen. Mehr als heldenhaft-patriotische Vaterlandsgefühle – im Sinne einer „Gedenkkomposition“ – evoziert es eine Atmosphäre der Verlassenheit und Einsamkeit. Katja kann das Lied nicht zu Ende singen, ihr sind die Worte und die Melodie entfallen. Und es wird deutlich, dass sie damit auch das Gefühl für die Heimat, ihre Erinnerung daran verloren hat.
Hier finden Sie Episode 4 - Nicht-Aufführungsgeschichte
Falls Sie auf Begrifflichkeiten gestoßen sind, die Sie gerne noch einmal nachschlagen möchten, haben wir ein Glossar rund um die Themen der Neuproduktion Die Passagierin erstellt.