Mieczysław Weinberg – Zweitens: Ursprung und Libretto
über die Vorlage(n) von Zofia Posmysz und das, was davon noch zu hören ist
Text: Verena Mogl
über die Vorlage(n) von Zofia Posmysz und das, was davon noch zu hören ist
Text: Verena Mogl
Bevor in der Sowjetunion ein Werk an die Öffentlichkeit gelangen konnte, musste es zuerst verschiedene zensorische Hürden überwinden. Dabei betrafen im Falle einer Oper diese Hürden nicht nur die musikalische Gestaltung des Werkes, sondern – meist bereits vor dem Kompositionsprozess – vor allem das Libretto. Denn Texte wurden generell kritischer und auch argwöhnischer begutachtet als Notenmaterial, dessen Beurteilung schon aufgrund eines fehlenden semantischen Gehalts weitaus schwieriger war. Wurde ein Libretto nicht gebilligt, so machte es schlichtweg keinen Sinn, mit der Komposition überhaupt zu beginnen. Und so bestand der wichtigste Schritt in einem Opernvorhaben zuallererst darin, das Libretto quasi „absegnen“ zu lassen. Blickt man nun auf die Passagierin, so zeigt der Vergleich von Libretto und literarischer Vorlage deutlich, wie der Operntext für die zensorischen Behörden aufbereitet werden sollte. Die Datierung auf dem ältesten Manuskript von Opus 97, einer Klavierpartitur, legt nahe, dass die Passagierin im Zeitraum zwischen Dezember 1967 und Februar oder März 1968 entstand. Doch Weinberg äußerte sich bereits im Januar 1967 in der Fachzeitschrift Sovetskaja Muzyka: „Sicherlich kennen die Leser des Journals die Erzählung der polnischen Autorin Zofia Posmysz Passažirka und auch den berühmten polnischen Film desselben Namens. Dieses eigenartige, zutiefst aufwühlende Werk liegt der Oper zugrunde, an welcher mir im neuen Jahr zu arbeiten bevorsteht.“
Der Komponist betonte damit schon bei Beginn der Arbeit an der Oper, dass die dem Libretto zugrundeliegenden Inhalte von den zensorischen Instanzen bereits gebilligt worden waren. Zu diesen Inhalten gehörten nicht nur die erwähnte Erzählung von Zofia Posmysz und der polnische Film Pasażerka (1963, Regie: Andrzej Munk, Witold Lesiewicz). Darüber hinaus finden sich im Libretto auch Verweise auf das Werk Ja perežila Osvencim (Ich überlebte Auschwitz, Originaltitel: Przeżyłam Oświęcim) der polnisch-jüdischen Autorin Krystyna Żywulska und das Buch Srok davnosti (Verjährungsfrist) von Ilja D. Konstantinowski, einem jüdischen Autor, der aus dem bessarabischen Teil des Russischen Reiches stammte (dem heutigen Rumänien). Auch diese Titel, auf die im Libretto dezidiert hingewiesen wurde, waren der sowjetischen Öffentlichkeit bereits bekannt. Doch Weinberg und sein Librettist Alexander W. Medwedew ergriffen noch andere Maßnahmen, um das Libretto durch die Untiefen der Zensur zu steuern. Denn obwohl sich das Libretto über weite Strecken klar an der Erzählung von Posmysz orientiert, weichen die Inhalte doch in wichtigen Punkten voneinander ab.
So wurde im Libretto das polnische Sujet in den Hintergrund geschoben. Zwar sind Marta und Tadeusz in Analogie zum Buch als Polen ausgewiesen, doch ihre polnische Herkunft spielt keine große Rolle. Dafür ist es mit der Figur der Katja ausgerechnet eine Russin, welche als Angehörige des Widerstandes unbeugsamen Mut in der Auseinandersetzung mit dem Feind zeigt. Das dezidiert jüdische Leid, welches zwar an einer Stelle im Libretto explizit erwähnt wird, tritt angesichts der vielen verschiedenen Gefangenen in den Hintergrund und wird zu einem Detail unter vielen. Und es ist sicher kein Zufall, dass die aus Thessaloniki stammende Figur der Jüdin Hannah nicht unmittelbar einer Opfergruppe aus dem sowjetischen Machtbereich angehört. Ein weiterer Unterschied zeigt sich in der Figur der Lisa: So öffnet sich in der Vorlage von Posmysz die Handlungsebene des Konzentrationslagers stets dadurch, dass Lisa auf dem Schiff ihrem Mann Walter von ihrer Zeit als SS-Aufseherin erzählt oder sie sich – auch unabhängig von Walter – an Episoden aus dem Lager erinnert. Diese Erzählebene ist also fest mit der Person Lisa verbunden.
