DIE NASE (NOS)

Eine Nase macht sich selbstständig. Sie hinterlässt im Gesicht ihres Besitzers eine peinliche Leerstelle, maßt sich eine gesellschaftliche Position an und stolziert im Staatsratskostüm über den Newskji-Prospekt in Sankt Petersburg. Ihr ramponierter Eigentümer Kowaljow verliert sich in einer aberwitzigen Suche nach seinem Statussymbol.

Wem gebührt hier die Krone: Kovaljov oder seiner Nase? Ein absurder Albtraum um Verlustängste und Paranoia, um entmenschlichte Physiognomien und das Herausfallen aus der Norm. Und was, wenn die Nase als stolzes Signum charakterlicher Größe allenthalben nur angeklebt wäre?

Der 21-jährige Schostakowitsch übt mit seinem Opernerstling eine ätzende Kritik am post-zaristischen, von Weltkrieg, blutigstem Bürgerkrieg und zunehmendem Staatsterror gebeutelten Russland. Das Bild einer brutalen Gesellschaft voller körperlich und seelisch entstellter Duckmäuser und Gewalttäter wird musikalisch eingefangen im grotesken Wechsel verschiedenster Stilebenen: Zirkusmusik und russisch-orthodoxe Kirchenmusik, Galopp, Polka, Märsche und Fugen werden in filmischer Drastik gegeneinander geschnitten. Hinter dem beißenden Witz lauern Angst und Gewalt.

Vladimir Jurowski, Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper, und Kirill Serebrennikov, russischer Theater-, Opern-, Ballett-, Film- und Fernsehregisseur, arbeiteten im Rahmen der Neuinszenierung von Die Nase erstmals zusammen. Kiril Serebrennikov zeichnete sowohl für die Regie, als auch die Bühne, Video und Kostüme verantwortlich und wurde hierbei unterstützt von mehreren engen Mitarbeiter:innen. Kirill Serebrennikov wurde in Rostow am Don geboren und schloss hier 1992 sein Physikstudium ab. Während des Studiums nahm er autodidaktisch seine Arbeit als Theater-, Opern-, Film-, und Fernsehregisseur sowie Kostümbildner auf. Salome an der Oper Stuttgart sowie Il barbiere di Siviglia an der Komischen Oper Berlin waren erste viel beachtete Arbeiten, die Serebrennikov einem Publikum außerhalb Russlands präsentieren konnte. Im März 2020 debütierte er mit seinem ersten Schauspiel in Deutschland, wo er am Deutschen Theater Berlin seine Bearbeitung von Giovanni Boccaccios Decamerone inszenierte. 2021 feierte seine Neuproduktion von Parsifal an der Wiener Staatsoper Premiere. Für sein Filmschaffen wurde Serebrennikov beim Filmfestival in Cannes 2016 ausgezeichnet. Weitere Filme wurden bei den Filmfestivals in Rom, Locarno und Venedig gezeigt und für den Goldenen Löwen sowie für den Grand Prix of Kinotavr in Sochi nominiert. 2012 bis 2021 war Serebrennikov Künstlerischer Leiter des Gogol Center in Moskau.

Petersburg im Winter: eine Stadt, in der ab und an Leichenteile gefunden werden.
Die Menschen hingegen kultivieren fleischige Körper und lassen sich zusätzliche
Nasen wachsen: Je mehr Nasen man hat, desto vertrauenswürdiger ist man.

1. Winter. Die eingefrorene Newa. Eislöcher und Fischer. Ein Tatort.

2. Ein Polizeirevier. Major Kovaljov schreibt Protokolle. Der Mitarbeiter des Majors, Ivan Jakovlevič, geht seiner üblichen Arbeit nach: Er nimmt den Gefangenen ihre Nasen. Doch plötzlich findet er eine Nase im eigenen Mittagessen. Seine Kollegin, Praskovja Osipovna, ist außer sich.

