Mieczysław Weinberg – Erstens: Identität und Politik

über das kompositorische Ausloten der eigenen Identität als Pole und Jude

Text: Verena Mogl

Mieczysław Weinberg wurde am 8. Dezember 1919 in Polens Hauptstadt Warschau geboren. Er starb 77 Jahre später, am 26. Februar 1996, in der russischen Stadt Moskau. Zwischen diesen beiden Stationen, Warschau und Moskau, entfaltete sich das Leben des Komponisten entlang von Brüchen, die das 20. Jahrhundert prägten. Diese Brüche hinterließen tiefe Spuren im Schaffen des Komponisten und formten seine gesamte künstlerische Identität.

Weinberg, ein polnischer Jude in der Sowjetunion, ein Mensch, der in und für die Musik lebte. Und dessen beeindruckendes Œuvre dennoch vom Lauf der Geschichte gleichsam „verschluckt“ wurde. Denn erst seit wenigen Jahren wird es für die Konzertsäle wiederentdeckt. Weit über 150 Werke der unterschiedlichsten Gattungen komponierte Weinberg, Opern und Operetten, Symphonien, Solo-Konzerte, Streichquartette, kammermusikalische und solistische Werke, Liederzyklen, Kantaten und Ballett – aber auch Musik für den Zirkus, das Theater, das Radio sowie eine Unmenge an Filmmusik. Ein tönendes Lebensbild von berückender Schönheit, voller Schmerz, Hoffnung, Freude und Trauer.

Weinbergs Jugend wurde von Musik geprägt. Schon sein Vater Shmuel war als Geiger, Orchesterleiter und Komponist mit jüdischen Theatertruppen umhergezogen, bevor er sich mit seiner Frau im jüdischen Viertel Warschaus niedergelassen hatte. Dort führte die Familie, zu der bald auch die kleine Schwester Ester zählte, ein einfaches und hartes Leben. Mieczysław, der schon früh das Klavierspiel erlernt hatte, verdiente deshalb bereits in jungen Jahren mit dazu. Er spielte auf Hochzeiten und in Kinos, aber vor allem in den vielen Tanzcafés des lebendigen Warschauer Nachtlebens. Sein Talent eröffnete ihm auch den Weg an das Konservatorium, wo er eine Ausbildung zum Pianisten absolvierte. Es entstanden Pläne, eine professionelle Karriere zu verfolgen, doch der Lauf der Geschichte wollte es anders. Im September 1939 überfiel die deutsche Wehrmacht Polen, und Weinberg sah sich zur überstürzten Flucht gezwungen. Wie er von Warschau in die weißrussische Stadt Minsk gelangte, ist bisher ungeklärt. Sicher ist jedoch, dass Weinberg alleine, ohne seine Eltern und seine Schwester, in Minsk ankam. Das genaue Schicksal seiner Familie, die er auf der Flucht verlor, ist bis heute nicht bekannt. Weinberg sah sie niemals wieder. Als gesichert gilt allein, dass sie im Holocaust ihr Leben verloren.

Zu den wenigen Dingen, die Weinberg nach Minsk retten konnte, gehörten einige vielversprechende Kompositionen. Und so bot sich ihm dort die Möglichkeit, ein Kompositionsstudium aufzunehmen. In den erhaltenen Manuskripten, die Weinberg nach seiner Flucht anfertigte, zeigt sich, dass er ab dem Moment, in dem er seine Heimat Polen verlassen musste, die polnische Sprache gleichsam ablegte. Denn fortan zeichnete er alle Kompositionen mit der kyrillischen Version seines Namens und fertigte auch die Titelblätter in russischer Sprache an. Nur einen Tag nach Weinbergs Abschluss am Konservatorium überfielen Adolf Hitlers Truppen die Sowjetunion. Weinberg war erneut zur Flucht gezwungen und gelangte in das knapp 4.000 Kilometer entfernte Taschkent in Usbekistan.

Dort lernte er Natal‘ja Vovsi-Michoels kennen und lieben, die Tochter des berühmten jüdischen Schauspielers und Gründers des Staatlichen Jüdischen Theaters Moskau (abgekürzt ГОСЕТ / GOSET, jiddisch יתכלממה ידוהיה ןורטאיתה ), Solomon M. Michoels, der ab 1942 auch als Vorsitzender des jüdischen Antifaschistischen Komitees fungierte. Mieczysław und Natal‘ja heirateten und bekamen eine Tochter, Viktoria. Ebenfalls in Taschkent vollendete der Komponist seine 1. Symphonie op. 10, die in die Hände von Dmitri D. Schostakowitsch gelangte. Dieser erkannte Weinbergs Talent und unterstützte die Familie bei ihrem Vorhaben, nach Moskau überzusiedeln. In Moskau fand Weinberg schnell Anschluss in der kreativen Szene, zu der eine Reihe der bedeutendsten Musiker:innen der Sowjetunion gehörte.