Im Libretto hingegen wird diese Verbindung aufgehoben. Während in der Erzählung die Erinnerungen an Auschwitz von Lisa selbst wachgerufen werden, finden diese in der Oper ausdrücklich gegen Lisas Willen statt: Sie wird mehr oder weniger „von außen“ dazu gezwungen, sich der Vergangenheit zu stellen. Damit wird ihr das eigenverantwortliche Handeln entzogen und das Ringen mit ihrem eigenen Gewissen – so wie es in der Erzählung beschrieben wird – spielt im Libretto keine Rolle mehr. Dadurch wird die psychologische Gestaltung der Figur der Lisa vereinfacht und sie eindeutiger der Kategorie „Täter:in“ zugeordnet. Im Zusammenhang mit dieser Modifikation der Figur ist auch der Chor zu verstehen, der im Libretto neu hinzugefügt wurde. Der Chor tritt dort als unabhängige moralische Instanz an die Stelle von Lisas Gewissen und fordert sie auf, sich an die wahren Vorgänge zu erinnern.
Während sich die Figur der Lisa auf diese Weise im Libretto gleichsam „geglättet“ zeigt, zeigt sich die Figur des Walter dort deutlich abgründiger. In Posmysz’ Erzählung ist Walter geradezu ein Paradebeispiel deutschen Mitläufertums. Doch wird er einer Gewissensprüfung unterzogen und sieht sich dadurch gezwungen, den eigenen moralischen Standpunkt zu reflektieren.
Im Libretto werden keinerlei Informationen zu Walters Schicksal und Handlungen während des Krieges erwähnt. Allein sein Karrierestreben in der Nachkriegszeit findet Erwähnung. Durch das Aussparen dieser wichtigen Informationen wird die Figur insgesamt undurchsichtiger und fragwürdiger. Denn verschiedene Äußerungen lassen vermuten, dass Walter selbst eine NS-Geschichte hat. Zumal er nach Lisas Geständnis vor allem um seine Karriere fürchtet – und schnell bereit ist, die Vergangenheit beiseite zu wischen.
So zeigt sich einer der wichtigsten Unterschiede zwischen Erzählung und Libretto in der Behandlung eines grundsätzlichen moralischen Aspekts. Die Frage der Schuld und Mitschuld, die im Buch deutlich hervortritt, spielt im Libretto kaum noch eine Rolle. Und eine Gegenüberstellung der Positionen „schuldig als Täter:in“, „schuldig als Mitläufer:in“ findet nicht statt. Stattdessen treten deutlich vereinfachte Figurenkonstrukte und Personenkonstellationen hervor: Die moralisch fragwürdigen Positionen Lisas und Walters werden gegen die moralisch integre Position der Gefangenen gespiegelt. Diese Maßnahme, die eine Gegenüberstellung der Positionen „schuldig“ – „unschuldig“ sehr viel einfacher und klarer macht, näherte das Libretto offiziellen Anforderungen an. Gleichzeitig wurde die schwierige Erzählperspektive – aus Sicht der Täterin – abgemildert. Bestand doch gerade darin die Radikalität der Vorlagen von Posmysz. Denn sie, als Überlebende des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau, schrieb zu großen Teilen nicht aus eigener Sicht, sondern wählte die Perspektive der Täterin. Dabei zeigt ihre Figur der Lisa durchaus menschliche Züge, was die Nachwelt von Auschwitz, also auch uns, so verstört wie irritiert zurücklässt. All das wich in der Oper einer holzschnittartigeren Zuweisung, die dem gesellschaftspolitischen Rahmen der UdSSR geschuldet war: moralisch fragwürdig gegen moralisch integer. Diese Vereinfachung „kritisierte“ Zofia Posmysz zwischen den Zeilen Zeit ihres Lebens. Insgesamt stellen die hier beschriebenen Maßnahmen nur einen Bruchteil derer dar, die der Oper auf ihrem Weg in die Öffentlichkeit helfen sollten. Doch sie erwiesen sich als überflüssig. Das Werk blieb zu Lebzeiten Weinbergs ungehört, trotz allem Bemühen.
Hier finden Sie Episode 3 - Musikatmosphären
Falls Sie auf Begrifflichkeiten gestoßen sind, die Sie gerne noch einmal nachschlagen möchten, haben wir ein Glossar rund um die Themen der Neuproduktion Die Passagierin erstellt.