Höchst aktuell und notwendig!

von Dramaturg Christopher Warmuth

Fotografie von Joselito Verschaeve aus seiner Serie If I Call Stones Blue, It Is Because Blue Is The Precise Word.

Lesedauer: ca. 7 Minuten

Die Themen der Opern Bluthaus und Thomas, komponiert von Georg Friedrich Haas zwischen 2011 und 2016, sind so aktuell, so zwingend notwendig für uns, dass es ein Geschenk ist, dem Komponisten selbst zuzuhören. Ein Gespräch mit Georg Friedrich Haas - einem Menschen, der uns mit diesen Opern wachrüttelt, erschüttert und tröstet.

Bluthaus und Thomas – trete ich Ihnen zu nahe, wenn ich sage, es sind sehr extreme Opern, die Sie 2011, 2013 und 2016 komponiert haben?

Die drei Thematiken der Opern empfinde ich als höchst aktuell und notwendig, vielleicht wirken sie dadurch extrem.

Es wird ja viel gestorben auf der Bühne, aber selten so nah an unserer eigenen Lebensrealität wie es bei diesen drei Werken von Ihnen der Fall ist…

Ja, so ehrlich sollten wir sein, wenn wir häufig den Satz heraufbeschwören, dass Oper uns als Publikum in unserem Menschsein erreicht und uns existentiell ergreifen kann: Es wird sicherlich viel auf der Bühne gestorben. So weit so richtig. Aber: dabei wird der Tod zugleich häufig marginalisiert, mindestens idealisiert. Ich denke da an Werke wie Don Giovanni von Wolfgang Amadeus Mozart oder Tristan und Isolde von Richard Wagner. Normalerweise sterben Menschen auf der Opernbühne in einem Duell oder an Liebeskummer. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich wegen dieser Umständen sterbe, ist relativ gering. Hingegen ist es doch viel wahrscheinlicher, dass ich in ein Koma verfalle oder, dass ich nach einer Erkrankung meine letzten Atemzüge in einem Krankenhaus machen werde.

So würden Sie die Handlung von Thomas beschreiben?

Zunächst einmal geht es bei Thomas um Liebe. Genauer, Liebe im Angesicht der Grenzsituation, dass ein geliebter Mensch nicht mehr ist. Matthias stirbt am Anfang in dieser Oper. Und Thomas hält Wache am Totenbett und existiert in dieser Grenzsituation über das ganze Stück hinweg.

Es geht also um Tod, aber auch um Verbundenheit?

Ja. Genau dieser Umstand ist vielleicht das Schönste an dieser Oper, dass es von der tiefen emotionalen Verbundenheit zweier Menschen erzählt.

Was sind Ihre persönlichen Erfahrungen mit dem Sterben?

Komponisten wie Schubert, Mozart, Beethoven haben viele Menschen sterben sehen. Ich gestehe, dass das einzige mir nahestehende Lebewesen, das ich habe sterben sehen, mein Hund war. Ich werde den Moment nicht vergessen, als er aufgehört hat zu atmen. Da gab es nur eine minimale Änderung der Bewegung des Brustkorbes. Dann war Stillstand.

Um diese minimale Änderung geht es im Libretto gleich zu Beginn von Thomas

Ja, und die einzige Möglichkeit, diese Änderung in Musik zu übersetzen war, dass der Atem schon immer da ist, bereits bevor die Musik beginnt. Das Publikum tritt in den Aufführungsraum ein und das Einzige, das auf der Bühne geschieht, ist, dass Mathias atmet. 

Erst nachdem Matthias aufhört zu atmen, hört man ja das erste Mal Musik…

Ja, erst nach dem Stillstand werden zum ersten Mal Tonhöhen gespielt – in Form von Harfengilssandis.

Das Instrumentarium von Thomas ist sehr speziell und eher ungewöhnlich für eine Oper. Warum haben Sie sich dafür entschieden?

Als ich das Libretto gelesen habe, war mir klar, dass es ein ganz spezielles Instrumentarium braucht. Meine Assoziation mit der klinischen Situation war, dass hier fast ausschließlich Zupfinstrumente spielen sollen. Und zwar so, dass die Zupfinstrumente mikrotonal komplex miteinander verknüpft werden sollen. Die Zither wird (meinem Wissensstand nach) das erste Mal in der Operngeschichte nicht als folkloristisches Instrument eingesetzt, sondern sie ist als Instrument ins Orchester integriert. In der Mitte der Oper gibt es eine Szene, in der Thomas die Nacht bei seinem Geliebten verbringt. Und da habe ich mich für ein Zitat entschieden aus Orpheus und Euridike von Christoph Willibald Gluck, die berühmte Melodie aus der Arie Ach, ich habe sie verloren.