Mit Schostakowitsch verband ihn bald eine tiefe, nicht nur kollegiale, sondern auch private Freundschaft, die bis zu Schostakowitschs Tod im Sommer 1975 andauern sollte. Viele namhafte Künstler:innen schätzten Mieczysław Weinbergs Kompositionen und brachten sie in den Konzertsälen der Hauptstadt zum Klingen. So hätte nun alles gut werden können. Doch das wurde es nicht. Nach dem Krieg erkaltete das politische Klima in der Sowjetunion und ab 1946 wurde der kulturelle Bereich mit restriktiven Erlassen überzogen. Ausnahmslos alle Kunstsparten sollten erneut auf die Doktrin des so genannten „Sozialistischen Realismus“ eingeschworen werden, die bereits 1932 für alle künstlerischen Disziplinen verbindlich geworden war. Diese Doktrin verpflichtete alle Künstler:innen, in ihrem Schaffen aktiv an der Verwirklichung der sozialistischen Idee – natürlich im Sinne der Partei – mitzuwirken. Gleichzeitig war die Definition dessen, wie „Sozialistischer Realismus“ konkret zu verstehen sei, nur unklar formuliert. Und gerade auf die Musik waren die Vorgaben nur schwer zu übertragen. So konnte die Doktrin problemlos genutzt werden, um Kunstwerke zu verhindern oder auch unbequeme Personen zu maßregeln. Dies war auch bei Weinberg der Fall. Im Folgenden wurde nicht nur seine Musik immer öfter als „formalistisch“ und „modernistisch“ kritisiert, darüber hinaus wurde er selbst zunehmend als Pole und Jude diskriminiert. Auch die Freundschaft zu Schostakowitsch, der als prominente Figur besonders im Kreuzfeuer der kulturpolitischen Angriffe stand, bereitete Schwierigkeiten. Weinberg wurde als „kleiner Schostakowitsch“ verunglimpft – ein Etikett, das ihm lange nach dem Ende der Sowjetzeit anhaften sollte.

Im Januar 1948 wurde Solomon M. Michoels in einem fingierten Autounfall von Josef W. Stalins Schergen ermordet. Daraufhin wurde Weinberg auf Schritt und Tritt überwacht, seine Musik kaum mehr aufgeführt oder veröffentlicht. 1952 schließlich wurde Solomon M. Michoels Cousin, der Arzt Miron S. Vovsi, in der so genannten „Ärzte-Verschwörung“, inhaftiert. Und am 6. Februar 1953 erfolgte die Verhaftung von Weinberg als „jüdischem bourgeoisen Nationalisten“. Schostakowitsch, der auch in schweren Zeiten zu seinem Freund hielt, setzte sich für seine Freilassung ein. Doch ist es wohl vor allem dem Tod des Diktators Stalin im März 1953 zu verdanken, dass Weinberg einige Wochen später, im April 1953 aus der Haft entlassen wurde. Es dauerte Jahre, bis er wieder zu seiner früheren Schaffenskraft zurückfand. Gleichzeitig begann er, sich in seiner Musik mit den Themen des Heimatverlusts, des Krieges und des Holocaust zu beschäftigen und die eigene Identität als Pole und Jude kompositorisch auszuloten. Dies veranlasste ihn auch, zur polnischen Sprache, die er innig liebte, zurückzukehren.

Doch die Werke, die er zu polnischen Textvorlagen komponierte, gelangten – wie auch die Die Passagierin – nur vereinzelt oder mit extremer Verzögerung in die Öffentlichkeit. Und oft nur dann, wenn in der russischen Übersetzung der polnischen Originaltexte wichtige Worte – wie etwa „Pole“, „Jude“, „polnisch“ oder „jüdisch“ – ausgespart wurden. So fand die Auseinandersetzung Weinbergs mit der eigenen Geschichte und Identität im Grunde im Verborgenen statt. Nach dieser Auseinandersetzung gilt es jedoch zu suchen.

Hier finden Sie Episode 2 -  Ursprung und Libretto.

Falls Sie auf Begrifflichkeiten gestoßen sind, die Sie gerne noch einmal nachschlagen möchten, haben wir ein Glossar rund um die Themen der Neuproduktion Die Passagierin erstellt.

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© Yvonne Schmedemann

Verena Mogl

Verena Mogl, 1976 im niederbayerischen Vilsbiburg geboren, studierte an der Universität Hamburg Historische und Systematische Musikwissenschaft sowie Neuere deutsche Literatur. Nach ihrem Abschluss war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem Forschungsprojekt zu der Sängerin und Komponistin Pauline Viardot an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Dort war sie von 2018 bis 2021 auch Projektleiterin und künstlerische Leiterin der „akademie kontemporär“. Seit 2018 lehrt sie im Fachbereich Musikwissenschaft, ihre Forschungsschwerpunkte sind russische und sowjetische Musik sowie der Themenbereich Musik und Symbolismus. 2014 verfasste sie ihre Dissertation zu Mieczysław Weinberg, die unter dem Titel „Juden, die ins Lied sich retten“ – Der Komponist Mieczysław Weinberg (1919–1996) in der Sowjetunion veröffentlicht wurde.

Mieczysław Weinberg – Vier Episoden

über den Komponisten, sein Schaffen und die Oper

Die Passagierin

Oper in zwei Akten (Komposition 1968, konzertante Uraufführung 2006)