3. Ivan Jakovlevič will die gefundene Nase loswerden, aber die ganze Stadt ist von der Polizei abgesperrt. Die Begegnung mit dem Reviervorsteher der Polizei versetzt ihn in Panik.

4. Zwischenspiel des Schlagzeugs. Petersburg ist mit Schnee bedeckt.

5. Als Major Kovaljov eines Morgens aus unruhigem Traum erwacht, findet er sich an seinem Arbeitsplatz zu einem kleinen, dünnen Mann verwandelt, ganz ohne seine Nasen und ohne seine gewohnte Leibesfülle. Ohne all das scheint er aber gar kein richtiger Mensch mehr zu sein. Sein Untergebener Ivan erschrickt vor ihm. Kovaljov weiß nicht, was er tun soll.

8. Nur der Polizeichef kann Kovaljov helfen, aber er ist zu seinem Ärgernis gerade nicht da.

9. Die Kollegen von Kovaljov sind mit Ermittlungsarbeiten an einem weiteren Tatort beschäftigt. Der Leiter der Ermittlung wird von einem Kriminalreporter interviewt. Kovaljov bittet um Hilfe, wird aber für verrückt gehalten.

10. In Kovaljovs Vorstellung verwandelt sich Petersburg in eine entsetzliche Qual. Wie ein Feind fällt die Stadt über ihn her.

11. Überall wird gefeiert, bald ist Neujahr. Die Kollegen von Kovaljov – Ivan, Podtočina und ihre Tochter, alle Polizisten – amüsieren sich. Kovaljov kann sich nicht amüsieren. Er versucht, sich in einer Bierstube abzulenken und schläft ein.

12. Der Reviervorsteher der Polizei führt Übungseinheiten im Rahmen des Polizeitrainings durch. Einige wenige protestierende Demonstranten, die Plakate mit dem Wort „Nein“ halten, werden verhaftet. Eine von Allen geliebte Künstlerin, bekannt als die Alte Dame, erzählt von ihrem baldigen Tod. Die Anzahl der Menschen wird größer. Eine Gegenkundgebung formiert sich und skandiert „Ja!“.

6. Der Kampf der Stadt gegen den Schnee. Der Schnee gewinnt.

7. Bestürzt und erschöpft kehrt Kovaljov auf sein Polizeirevier zurück. Er sieht im Fernsehen seine Nase in Gestalt eines hochrangigen Vorgesetzten im feierlichen Weihnachtsgottesdienst in der Kathedrale. Die Nase aus dem Fernsehen erscheint vor Kovaljov.

13. Der Reviervorsteher der Polizei berichtet Kovaljov, dass alle seine Nasen und seine Körpermasse gefunden worden sind. Kovaljov freut sich, doch anscheinend zu früh: Es gelingt ihm nicht, seine ehemalige Form zurückzuerlangen. Der Polizist Ivan ruft einen Arzt. Doch der Arzt kann Kovaljov nicht helfen. Verzweifelt beschließt Kovaljov sich umzubringen. Vor dem Tod erscheint ihm der großnasige Dämon Jarischkin. Der Dämon schlägt Kovaljov vor, reinen Tisch mit Mutter Podtočina und deren Tochter zu machen – da doch die beiden nach Kovaljovs Annahme schuldig an seiner Transformation seien … Der Dämon lacht Kovaljov aus.

14. Zwischenspiel. Kovaljov sieht die Welt in Trümmern. Alles ist vorbei.

15. Zurück auf dem Polizeirevier hat Major Kovaljov plötzlich sein ursprüngliches Aussehen wieder. War alles etwa nur ein Traum?

16. Kovaljov kommt betrunken von der Neujahrsfeier. Er spricht mit Passanten und flirtet mit Podtočina und deren Tochter. Er ist glücklich, dass alles wieder ist wie zuvor.

Text: Regisseur Kirill Serebrennikov