Auch durch den so speziellen Zitherklang verändert sich die Melodie stark…

Das liegt auch an den mikrotonalen Verschiebungen, es wird halb-, viertel- und sechsteltönig verschoben und auch die Tempi verändern sich. Aber ja, auch der Zitherklang führt dazu, dass man gar nicht an Gluck denkt. Ich dachte eigentlich, dass man das sofort erkennt. Aber nach der Uraufführung wurde ich gefragt, welches Volkslied ich da zitiert habe. Dabei ist diese Stelle sehr zentral, weil es mir sehr wichtig war, eines der repräsentativsten Liebespaare der Operngeschichte in Thomas Einzug halten zu lassen.

 

Nach meiner Übersiedlung nach Basel, erfuhr ich, dass dieses Haus der letzte Aufenthaltsort von 32 Menschen war, bevor sie ins Konzentrationslager deportiert und ermordet wurden.

- Gerg Friedrich Haas

 

Wie wichtig ist es, dass Sie selbst als Schöpfer existentiell betroffen sind, um solche Werke zu komponieren?

Für mich ist Komponieren immer eine persönlich existentielle Ausdrucksform. Ich weiß, dass mir der Tod bevorsteht. Das trifft mich existentiell.

Warum verdrängen wir heutzutage den Tod kollektiv?

Der Tod ist ein Tabu. So, wie wir heute mit dem Tod umgehen, das ist geschichtlich ja relativ neu. Tod war lange ein ganz selbstverständlicher Teil des Lebens, er war in der Mitte von Gesellschaften und es wurde viel darüber gesprochen, es wurde viel Kunst darüber gemacht. Ich versuche, den Tod nicht zu tabuisieren. Im Mittelalter beispielsweise war es relativ einfach – grauenvoll, aber einfach: Es herrschte ein allgemeines Einverständnis darüber, dass man entweder in den Himmel oder in die Hölle kommt. Man richtete das gesamte Leben in diesem Bewusstsein ein. Heute ist das anders, weil diese Glaubenssätze nicht mehr so vorhanden sind. An diese Stelle tritt Ungewissheit und Angst. Vielleicht sorgt diese Angst für die Tatsache, erst gar nicht darüber sprechen zu wollen oder Tod zu verdrängen.

 

Die Zusammenarbeit zwischen Ihnen und dem Librettisten Klaus Händl hat zu einer Symbiose zwischen Text und Musik geführt. Wie war der Beginn Ihrer Zusammenarbeit?

Klaus erzählte mir während einer Fahrt in ein Gasthaus, um was es in Bluthaus gehen soll. Ich war so begeistert, dass ich auf dem Parkplatz ein anderes Auto angefahren habe ohne es überhaupt zu merken, so elektrisiert war ich von der Idee zu Bluthaus. Erst als ich im Gasthaus darauf angesprochen wurde, wurde mir bewusst, dass ich quasi Fahrerflucht begangen habe. Mich hat die Geschichte von Bluthaus also wirklich sofort getroffen.

Weil es so viel in Ihnen aufgewühlt hat?

Es gibt zwei voneinander vollkommen unabhängige „Keulen“, mit denen mich dieses Thema geschlagen hat. Die erste dieser „Keulen“ war: Ich habe selbst in einer Art „Bluthaus“ gelebt. Nach langer Suche hatte ich eine wunderschöne kleine Altbauwohnung im zweiten Bezirk in Wien gefunden. Kurz nach meinem Einzug hörte ich eine Radiosendung über „arisierte“ Wohnungen. Nach der Enteignung der jüdischen Besitzer:innen wurden ihre großen repräsentativen Wohnungen in zwei kleinere unterteilt. Offensichtlich war das auch mit meiner Wohnung so geschehen. Der Eigentümer war nicht an diesem Verbrechen beteiligt: Er hatte das Haus erst 1969 gekauft und hatte den Zweiten Weltkrieg in Argentinien überlebt. Später, nach meiner Übersiedlung nach Basel, erfuhr ich, dass dieses Haus der letzte Aufenthaltsort von 32 Menschen war, bevor sie ins Konzentrationslager deportiert und ermordet wurden.

Und das mündet in der Oper Bluthaus?

Es ist eine realistische Geschichte: Nadja versucht ihr Haus zu verkaufen. Doch die Geschichte stockt immer wieder. Sie ist eine Erbin und blickt über ihr Elternhaus tief in die niederösterreichische Vergangenheit. Und das ist quasi meine Geschichte.

Möchten Sie davon erzählen?

Es geht bei Bluthaus um Missbrauch. Nadja wird von ihrem Vater sexuell missbraucht und die Mutter toleriert es. Und hier ist die zweite der beiden „Keulen“, mit denen mich der Text von Händl Klaus schlug: Meine Eltern wollten mich zum Nazi erziehen. Ich muss zu meinem Schmerz gestehen, dass dies die ersten Jahrzehnte meines Lebens durchaus Erfolg hatte. Das empfinde ich als emotionalen Kindesmissbrauch. Missbrauch und das Wiederaufbranden von Vergangenheit sind die eng miteinander verwobenen Themen von Bluthaus. Nadja – das bin ich selbst.

Wie würden Sie selbst ihre Musik in Bluthaus beschreiben?

In der Oper ist ja lange Zeit gar nicht ganz klar, was eigentlich passiert. Man spürt, dass irgendwas schrecklich ist, aber man weiß nicht genau was. Das Stück reift zu einem frei schwebenden, atonalen Raum. Und jedesmal, wann immer die Erinnerung an die Eltern aufkommt, erklingt ein Oberton-Akkord. Diese Oberton-Akkorde werden zum Symbol für die Erinnerung an die Eltern. Sie sind so unglaublich betörend und konsonant und sie geben eine Illusion von Geborgenheit. Dadurch, dass der Schrecken „schön“ erscheint, wirkt er nur noch schrecklicher. Musikalisch ist interessant, dass dieser Oberton-Akkord einem Dominant-Septakkord ähnelt, also einem Dur-Akkord mit einer Septe, was einen dominantischen Effekt hat. Und Dominante passt ja auch als Wort.

Wenn die Nachbarn in das Haus eintreten, das Nadja verkaufen will, dann ändert sich schlagartig alles…

Obertonakkorde haben eine Assoziation an Dur-Akkorde bewirkt. Ab diesem Moment wechselt die Musik in Moll. Diese liebenswürdigen, bösartigen Nachbarn, die das vorher unbewusst Schreckliche allen Anwesenden umissverständlich bewusstwerden lassen, machen ja klar, dass hier ein Mord geschehen ist. Und mit diesen Nachbarn kann man plötzlich eine ganz triviale Moll-Melodie hören.

Diese Melodie hat Ohrwurmpotential ohne aber, dass man sie je nachsingen könnte.

Allein ihr Tonumfang von acht Oktaven sprengt sogar die Möglichkeiten eines Klaviers. Diese Melodie geht unendlich von der Höhe in die Tiefe, wechselt durch verschiedene Register. Jedes Instrument spielt genau in dem Tonraum, der ihm zur Verfügung steht, und dann setzt ein anderes Instrument mit einem anderen Tonumfang ein. Im Grunde entsteht so der Shepard-Effekt der elektronischen Musik. Aber: Hier spüren wir die Gewalt einer scheinbar traditionell wohlklingenden Melodie – die bis zum Erbrechen ausgereizt wird.

Wenn Sie heute auf das Stück blicken, was ja 2011 entstanden ist: Wie hat sich Ihre Sicht auf das Werk geändert?

Ich habe mich in den vergangenen Jahren sehr verändert. Und ich habe gelernt, wie wichtig es ist, über Dinge bedingungslos zu sprechen, für die ich mich schäme. Zur Entstehungszeit von Bluthaus konnte ich über all das nicht reden, das war mir nur in Musik möglich. Heute spreche ich darüber in Worten.

Können Sie sich jemals von diesem emotionalen Missbrauch befreien?

Ich habe Dinge über meinen Körper und über meine Seele geschüttet bekommen, die für immer an mir haften bleiben werden. So geht es nicht nur mir oder Nadja. So geht es vielen Menschen. Es gibt kein Zurück ins Nichtgeschehen. Es ist ein Bestandteil des Lebens. Der letzte Dialog in Bluthaus: „die schwere Tür - - - - schließen Sie ab.“